17.01.2022

Nicht locker lassen

Sorry we missed you
Im Arbeitskäfig neuer Dienstleistung: Sorry We Missed You
(Foto: NFP/Filmwelt)

Die Film-mit-Diskussionsreihe »FilmWeltWirtschaft« im Filmmuseum München widmet sich zu Jahresbeginn den drängenden Problemen unserer Zeit

Von Dunja Bialas

»Sorry, we missed you« – so persön­lich heißt es in England, wenn einen der Paketbote nicht ange­troffen hat. Der Lockdown des Einzel­han­dels hat in den Corona-Jahren die Internet-Bestel­lungen explo­dieren lassen. So meldet der Handels­ver­band Deutsch­land im »Online-Monitor 2021« einen »sprung­haften Zuwachs« von 13,6 Milli­arden Euro (23 Prozent) gegenüber dem Vorjahr und einen Umsatz des Online­han­dels in Deutsch­land von 73 Milli­arden Euro. Davon fallen allein 53 Prozent auf Amazon.

Jeder kennt die unschein­baren weißen Vans des Versand-Riesen, mit dem eine neue Dienst­bo­ten­ge­nera­tion unab­hängig vom sozialen Status einem die Ware direkt ins Haus liefert – oder eben beim Nachbarn abgibt. Ken Loach, das soziale Gewissen der Filme­ma­cher, hat schon vor dem Boom die Zeichen der Zeit erkannt und mit Sorry We Missed You einen seiner besten Film der jüngeren Zeit hingelegt. Auf Film­ma­te­rial gedreht, verströmt seine Erzählung über den Paket­boten Ricky aus jedem einzelnen Bildkorn echte Verzweif­lung und aufrich­tige Anklage. Ricky verschuldet sich, um mit einem Van sein eigenes Produk­ti­ons­mittel in der Hand zu halten, das er wiederum als Kapi­tal­ein­lage in die abhängige Beschäf­ti­gung bei einem Versand­lo­gis­tiker einbringt. Zustel­lungs­stress, unfreund­liche Paket­emp­fänger, sprich­wört­liche Hunde und zuhause eine sorgen­volle Familie, weil das Geld hinten und vorne nicht langt, setzen ihm zu, bis es zur Kata­strophe kommt.

Ken Loachs Sorry We Missed You ist ein wichtiger Film, der jeden unmit­telbar etwas angeht. Erstens bestellen wir so viel wie noch nie, siehe oben, zweitens steht es im Vermögen eines jeden Einzelnen, netter zum Liefe­ranten zu sein. Drittens kommen viel­leicht auch hier bald die Notwen­dig­keit für höhere Löhne und die Einsicht, das eigene Verhalten wieder umzu­stellen und die Geschäfte der Innen­s­tädte zu retten. Entspre­chende Berichte über Essens­lie­fe­ranten haben schon Wirkung gezeigt.

Ken Loachs spätes Meis­ter­werk ist im Film­mu­seum München im Rahmen von »FilmWel­tWirt­schaft« zu sehen (Samstag, 22.01.22, 19 Uhr), eine Reihe, die Filme mit fach­kun­digen Diskus­sionen verbindet. Letztes Jahr fiel die Reihe wegen der Corona-Schließungen der Kinos aus, dieses Jahr kann sie wieder statt­finden, wenn auch einge­schränkt. »Nicht locker lassen«, hat die stell­ver­tre­tende Film­mu­se­ums­lei­terin Claudia Engel­hardt so auch sehr treffend diesmal ihre Reihe genannt – ein Spruch, der auch auf die Kultur insgesamt zutrifft.

Im Blick stehen fünf Filme, die auf unter­schied­liche Weise demons­trieren, wie sanfter Wider­stand gegen die Verhält­nisse geht. Ruth Bader Ginsburg, rang­höchste Richterin der USA, verstarb im September 2020 im Alter von 87 Jahren, kurz vor Donald Trumps Amtsende, was ihm ermö­g­lichte, die poli­ti­schen Mehr­heits­ver­hält­nisse in der Exekutive zugunsten der Repu­bli­kaner zu verändern (die Waffen­be­für­wor­terin und Abtrei­bungs­geg­nerin Amy Coney Barrett folgte im Oktober 2020). Welcher Verlust das Ableben von Ruth Bader Ginsburg oder RBG, wie ihre Anhänger sie kurz nannten, bedeutet, zeigt sich im faszi­nie­renden Portrait der Regis­seu­rinnen Julie Cohen und Betsie West RBG – Ein Leben für die Gerech­tig­keit (2018). Ginsburg war eine der ersten Jura-Studen­tinnen der Geschichte und lange Zeit einzige Jura-Profes­sorin. Aus ihrer spezi­fi­schen Erfah­rungs­welt als Frau kam sie zu einer huma­nis­tisch-femi­nis­ti­schen Gesetz­ge­bung, die konse­quen­ter­weise auch den Männern in tradi­tio­nell femininen Bereichen mehr Rechte zugestand. Im Grunde eine Post-Gender-Gesetz­ge­bung, die den Weg zu wahrer Gleich­be­rech­ti­gung ebnet, da sie auf dem Grundsatz der Gerech­tig­keit fußt. Ein Weg, der nun in einer konser­vativ-reak­ti­onären Sackgasse gelandet ist. (Donnerstag 20.01.22, 19 Uhr, Diskus­sion mit der Ameri­ka­nistin Charlotte Lerg)

Die junge Genera­tion ergreift in Dear Future Children nicht nur das Wort, sondern auch die Kamera. Der 1999 geborene Franz Böhm hat Aktivist*innen in Hongkong, Uganda und Chile in ihrem Protest gegen die verhee­renden Folgen des Klima­wan­dels, die Erosion der Demo­kratie und den Abbau des Sozi­al­sys­tems gefilmt. Der Film entstand durch Crowd­fun­ding und ist selbst ein Ausdruck für die Demo­kra­ti­sie­rung der Produk­ti­ons­mittel – weg von den hier­ar­chi­schen Abhän­gig­keiten, hin zu einem selbst­be­stimmten und selbst­be­wussten Filmen, was eine neue Zukunft des Kinos sein könnte. (Sonntag, 23.01.22, 17 Uhr)

Darío Aguirres Im Land meiner Kinder (2018) wartet mit einer Über­ra­schung auf. Zu sehen ist der damalige Erste Bürger­meister von Hamburg im Gespräch mit soge­nannten Neubür­gern: Migranten bzw. Auslän­dern wurde in einer beispiel­losen Aktion die deutsche Staats­an­gehö­rig­keit angeboten, eine Initia­tive von: Olaf Scholz. Zum Abschluss seiner Einbür­ge­rung sieht man den ehemals ecua­do­ria­ni­schen Aguirre im Gespräch mit dem zukünf­tigen Bundes­kanzler Scholz, ein Schul­ter­schluss der Geschichte, der einer Reihe von Menschen das Ende ihres unsi­cheren Status gebracht hat. (Samstag, 22.01.22, 17 Uhr, Diskus­sion mit Migra­ti­ons­for­scherin und Kammer­spiel-Autorin Tunay Önder)

Schließ­lich bringt Oeconomia (2020) der Doku­men­tar­fil­merin Carmen Losmann (Work Hard – Play Hard, 2011) versierte Ökonomen um den Sach­ver­stand. Sie möchte genau wissen, wie das mit dem Gewinn und dem Wirt­schafts­wachstum eigent­lich geht – oder wird hier am Ende doch nur im sprich­wört­li­chen Sinne Geld gedruckt, um Kredite zu finan­zieren, die durch Mehr­aus­gaben Wachstum bringen sollen? Der Zirkel­schluss unseres Kapi­ta­lismus wird augen­fällig, einleuch­tend aber ist das Regelwerk der Ökonomie deshalb noch lange nicht. (Freitag, 21.01.22, 19 Uhr, Diskus­sion mit Ökonom Martin Schmidt-Bredow)

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FilmWel­tWirt­schaft
20.–23. Januar 2022
Film­mu­seum München
St.-Jakobs-Platz 1
80331 München