Kino als soziale Praxis |
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Blessuren eines Kontinents: Los Fantasmas | ||
(Foto: Lafita) |
Die Macher und Macherinnen von »Lafita«, den lateinamerikanischen Filmtagen in München, sind überzeugte Anhänger des Kinos als sozialer Praxis. Sie setzen auf das Kino als »Gemeinschaftserlebnis« und auf den konkreten Raum Kino als »Begegnungsort«. Dieses Bekenntnis zur Präsenz machte letztes Jahr unter Corona-Bedingungen den Verzicht auf die lateinamerikanischen Filmtage erforderlich, da man nicht ins Netz ausweichen wollte, und schränkt auch dieses Jahr die Veranstaltung zumindest empfindlich ein. Das »Kino als öffentlicher und sozialer Raum«, so in der programmatischen Ankündigung, will behauptet werden, wo und solange es nur geht. Im gebannten Blick auf die Münchner Inzidenzzahlen hoffen »Lafita« und wir Zuschauer, dass es dieses Jahr wie geplant möglich sein wird, im Kino zu sein, den Kinobesuch als soziale Praxis unter Einhaltung der verlangten und gebotenen Vorsichtsmaßnahmen ausüben zu können.
Die diesjährige Filmauswahl kombiniert formal avancierte Arbeiten und packendes klassisches Erzählkino, engagierte und bildgewaltige Dokumentarfilme sowie zwei Blöcke von Kurzfilmen, die verschiedene inhaltliche und experimentelle Formate aufbieten. Die ganze Vielfalt, für die lateinamerikanisches Kino seit jeher steht, versammelt sich in diesem Programm.
Der Opener Así habló el cambista (Also sprach der Geldwechsler) von Federico Veiroj ist ein Beispiel jenes hintergründigen, wenn nicht gar abgründigen Erzählkinos, das sorgfältige Inszenierung mit einem satten Plot verbindet. Der in Montevideo ansässige Geldwechsler und -verleiher Humberto Brause laviert mit seinen Geschäften zwischen den Militärregimes Uruguays, Argentiniens und Brasiliens der 50er bis zum Ende der 70er Jahre auf einem schmalen Grat zwischen Korruption, Kollaboration und Katastrophe. Die Geschichte lässt sich als subtiles Lehrstück über die Verstrickungen lesen, die eine bürgerliche Erfolgsstory in gefährliche Nähe zu skrupellosen Machenschaften verschiedenster Couleur bringt. Wenn ein Individuum das Geschäftsschicksal entschlossen in die eigenen Händen nimmt, sich aber fortwährend arrangieren muss, dann kann es durchaus sein, dass es sich und seinen Nächsten als Mensch abhanden kommt. In geschickter Balance weiß die Inszenierung des uruguayischen Regie-Meisters Federico Veiroj den Geldwechsler und Liebhaber klassischer Musik Brause in ein Gespinst fein-ironischer Selbstentlarvung zu packen: der brillante Schauspieler Daniel Hendler tut sein Übriges, um diese Figur zwischen empathischer Wärme und kalter Distanz schillern zu lassen.
[FESTIVALERÖFFNUNG: Di 30.11., Einlass: 19:00 Uhr, Beginn: 19:30, Instituto Cervantes | Sa 04.12., 20:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]
Auf ähnliche Weise führt Benjamín Naishtat in Rojo den Anwalt Claudio in einer argentinischen Provinzstadt als auf seine Privilegien bedachten ehrenwerten Bürger vor, der sich immer mehr in Vertuschungen und Vorteilsnahmen verstrickt. Die Handlung spielt 1975 in der Zeit kurz vor der Übernahme der Macht durch die Militärs. Wie sehr sich die Spannungen angestaut haben unter der zivilisierten Oberfläche und hinter den trügerisch harmonischen Verhältnissen des auf den ökonomischen Aufstieg und den Status fixierten Bürgertums, zeigt eine grandiose Skandalszene zu Beginn des Films, in der beim Streit um einen Platz im Restaurant Mechanismen der Provokation und der Demütigung die Klassenantagonismen zwischen Bourgeoisie und Proletariat offenbaren.
Die beklemmende Atmosphäre des Verschweigens und Wegschauens, die die stillschweigende Akzeptanz der Militärs vorwegnimmt, verdichtet sich erst richtig, als in den Ort von auswärts aus dem Nachbarland, aus Santiago de Chile, der berühmte Detektiv Sinclair eingeflogen kommt, um im für die örtliche Polizei unlösbaren Fall eines Verschwundenen zu ermitteln. Es entspinnt sich ein spannendes Duell zwischen zwei der aktuell größten lateinamerikanischen Darsteller: der Detektiv wird von Alfredo Castro (bekannt unter anderem aus diversen Filmen von Pablo Larraín) verkörpert, der Anwalt Claudio von Darío Grandinetti (den man aus Sprich mit ihr von Almodóvar kennt). Dass der sich immer mehr kompromittierende Anwalt mit solch einem Sympathieträger wie Grandinetti besetzt ist, zwingt die Zuschauer auf subtil-schmerzhafte Weise in die Position einer komplizenhaften Zeugenschaft.
[Mi 01. 12., 22:00 Uhr, Werkstattkino | So 05.12., 20:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]
Einen ganz anderen Erzählton schlägt ein weiterer Regisseur aus dem La-Plata-Raum an: der Uruguayer Alex Piperno verschränkt in Chico Ventana también quisiera tener un submarino (Auch Chico Ventana, der Fenster-Junge, würde gern ein U-Boot haben) auf ganz natürlich wirkende Weise drei weit auseinander liegende geographische Schauplätze. Chico Ventana, der auf einem Kreuzfahrtschiff vor Patagonien als Putzkraft arbeitet, vermag in seinem Arbeiteroverall über irgendwelche Schiffstreppen und einen Lagerraum unvermittelt in die Abstellkammer einer Wohnung in Montevideo zu gelangen. Die dort lebende, alleinstehende Geschäftsinhaberin akzeptiert ihn dann nach dem ersten Erschrecken allmählich als Lebensgefährten. Die geheimen Kanäle, die wurmlochartig die Orte verbinden, stehen überdies in Kommunikation mit einem Schuppen im philippinischen Urwald. Die Bauern dort vernehmen darin unheimliche Geräusche und stellen Nachtwachen auf, die ihre Felder und Häuser vor den in Träumen sich ankündigenden Ungeheuern im Schuppen schützen sollen. In faszinierenden Bildern evoziert Piperno in diesem Film eine globalisierte Welt jenseits der offiziellen Kommunikationswege. Die sinnlich betörenden, an Apichatpong Weerasethakul erinnernden Szenerien des philippinischen Urwalds treffen auf beklemmende Interieurs der Einsamkeit einer Wohnung in der La-Plata-Metropole Montevideo, während das Kreuzfahrtschiff kafkaeske Räume bereithält. Das U-Boot aus dem Titel verweist dann auf den entropischen Kollaps, der am Ende alle Räume in sich zusammenstürzen lässt.
Pipernos wundersam schöner Film steht damit dem Werk Eduardo Williams' nahe, der vor einigen Jahren in El auge del humano (Human surge) auf ähnlich provokative Weise zwischen Argentinien, Angola und den Philippinen switchte.
[Fr 03.12., 20:00 Uhr, Werkstattkino | So 05.12., 18:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]
Mit Los Fantasmas von Sebastián Lojo präsentiert Lafita dann einen Film aus dem mittelamerikanischen Guatemala, einem Land, aus dem eher selten Filme zu vermelden sind. Die Figuren wie Koki und Carlos treiben hier durch die nächtliche Halbwelt in Guatemala-Stadt, die Atmosphäre lässiger Teilnahmslosigkeit (wie man sie aus frühen Wong-Kar-wai-Filmen kennt) täuscht einen über die existentielle Dringlichkeit hinweg, die die Lebenswege sich kreuzen lässt. Koki, in einer Mischung aus Stadtführer und Callboy, lotst seine Kunden in das Hotel, in dem Carlos Nachtportier ist. Der wiederum hat einen weiteren Job als Wrestler, und die rituelle Gewalt in seinen Performances setzt sich in der Realität auf beängstigende Weise fort. Koki, verstrickt in halbkriminelle Machenschaften, wird brutal zusammengeschlagen. Alles aber widerfährt den Figuren in einer Art Trance, für die vor allem die Kamera mit ihren irritierend schönen Bildern sorgt. So bleibt die Handlung hier immer hinter dem Driften der Kamera und der Figuren eine Nebensache, was aber das Zuschauen zu einer rauschhaften Erfahrung werden lässt.
[Do 02.12., 20:00 Uhr, Werkstattkino]
Neben diesen vier Spielfilmen bietet das kleine Festival noch drei dokumentarische Werke. Midnight Family von Luke Lorentzen begleitet die von der Familie Ochoa betriebene Privat-Ambulanz bei der nächtlichen Jagd nach Unfallopfern und liefert eine schier unfassbare und immer wieder das Groteske streifende Darstellung der Zustände, die entstehen, wenn die Rettungsambulanzen untereinander sich einem quasi-darwinistischen »struggle for survival« ausgesetzt sehen.
[Fr 03.12., 22:00 Uhr, Werkstattkino]
Niebla de la paz von Joel Stängle führt in den kolumbianischen Urwald, der über viele Jahrzehnte als Rückzugsraum für Guerilla-Bewegungen zum Schauplatz zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen wurde. Über das Porträt zweier Guerilleros versucht der Film behutsam die Möglichkeiten auszuloten, wie mit neuen Perspektivierungen ein Ausweg aus den festgefahrenen Bahnen der Berichterstattung und der Geschichtsschreibung gefunden werden kann.
[Mi 01.12., 18:00 Uhr, Werkstattkino | So 05.12., 16:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor (zu Gast: Joel Stängle)]
Suspensión von Simón Uribe schließlich führt ebenfalls in die kolumbianischen Urwälder, allerdings um die beeindruckenden Überreste eines gigantischen Verkehrs-Bauprojekts durch die Wälder zu zeigen: ein Stück Autobahnbrücke, isoliert, inmitten der wuchernden Pflanzen- und Tierwelt, ein Denkmal der Natur und der Zivilisation zugleich.
[Do 02.12., 18:00 Uhr, Werkstattkino | Sa 04.12., 16:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]
In den beiden Kurzfilmblöcken, die das Programm abrunden, kann man weitere Entdeckungen in der Vielfalt erleben in den fünf kurzen und mittellangen Arbeiten des Blocks »La espera« mit intimeren privateren Themen oder den drei mittellangen Arbeiten des Blocks »Habitat« mit dem Portrait urbaner und natürlicher Lebenswelten.
[La Espera: Mi 01.12., 20:00 Uhr, Werkstattkino | Fr 03.12. | 18:00 Uhr | Werkstattkino (zu Gast: Denize Galiao)]
[Habitat: Do 02.12., 22:00 Uhr, Werkstattkino | Sa 04.12., 18:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]
Lafita – Lateinamerikanische Filmtage München
30.11.–05.12.2021
Werkstattkino, Gasteig HP8, Instituto Cervantes (Eröffnung)
Tickets gibt es hier und bei den Kinos