25.11.2021

Kino als soziale Praxis

Los Fantasmas
Blessuren eines Kontinents: Los Fantasmas
(Foto: Lafita)

»Lafita«, die Lateinamerikanischen Filmtage München, wagen die Wiederbegnung mit dem Publikum

Von Wolfgang Lasinger

Die Macher und Mache­rinnen von »Lafita«, den latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtagen in München, sind über­zeugte Anhänger des Kinos als sozialer Praxis. Sie setzen auf das Kino als »Gemein­schafts­er­lebnis« und auf den konkreten Raum Kino als »Begeg­nungsort«. Dieses Bekenntnis zur Präsenz machte letztes Jahr unter Corona-Bedin­gungen den Verzicht auf die latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage erfor­der­lich, da man nicht ins Netz auswei­chen wollte, und schränkt auch dieses Jahr die Veran­stal­tung zumindest empfind­lich ein. Das »Kino als öffent­li­cher und sozialer Raum«, so in der program­ma­ti­schen Ankün­di­gung, will behauptet werden, wo und solange es nur geht. Im gebannten Blick auf die Münchner Inzi­denz­zahlen hoffen »Lafita« und wir Zuschauer, dass es dieses Jahr wie geplant möglich sein wird, im Kino zu sein, den Kino­be­such als soziale Praxis unter Einhal­tung der verlangten und gebotenen Vorsichts­maß­nahmen ausüben zu können.

Die dies­jäh­rige Film­aus­wahl kombi­niert formal avan­cierte Arbeiten und packendes klas­si­sches Erzähl­kino, enga­gierte und bild­ge­wal­tige Doku­men­tar­filme sowie zwei Blöcke von Kurz­filmen, die verschie­dene inhalt­liche und expe­ri­men­telle Formate aufbieten. Die ganze Vielfalt, für die latein­ame­ri­ka­ni­sches Kino seit jeher steht, versam­melt sich in diesem Programm.

Korrup­tion, Kolla­bo­ra­tion, Kata­strophe

Der Opener Así habló el cambista (Also sprach der Geld­wechsler) von Federico Veiroj ist ein Beispiel jenes hinter­grün­digen, wenn nicht gar abgrün­digen Erzähl­kinos, das sorg­fäl­tige Insze­nie­rung mit einem satten Plot verbindet. Der in Monte­video ansässige Geld­wechsler und -verleiher Humberto Brause laviert mit seinen Geschäften zwischen den Mili­tär­re­gimes Uruguays, Argen­ti­niens und Brasi­liens der 50er bis zum Ende der 70er Jahre auf einem schmalen Grat zwischen Korrup­tion, Kolla­bo­ra­tion und Kata­strophe. Die Geschichte lässt sich als subtiles Lehrstück über die Verstri­ckungen lesen, die eine bürger­liche Erfolgs­story in gefähr­liche Nähe zu skru­pel­losen Machen­schaften verschie­denster Couleur bringt. Wenn ein Indi­vi­duum das Geschäfts­schicksal entschlossen in die eigenen Händen nimmt, sich aber fort­wäh­rend arran­gieren muss, dann kann es durchaus sein, dass es sich und seinen Nächsten als Mensch abhanden kommt. In geschickter Balance weiß die Insze­nie­rung des urugu­ay­ischen Regie-Meisters Federico Veiroj den Geld­wechsler und Liebhaber klas­si­scher Musik Brause in ein Gespinst fein-ironi­scher Selbst­ent­lar­vung zu packen: der brillante Schau­spieler Daniel Hendler tut sein Übriges, um diese Figur zwischen empa­thi­scher Wärme und kalter Distanz schillern zu lassen.

[FESTIVALERÖFFNUNG: Di 30.11., Einlass: 19:00 Uhr, Beginn: 19:30, Instituto Cervantes | Sa 04.12., 20:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]

Klas­sen­ant­ago­nismen

Auf ähnliche Weise führt Benjamín Naishtat in Rojo den Anwalt Claudio in einer argen­ti­ni­schen Provinz­stadt als auf seine Privi­le­gien bedachten ehren­werten Bürger vor, der sich immer mehr in Vertu­schungen und Vorteils­nahmen verstrickt. Die Handlung spielt 1975 in der Zeit kurz vor der Übernahme der Macht durch die Militärs. Wie sehr sich die Span­nungen angestaut haben unter der zivi­li­sierten Ober­fläche und hinter den trüge­risch harmo­ni­schen Verhält­nissen des auf den ökono­mi­schen Aufstieg und den Status fixierten Bürger­tums, zeigt eine grandiose Skan­dalszene zu Beginn des Films, in der beim Streit um einen Platz im Restau­rant Mecha­nismen der Provo­ka­tion und der Demü­ti­gung die Klas­sen­ant­ago­nismen zwischen Bour­geoisie und Prole­ta­riat offen­baren.

Die beklem­mende Atmo­sphäre des Verschwei­gens und Wegschauens, die die still­schwei­gende Akzeptanz der Militärs vorweg­nimmt, verdichtet sich erst richtig, als in den Ort von auswärts aus dem Nach­bar­land, aus Santiago de Chile, der berühmte Detektiv Sinclair einge­flogen kommt, um im für die örtliche Polizei unlös­baren Fall eines Verschwun­denen zu ermitteln. Es entspinnt sich ein span­nendes Duell zwischen zwei der aktuell größten latein­ame­ri­ka­ni­schen Darsteller: der Detektiv wird von Alfredo Castro (bekannt unter anderem aus diversen Filmen von Pablo Larraín) verkör­pert, der Anwalt Claudio von Darío Gran­di­netti (den man aus Sprich mit ihr von Almodóvar kennt). Dass der sich immer mehr kompro­mit­tie­rende Anwalt mit solch einem Sympa­thie­träger wie Gran­di­netti besetzt ist, zwingt die Zuschauer auf subtil-schmerz­hafte Weise in die Position einer kompli­zen­haften Zeugen­schaft.

[Mi 01. 12., 22:00 Uhr, Werk­statt­kino | So 05.12., 20:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]

Wurm­loch­ar­tig­keit der Welt

Einen ganz anderen Erzählton schlägt ein weiterer Regisseur aus dem La-Plata-Raum an: der Uruguayer Alex Piperno verschränkt in Chico Ventana también quisiera tener un submarino (Auch Chico Ventana, der Fenster-Junge, würde gern ein U-Boot haben) auf ganz natürlich wirkende Weise drei weit ausein­ander liegende geogra­phi­sche Schau­plätze. Chico Ventana, der auf einem Kreuz­fahrt­schiff vor Pata­go­nien als Putzkraft arbeitet, vermag in seinem Arbei­ter­overall über irgend­welche Schiffs­treppen und einen Lagerraum unver­mit­telt in die Abstell­kammer einer Wohnung in Monte­video zu gelangen. Die dort lebende, allein­ste­hende Geschäfts­in­ha­berin akzep­tiert ihn dann nach dem ersten Erschre­cken allmäh­lich als Lebens­ge­fährten. Die geheimen Kanäle, die wurm­loch­artig die Orte verbinden, stehen überdies in Kommu­ni­ka­tion mit einem Schuppen im phil­ip­pi­ni­schen Urwald. Die Bauern dort vernehmen darin unheim­liche Geräusche und stellen Nacht­wa­chen auf, die ihre Felder und Häuser vor den in Träumen sich ankün­di­genden Unge­heuern im Schuppen schützen sollen. In faszi­nie­renden Bildern evoziert Piperno in diesem Film eine globa­li­sierte Welt jenseits der offi­zi­ellen Kommu­ni­ka­ti­ons­wege. Die sinnlich betö­renden, an Apichat­pong Weer­a­set­hakul erin­nernden Szenerien des phil­ip­pi­ni­schen Urwalds treffen auf beklem­mende Inte­ri­eurs der Einsam­keit einer Wohnung in der La-Plata-Metropole Monte­video, während das Kreuz­fahrt­schiff kafkaeske Räume bereit­hält. Das U-Boot aus dem Titel verweist dann auf den entro­pi­schen Kollaps, der am Ende alle Räume in sich zusam­men­s­türzen lässt.

Pipernos wundersam schöner Film steht damit dem Werk Eduardo Williams' nahe, der vor einigen Jahren in El auge del humano (Human surge) auf ähnlich provo­ka­tive Weise zwischen Argen­ti­nien, Angola und den Phil­ip­pinen switchte.

[Fr 03.12., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino | So 05.12., 18:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]

Trance

Mit Los Fantasmas von Sebastián Lojo präsen­tiert Lafita dann einen Film aus dem mittel­ame­ri­ka­ni­schen Guatemala, einem Land, aus dem eher selten Filme zu vermelden sind. Die Figuren wie Koki und Carlos treiben hier durch die nächt­liche Halbwelt in Guatemala-Stadt, die Atmo­sphäre lässiger Teil­nahms­lo­sig­keit (wie man sie aus frühen Wong-Kar-wai-Filmen kennt) täuscht einen über die exis­ten­ti­elle Dring­lich­keit hinweg, die die Lebens­wege sich kreuzen lässt. Koki, in einer Mischung aus Stadt­führer und Callboy, lotst seine Kunden in das Hotel, in dem Carlos Nacht­por­tier ist. Der wiederum hat einen weiteren Job als Wrestler, und die rituelle Gewalt in seinen Perfor­mances setzt sich in der Realität auf beängs­ti­gende Weise fort. Koki, verstrickt in halb­kri­mi­nelle Machen­schaften, wird brutal zusam­men­ge­schlagen. Alles aber wider­fährt den Figuren in einer Art Trance, für die vor allem die Kamera mit ihren irri­tie­rend schönen Bildern sorgt. So bleibt die Handlung hier immer hinter dem Driften der Kamera und der Figuren eine Neben­sache, was aber das Zuschauen zu einer rausch­haften Erfahrung werden lässt.

[Do 02.12., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino]

Ambulanz, Guerilla, ein Stück Auto­bahn­brücke

Neben diesen vier Spiel­filmen bietet das kleine Festival noch drei doku­men­ta­ri­sche Werke. Midnight Family von Luke Lorentzen begleitet die von der Familie Ochoa betrie­bene Privat-Ambulanz bei der nächt­li­chen Jagd nach Unfall­op­fern und liefert eine schier unfass­bare und immer wieder das Groteske strei­fende Darstel­lung der Zustände, die entstehen, wenn die Rettungs­am­bu­lanzen unter­ein­ander sich einem quasi-darwi­nis­ti­schen »struggle for survival« ausge­setzt sehen.

[Fr 03.12., 22:00 Uhr, Werk­statt­kino]

Niebla de la paz von Joel Stängle führt in den kolum­bia­ni­schen Urwald, der über viele Jahr­zehnte als Rück­zugs­raum für Guerilla-Bewe­gungen zum Schau­platz zahl­rei­cher krie­ge­ri­scher Ausein­an­der­set­zungen wurde. Über das Porträt zweier Gueril­leros versucht der Film behutsam die Möglich­keiten auszu­loten, wie mit neuen Perspek­ti­vie­rungen ein Ausweg aus den fest­ge­fah­renen Bahnen der Bericht­erstat­tung und der Geschichts­schrei­bung gefunden werden kann.

[Mi 01.12., 18:00 Uhr, Werk­statt­kino | So 05.12., 16:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor (zu Gast: Joel Stängle)]

Suspen­sión von Simón Uribe schließ­lich führt ebenfalls in die kolum­bia­ni­schen Urwälder, aller­dings um die beein­dru­ckenden Überreste eines gigan­ti­schen Verkehrs-Baupro­jekts durch die Wälder zu zeigen: ein Stück Auto­bahn­brücke, isoliert, inmitten der wuchernden Pflanzen- und Tierwelt, ein Denkmal der Natur und der Zivi­li­sa­tion zugleich.

[Do 02.12., 18:00 Uhr, Werk­statt­kino | Sa 04.12., 16:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]

Cortos

In den beiden Kurz­film­blö­cken, die das Programm abrunden, kann man weitere Entde­ckungen in der Vielfalt erleben in den fünf kurzen und mittel­langen Arbeiten des Blocks »La espera« mit intimeren priva­teren Themen oder den drei mittel­langen Arbeiten des Blocks »Habitat« mit dem Portrait urbaner und natür­li­cher Lebens­welten.

[La Espera: Mi 01.12., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino | Fr 03.12. | 18:00 Uhr | Werk­statt­kino (zu Gast: Denize Galiao)]

[Habitat: Do 02.12., 22:00 Uhr, Werk­statt­kino | Sa 04.12., 18:00 Uhr, Gasteig HP8, Halle E – Projektor]

Lafita – Latein­ame­ri­ka­ni­sche Filmtage München
30.11.–05.12.2021

Werk­statt­kino, Gasteig HP8, Instituto Cervantes (Eröffnung)
Tickets gibt es hier und bei den Kinos