11.11.2021

Land, ich sehe dich

Apples / Mila. Protagonist auf Kinderfahrrad
Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit: Apples
(Foto: Trigon / Griechische Filmwoche)

Die 35. Griechische Filmwoche zeigt in München eine Schau aktueller Werke und blickt zurück auf ein Jahrhundert griechisches Kino

Von Elke Eckert

Nachdem die Grie­chi­sche Filmwoche München 2020 erstmals online stattfand, ist die 35. Ausgabe wieder auf der großen Leinwand zu sehen. Eine Premiere gibt es aller­dings auch in diesem Jahr: Das Jubiläums­pro­gramm wird wegen der Sanierung des Gasteigs im Inte­rims­quar­tier Gasteig HP8 in der Hans-Preißinger-Straße 8 in Sendling gezeigt, nur der Eröff­nungs­film läuft tradi­tio­nell im Carl-Orff-Saal in Haid­hausen. 2021 feiert der Veran­stalter Cinephile München e.V. mit seiner sehr facet­ten­rei­chen Film­aus­wahl nicht nur drei­ein­halb Jahr­zehnte helle­ni­sche Filmkunst in der Isar­me­tro­pole, sondern auch 100 Jahre grie­chi­sches Kino.

Nach knapp zwei Jahren Pandemie kommt einem die Geschichte, die Christos Nikou in Apples erzählt, in gewisser Weise bekannt vor. Im Eröff­nungs­film der Filmtage geht es um eine seltsame Epidemie, die Grie­chen­lands Bevöl­ke­rung heimsucht und bei Betrof­fenen akuten Gedächt­nis­ver­lust auslöst. Auch der 40-jährige Aris weiß plötzlich nicht mehr, wer er ist. Um sich wieder an irgend­etwas erinnern zu können, nimmt er an einem Programm in einer Spezi­al­klinik teil und lernt dabei Anna kennen… Die surreale Tragi­komödie feierte ihre Welt­pre­miere 2020 bei den Inter­na­tio­nalen Film­fest­spielen von Venedig und wurde von Grie­chen­land ins Oscar-Rennen um den besten fremd­spra­chigen Film geschickt. (Donnerstag, 11. November, 19 Uhr, Carl-Orff-Saal, Gasteig und Mittwoch, 17. November, 18 Uhr, Gasteig HP8)

Die Haupt­dar­stel­lerin in Angeliki Antonious Drama Green Sea leidet ebenfalls an einer Amnesie und trägt darüber hinaus denselben Namen wie die Prot­ago­nistin im Eröff­nungs­film. Diese Anna landet aller­dings in einer Taverne, wo sie Besitzer Roula und seine Gäste mit ihren Koch­künsten verzau­bert. Die Über­ra­schung ist groß, als Roula ihre wahre Identität entdeckt. – Die filmische Adaption des Romans »Um das Meer zu sehen« lief zum ersten Mal auf dem Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Thes­sa­lo­niki. (Montag, 15. November, 20:30 Uhr und Samstag, 20. November, 18 Uhr)

Etwas aus der Zeit gefallen wirkt auch der penible Nikos mit seiner Vorliebe für Etikette. Als seiner Schnei­derei in der Athener Innen­stadt der Bankrott droht, wird ihm bewusst, dass er sich beruflich neu erfinden muss. Und so wird aus Nikos, dem Schneider alter Schule, Der Hoch­zeits­schneider von Athen, der sein Geschäft gegen einen Markt­stand tauscht und fortan Braut­kleider näht. – Der Film von Sonia Liza Kenterman punktet mit viel Humor und Poesie. (Sonntag, 14. November, 20:30 Uhr und Donnerstag, 18. November, 18 Uhr)

Glei­cher­maßen prekär ist die finan­zi­elle Situation von Aliki und Petros. Als beide ihre Jobs verlieren, müssen sich das junge Paar und ihr kleiner Sohn wohl oder übel von lieb­ge­won­nenen Privi­le­gien verab­schieden. Statt der teuren Wohnung in der Haupt­stadt wird eine billigere Bleibe in einem Küstenort zum neuen Zuhause. Doch die Angst, nie mehr in ihr altes Leben zurück­kehren zu können, über­schattet den Alltag der Familie. – Michalis Konstan­tatos' Drama All the Pretty Little Horses erzählt im Stil eines Horror­films von exis­ten­zi­ellen Bedro­hungen, mit der viele Angehö­rige der Mittel­schicht seit der Finanz­krise zu kämpfen haben. (Montag, 15. November, 18 Uhr und Donnerstag, 18. November, 20:30 Uhr)

Obwohl erst Mitte 20, hatte auch Viktoras schon bessere Zeiten. In jüngeren Jahren war er ein erfolg­rei­cher Turm­springer, jetzt bestimmt ein trost­loser Job sein Leben in einer grie­chi­schen Klein­stadt. Als seine Groß­mutter stirbt, über­windet Viktoras seine Lethargie, wagt den titel­ge­benden Sprung ins kalte Wasser und macht sich auf den Weg nach Deutsch­land – zu seiner Mutter, die er lange nicht mehr gesehen hat. Unterwegs trifft er Mathias, einen jungen Deutschen, der Viktoras auf seinem Trip durch Europa begleitet und viele Fragen aufwirft. – Stelios Kammitsis' Roadmovie ist gleich­zeitig eine roman­ti­sche Liebes­ge­schichte, die mit jedem zurück­ge­legten Kilometer inten­siver wird. (Dienstag, 16. November, 20:30 Uhr und Sonntag, 21. November, 20:30 Uhr)

Weniger roman­tisch, aber trotzdem eng ist die Beziehung der zwei Männer, die im Mittel­punkt von In the Strange Pursuit of Laura Durand stehen. Antonis und Christos teilen sich nicht nur eine Minibude, sondern auch das Arbeits­lo­sen­geld von Christos. Was sie sonst noch brauchen, verdienen sie sich mit Aushilfs­jobs. Den Rest der Zeit verbringen die beiden Freunde mit ihrem gemein­samen Idol Laura Durand bezie­hungs­weise beim Schauen ihrer Filme. Dass der Erotik­star im wahren Leben auf geheim­nis­volle Weise verschwunden ist, macht ihn nur noch inter­es­santer. So inter­es­sant, dass Antonis und Christos sich eines Tages auf die Suche nach Laura begeben… – Die Komödie von Dimitris Bavellas lebt von ihren origi­nellen Figuren und dem tollen Sound­track.(Samstag, 13. November, 18 Uhr und Mittwoch, 17. November, 20:30 Uhr)

Über ihre Sexarbeit, aber auch über Anfein­dungen und Verhaf­tungen erzählen drei grie­chi­sche LGBTQIA-Akti­vis­tinnen in der sehr persön­li­chen Doku The Oleanders. Die Regis­seurin Paola Revenioti ist eine von ihnen. Bei einer gemein­samen Tour durch das nächt­liche Athen wird die Vergan­gen­heit der drei Frauen wieder lebendig und damit auch die Schwie­rig­keiten, mit denen sie zurecht­kommen mussten. (Samstag, 13. November, 20:30 Uhr und Dienstag, 16. November, 18 Uhr)

Ein intimes Porträt ist auch George Markakis mit seiner Doku Ex gelungen. Bei einem Streifzug durchs Berliner Nacht­leben konzen­triert er sich auf die Geschichten, die sich im Verbor­genen bezie­hungs­weise auf den Toiletten der Clubs abspielen. Diese Orte sind oft alles andere als still, weil sie nicht nur als Drogen­um­schlag­platz dienen, sondern dort auch Ängste und Wahr­heiten scho­nungslos ausge­spro­chen werden. George Markakis ist Gast der Filmwoche und wird bei der Vorfüh­rung seines Films anwesend sein. (Samstag, 20. November, 20:30 Uhr)

Ebenfalls vor Ort ist die Regis­seurin von Golden Dawn: A Public Affair bei der ersten Vorstel­lung ihrer Doku­men­ta­tion. Angélique Kourounis befasst sich in ihrem Film mit der Rolle der Neonazi-Partei »Goldene Morgen­röte« in der grie­chi­schen Politik. Und macht deutlich, welche Ursachen und Wirkungen dafür verant­wort­lich sind, dass die extreme Grup­pie­rung, obwohl sie mitt­ler­weile als krimi­nelle Orga­ni­sa­tion einge­stuft wurde, immer noch auf der poli­ti­schen Bühne aktiv ist. (Freitag, 12. November, 19 Uhr und Sonntag, 21. November, 18 Uhr)

Im Rio Film­pa­last läuft der Doku­men­tar­film King Otto als Special Screening – und er verbindet Grie­chen­land und Deutsch­land tatsäch­lich auf besondere Weise. Die Hommage an die deutsche Trai­ner­le­gende Otto Rehhagel ist zugleich auch ein Rückblick auf den trium­phalen Erfolg der grie­chi­schen Natio­nal­mann­schaft, der bei der Euro­pa­meis­ter­schaft 2004 mit Rehhagel als Trainer das schier Unmö­g­liche glückte: als Außen­sei­ter­team Euro­pa­meister zu werden. Regisseur Chris­to­pher André Marks zeichnet die einzelnen Stationen nach und lässt die wich­tigsten Prot­ago­nisten zu Wort kommen. (Freitag, 19. November, 18 Uhr)

Neben diesen aktuellen Produk­tionen umfasst das dies­jäh­rige Programm der Grie­chi­schen Filmwoche auch eine Auswahl von beliebten Klas­si­kern der 100-jährigen grie­chi­schen Film­ge­schichte, die anläss­lich der 200-Jahr-Feier der Unab­hän­gig­keit Grie­chen­lands digi­ta­li­siert wurden.

Das Ganze steht unter dem Motto »Land, ich sehe dich« und ist eine Initia­tive der Grie­chi­schen Film­aka­demie unter der Schirm­herr­schaft der Kommis­sion »Grie­chen­land 2021«, gespon­sert vom Natio­nalen Zentrum für Audio­vi­su­elle Medien und Kommu­ni­ka­tion, dem Grie­chi­schen Film­zen­trum, dem Athen & Epidauros Festival sowie dem Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Thes­sa­lo­niki mit Unter­stüt­zung des Grie­chi­schen Film­ar­chivs.

Einer der sechs ausge­wählten Klassiker ist die musi­ka­li­sche Komödie Girls in Kisses von 1965. Die New Yorkerin Rena fliegt mit ihrer Nichte Jenny nach Rhodos und steckt dort bald mitten­drin in einem Verwirr­spiel um Geld und Liebe. – Die Musi­cal­pro­duk­tion war der erste grie­chi­sche Farbfilm, der im Cine­ma­scope-Format gedreht wurde. (Samstag, 13. November, 14 Uhr)

Auch beim Dreh von Mantalena gab es eine Premiere. Die Tragi­komödie von 1960 war der erste Film, der außerhalb eines Studios entstand. Als ihr Vater stirbt, muss Mantalena sich nicht nur um ihre jüngeren Geschwister kümmern, sondern auch das Fahr­ge­schäft über­nehmen, das die Familie ernährt. Doch die Insel­ge­meinde hat ein Problem damit, dass die junge Frau berufs­tätig ist… Haupt­dar­stel­lerin Aliki Vougiou­klaki wurde auf dem Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Thes­sa­lo­niki als beste Schau­spie­lerin ausge­zeichnet. (Samstag, 13. November, 11 Uhr)

Annas Verlobung von 1972 ist das Spiel­film­debüt von Pantelis Voulgaris, einem der bedeu­tendsten Vertreter des grie­chi­schen Kinos. Auch hier geht es um eine junge Frau, die Geld für ihre Familie verdienen muss – aller­dings nicht als selbstän­dige Unter­neh­merin, sondern als Dienst­mäd­chen, das von ihren groß­bür­ger­li­chen Herr­schaften auch noch einen Verlobten aufge­drängt bekommt. Anna begehrt gegen die Unter­drü­ckung auf… Voulgaris kriti­siert mit seinem Drama die Stän­de­ge­sell­schaft zu Zeiten der grie­chi­schen Mili­tär­dik­tatur. (Sonntag, 14. November, 11 Uhr)

Von einem weiteren Regie-Groß­meister stammt das Drama Die Wander­schau­spieler. Theodoros Ange­lo­poulos verknüpft die privaten Schick­sale seiner Prot­ago­nisten meis­ter­haft mit den poli­ti­schen Ereig­nissen zwischen den Kriegs- und Nach­kriegs­jahren 1939 und 1952. Der 230-Minüter von 1975 wird noch heute zu den besten euro­päi­schen Filmen gezählt. (Sonntag, 14. November, 13 Uhr)

In der tragi­ko­mi­schen Satire Loafing and Camou­flage von 1984 wird noch einmal an die Mili­tär­dik­tatur erinnert. Regisseur Nikos Perakis erzählt mit auto­bio­gra­fi­schen Anleihen, wie Soldaten zur Mili­tär­pro­pa­ganda abge­stellt wurden, und macht daraus eine unter­halt­same poli­ti­sche Posse. (Sonntag, 21. November, 14 Uhr)

Höhepunkt der Klas­sik­schau ist der Polit­thriller Z – Anatomie eines poli­ti­schen Mordes, für den Meis­ter­re­gis­seur Costa-Gavras 1969 den Jurypreis der Inter­na­tio­nalen Film­fest­spiele von Cannes erhielt und der darüber hinaus mit zwei Oscars (bester fremd­spra­chiger Film und bester Schnitt) ausge­zeichnet wurde. Das Drama beruht auf wahren Bege­ben­heiten vor Beginn der Mili­tär­dik­tatur. Bei einer Veran­stal­tung von Oppo­si­tio­nellen wird ein populärer Politiker ermordet. Die Regie­renden wollen den Todesfall verharm­losen und über­tragen die Unter­su­chung einem jungen Richter. Als dieser wider Erwarten sehr gründlich ermittelt, gerät er massiv unter Druck… Es war für Constantin Costa-Gavras nicht leicht, seinen regime­kri­ti­schen Film während der Mili­tär­dik­tatur zu reali­sieren. Die Dreh­ar­beiten mussten nach Algerien verlegt werden, die Produk­ti­ons­firma und die Haupt­dar­steller Yves Montand und Jean-Louis Trin­ti­gnant kamen aus Frank­reich. (Sonntag, 21. November, 11 Uhr)

Das Programm der Grie­chi­schen Filmwoche rundet wie immer eine Auswahl der besten Kurzfilme vom alljähr­li­chen Thes­sa­lo­niki Inter­na­tional Short Film Festival ab. (Sonntag, 14. November, ab 18 Uhr)