21.10.2021

Die verbrecherische Lust einen Film zu machen

TUNGUSKA - DIE KISTEN SIND DA
Christoph Schlingensief in Tunguska – Die Kisten sind da
(Foto: Filmgalerie 451)

Christoph Schlingensief über Anfänge in München, den deutschen Film, Förderungsinstanzen, und den Anspruch, das perfekte Verbrechen zumindest im Film auf die Beine zu stellen

Von Christoph Schlingensief

Ich finde es, nach meinen Filmen Tunguska – Die Kisten sind da, Menu total und Egomania – Insel ohne Hoffnung an der Zeit, ein wenig von mir zu erzählen, besonders meinen Luxus zu beschreiben, wenn ich einen Film mache, also den Lohn der schreck­li­chen Ausschwei­fungen, damit ihn jeder mit der trüb­se­ligen Lage anderer deutscher Regis­seure und ihrem Lohn der Tugend verglei­chen kann.

Ich bin 1960 geboren. Ganz sicher ein Jahrzehnt der Verlierer und zukunfts­ori­en­tierter Phan­tasten. Mein Leben verlief verhält­nis­mäßig normal: Kinder­garten, dann Grund­schule mit enga­giertem Mess­die­ner­dienst, dann später etwas verwirrter, in Form von Gymnasium und anschließendem Abitur (Durch­schnitt: 2,9). Ganz sicher eine Verwir­rung, die einem noch über Jahre hinweg anhängen wird und die einzig und allein dem Glücks­wohl der eigenen Verwandt­schaft und dem unsi­cheren Ich helfen wird.
Dann 1979 rapide Selbst­auf­gabe: Die erste große Liebe zerbricht. Man verfolgt die Geliebte bis hin zum Sturz vom 6-stöckigen Neubau, direkt gegenüber vom unaus­steh­li­chen Neben­buhler. Anschließend Selbst­mord­ver­such und erhei­ternder Neubeginn mit einer Dach­zim­mer­woh­nung in München und der Prosti­tu­ierten Erika, einer verzwei­felten enga­gierten Alko­ho­li­kerin. Studium der dt. Philo­logie. Abends Besuche der wenigen Peepshows, Spazier­gänge am Haupt­bahnhof und wieder­holte Fragen nach dem Sinn des Lebens, einer bisweilen recht uner­trä­g­li­chen und pene­tranten Ange­le­gen­heit.
(...)
Dabei wollte ich eigent­lich erst um zehn Uhr aufstehen, dann bis elf Uhr nur die intimsten Freunde empfangen, dann bis ein Uhr große Toilette nur in Gegenwart all meiner Verehrer machen und um eins all jene empfangen, die an mich Bitten hatten oder den Minister empfangen, wenn er einmal in München war. (*c) Doch wie das Leben so spielt, entwi­ckelte sich die Sache zur Farce: Ich wurde, schleimig und unsicher. Meine Seele landete auf dem Papier.
Mein Versuch, an der Film­hoch­schule anzu­kommen, schei­terte und der steinige Weg durch FREMD-Produk­tionen begann. Zwar lernte man dort eine Menge Wissens­wertes über Technik und Orga­ni­sa­tion, doch nichts Genaues über Menschen­füh­rung, Mord und Totschlag. (*c) Noch immer gab es in meinem Kopf die eindrucks­volle Kinoszene, der Titel ist mir entfallen, in der ein kleiner Junge die Katze des Nachbarn vier­teilte, anschließend verbrannte und mit kühner Sicher­heit behaup­tete, er habe nichts damit zu tun. Ein Film, den ich mit 9 Jahren gesehen habe. Der Weg ging weiter, und erst als ich Erika mit gebro­chenem Bein und blut­ver­schmiertem Gesicht im Trep­pen­haus liegen sah – ihr Mann hatte ihr das Bein quer und sie ihm dafür den Unter­kiefer längs durch­ge­bro­chen –, wusste ich, was mich wirklich inter­es­sierte.

Immer wieder waren mir jene deutschen Film­re­gis­seure aufge­fallen, die sich zum Wohle der Menschen zum Märtyrer erklärten und stun­den­lange Essays über Gut und Böse ablie­ferten. Dabei hatte Erika lediglich ihren Charakter ausgelebt, so wie auch alle meine zukünf­tigen Darsteller ihren Charakter ausleben sollten. Ich suchte Drehorte aus, die uner­trä­g­lich waren, die jeden Normalen veran­lasst hätten, das Weite zu suchen. Ich plante den Drehplan so, dass er niemals zu schaffen war, es sei denn, Team und Darsteller wären bereit gewesen, 10 Tage ohne Schlaf auszu­kommen. Und ich schrieb Dreh­bücher, die man nicht spielen konnte, geschweige denn verstehen. (*c) Denn nur das Zwischen­ein­ander und vor allem das Gegen­ein­ander geben einem die Gewiss­heit, den Anderen zu studieren und dem eigenen Geschmack freien Lauf zu lassen, sich also ganz frei zu entfalten. (...)
War man bei den bisher üblichen Produk­ti­ons­me­thoden nur darauf bedacht, den Ablauf möglichst keimfrei zu halten, so war man hier in der Lage, alles zu verseu­chen und somit ehrlich zu sein: (*c) Der Frau­en­ver­ächter kann sich mit seines­glei­chen befassen, die Frau oder der Mann, der nur sein eigenes Geschlecht liebt, sich seinen Einfällen hingeben, so wie er lustig ist: kein Zwang, keine Scham. Denn der bloße Wunsch, seinen Genüssen ein möglichst großes Feld zu bieten, bewirkt, dass man all sein Können der Gemein­schaft zur Verfügung stellt. Von diesem Augen­blick an unter­stützt der allge­meine Vorteil den Bund; das Einzel­in­ter­esse ist an das der Allge­mein­heit gebunden, was das gesell­schaft­liche Band unzer­reißbar macht. (...)
Jetzt, gut drei Jahre später, denke ich zwar ähnlich, sehe aber auch meine Filme im Schatten der Versäum­nisse: Aus dem Krämer wurde ein Möch­te­gern, aus dem puber­tären ein subli­miertes Monstrum. Meine Filme, alle wie sie da sind, sind jung­fräu­lich und verträumt.
Aus den biederen Versuchen, lauter zu sein als das Geschwafel der Heiligen – in deren Gegenwart man zwangs­läufig zum Märtyrer werden muss –, wurde das in allen Situa­tionen vorsich­tige Auftreten eines Oppor­tu­nisten. Das Hirn kam zu spät in den Safe und der Wunsch, die 100 kleinen Kinder im Kopf der Perver­sion zu opfern, endete im einsamen Besäufnis unter der Bettdecke. Das formale Chaos brach aus und erreichte zwar die visuelle Bewun­de­rung der Kritik und des Zuschauers, nicht aber den eigent­li­chen Nerv der Veran­stal­tung.
Der Anspruch, das perfekte Verbre­chen zumindest im Film auf die Beine zu stellen, bleibt bestehen. Der Wunsch, die Sülze kine­ma­to­gra­phi­scher Sprach­rohre – gemeint sind die deutschen Regis­seure meiner puber­tären Zeit – vergessen zu können und lieber das jung­fräu­liche Blut unbe­irrter Kinder sprechen zu lassen, bleibt infolge regie­rungs­spe­zi­fi­scher als auch kultu­reller Förde­rungs­in­stanzen verboten.

Es gibt keinen Weg mehr, den Anspruch auf pubertäre Film­ge­stal­tung äußern zu können, obwohl die besten Filme selbst jener deutschen Film­re­gis­seure, die ich oben schon erwähnte, eindeutig als pubertäre Machwerke bezeichnet werden müssen. Die Welt des puber­tären Films ist verschlossen worden, obwohl jedes Gremium, jede Regierung nach Inno­va­tion brüllt. Der pubertäre Film, so wie ich ihn gemacht habe, war ein Kraftakt mit hunderten von glück­li­chen Zufällen. Er bleibt einmalig, zumal er Einma­liges einge­fangen hat.

Und dennoch steht er vor der Entschei­dung, sich anzu­passen oder das Zeitliche zu segnen. Welcher Produzent, welche Redaktion, welche Verleih­firma wird bereit sein, den Anspruch des insze­nierten Verbre­chens offen mitzu­be­gleiten. Und welcher Schau­spieler, welcher Dreh­buch­autor wird bereit sein, seinen Kopf darauf zu setzen?
Bis jetzt begleiten uns nur die Freunde des Kalküls, nicht aber die des orga­ni­sie­renden Verbre­chens, einer viel reineren und ursprüng­li­cheren Form der Selbst­ach­tung, die zwangs­läufig, nach normalen Gesichts­punkten beurteilt, viel mit Imagi­na­tion zu tun hat und den, möglichst effekt­vollen, eigenen Auftritt, nicht aber den verlo­genen und Märtyrern zuge­teilten – angeblich der Allge­mein­heit nützenden – Auftritt zum Ziel hat.

Orga­ni­sa­tion bedeutet, den Kern der Welt zu verstehen. Der aber ist nicht zu verstehen. Er steht auf weiter Flur und lacht sich ins Fäustchen, wenn die Märtyrer kommen und für die bessere Welt in ihren Filmen predigen. Die bessere, weil ehrli­chere Welt jedoch ist das Verbre­chen. Sie will den Geschei­terten. Sie will jenen, der auf’s Verrecken nicht aufgeben will. Sie will den, der seinen Wahn zum Ausdruck bringt und sich nicht im geringsten auf das Danach konzen­triert, sondern nur auf das Hier und Jetzt.

Diese Momente gilt es in Filmen einzu­fangen: Das Hier und Jetzt. Nicht das Gestern und Über­morgen. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit ist eine ganz beschis­sene Lüge. Er will uns die Gegenwart vergraulen. Er will uns beruhigen. Er will uns in einen Bereich führen, der die Gegenwart zum Mörder erklärt, wobei die Gegenwart, die unein­ge­schränkte Berech­ti­gung zum Mord, wenn nicht sogar zum Massen­mord besitzt.
Der Mensch, oder besser gesagt, der Regisseur, der uns erzählen will, die Gegenwart müsse sich der Vergan­gen­heit gegenüber verant­worten, jener Typus Mensch gehört in die Zukunft kata­pul­tiert. Denn nur ein Mensch, der seine Vergan­gen­heit hat und sie ständig zu seinem Vor- oder Nachteil zitiert oder inter­pre­tiert, ist ein gefähr­deter Mensch. Er befindet sich im Still­stand. Er sieht sich in der Verant­wor­tung, eine, wenn nicht sogar seine, Tradition am Laufen zu halten, auch wenn sie noch so makaber oder sinnlos gewesen ist. Das klingt zwar recht pessi­mis­tisch, ist aber nicht mehr als ein sich zur Tat beken­nender positiver Nihi­lismus, dessen Ziel es nur sein kann, nach vorne zu blicken und die Zutaten von früher gut zu kennen, damit man sie möglichst frei und beliebig zur eigenen Tat benutzen kann.

Der Gangster, um wieder auf den Beginn meines Ergusses zurück­zu­kommen, der nur seine früheren Taten ins Felde führt, ist ein schlechter Gangster. Er wird uns zwar im schlimmsten Fall, mitten in der Tat, zu unter­halten, nicht aber direkt zu reagieren wissen. Er wird schießen, weil er es schon einmal so und nicht anders getan hat, und er wird auch genauso davon­kommen. Wir jedoch, die wir ihm schon ein früheres Mal geglaubt haben, werden dahocken und den Kopf riskieren. Dann aber haben wir verloren! (...)

Von daher bin ich der festen Über­zeu­gung, dass man einen Film im Zustand der Ohnmacht und puber­tären Einsicht gestalten sollte. Also in einem Zustand der Selbst­auf­gabe, ohne die Erfahrung der Bestra­fung. Nur so wird es möglich sein, noch brutalere,noch perver­sere Gedanken zu entwi­ckeln, die nicht mehr das Kleid eines Möch­te­gerns, sondern vielmehr das Gewand eines Kardinals tragen.
Darunter den beißenden Geruch des eigenen Körpers und darüber den Weihrauch von Millionen.

ZUSATZ
Wenn man nun also glauben könnte, ich würde hier ebenso wie die anderen eine Botschaft über die Welt oder meine eigene Empfin­dung in der Welt verkünden, also eine Message, dann muss ich denje­nigen oder diejenige enttäu­schen: Ich will keine Message, ich fordere lediglich eine Messe!
Eine Messe als Symbol, in einer Welt der pein­li­chen Symbole, für all die, die täglich um Verzei­hung bitten und die täglich auf Erlösung hoffen (- aus Tunguska / Major Pater Hilf – Rede -). Eine Messe also für all jene, die wir schlachten und ermorden wollen.

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Erstmals veröf­fent­licht in: Filmwärts, Nr. 7, Mai 1987

Aus Anlass des Abschlusses der DVD-Edition mit allen Filmen von Christoph Schlin­gen­sief danken wir der Film­ga­lerie 451 für die freund­liche Geneh­mi­gung zur Wieder­ver­öf­fent­li­chung dieses Textes.