26.03.2021
Lovemobil-Debatte

Im Grenzbereich

Lovemobil
Wir haben alle großen Lernbedarf in Sachen Dokumentarfilm
(Foto: WDR/NDR)

Ärger über die Chuzpe der Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss, über die begleitenden Umstände und auch ein bisschen über einen Teil der dadurch ausgelösten Debatte.

Von Sedat Aslan

Frau Lehren­krauss hat 2014 einen Produk­ti­ons­ver­trag mit dem NDR geschlossen und fünf Jahre später den Film Lovemobil abge­lie­fert. Das Problem: Verein­bart war ein Doku­men­tar­film, der Film sieht auf den ersten Blick auch wie einer aus, doch die Regis­seurin hat weite Teile mit Schau­spie­lern insze­niert und das vertuscht. Erst durch die Recherche der Jour­na­listin Mariam Noori für „STRG_F“, ein „funk“-Format vom NDR, flog das Ganze auf. Mitt­ler­weile hat Frau Lehren­krauss den im letzten Sommer verlie­henen Deutschen Doku­men­tar­film­preis samt Preisgeld zurück­ge­geben, sich entschul­digt und eingeräumt, Schaden ange­richtet zu haben. Da könnte man nun die Sache doch auf sich beruhen lassen und den Rest den betei­ligten Parteien über­lassen. So einfach ist es aber nicht. Der Schaden trifft alle, die in der Branche tätig sind und zeigt tiefer­ge­hende Probleme auf, über die man sprechen muss.

Ich habe ein großes Problem damit, dass dies vor allem eine Debatte auf der formellen Ebene auslöst, als ob wir ausge­rechnet jetzt über Begriff­lich­keiten sprechen müssten. Das wäre wirklich der deut­scheste aller Wege, alle Sorgfalt darauf zu richten, eine Schublade zu defi­nieren, in die wir ein Kunstwerk dann einsor­tieren dürfen. Ist Lovemobil nun ein Doku­men­tar­film, der mit Techniken des Spiel­films arbeitet? Oder doch ein Spielfilm, der doku­men­ta­ri­sche Mittel einsetzt? Filme­ma­cher müssen sich zwangs­läufig entscheiden, wie sie formell arbeiten. Sobald man die Kamera auslöst, bildet man nicht mehr alleine die Realität ab, diese These ist älter noch als das Medium selbst, und kann mit der gesamten Film­ge­schichte abge­gli­chen werden. Schon bei den Lumières erzählt der gewählte Kame­ra­stand­punkt bei L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat eine andere Wirk­lich­keit als die der Arbeiter, die die Fabrik verlassen. So etwas wie The Act of Killing, übrigens Sieger des Europäi­schen Film­preises als bester Doku­men­tar­film, ist ein Para­de­bei­spiel dafür, wie meta dieser mitt­ler­weile gedacht werden kann: Massen­mörder stellen eine fiktio­nale Version ihrer selbst dar, werden bei diesem Prozess doku­men­tiert und in eine völlig eigene Narration einge­bettet. Ebenso weit entfernt von einem Gattung­s­pu­rismus ist es, wenn sich Richard Linklater im Spielfilm Boyhood mit seinen Prot­ago­nisten ohne fertiges Drehbuch auf eine Reise begibt, von der er anfangs selbst nicht wissen kann (und nicht wissen will), was 10 Jahre später dabei genau rauskommt. Auch im deutschen Film gibt es viele Künst­le­rinnen, die sich gekonnt im Grenz­be­reich bewegen, Valeska Grisebach und natürlich Werner Herzog wären zu nennen. Ich könnte in diesem Block weiterhin thema­tisch relevante Zitate droppen, à la »le cinéma, c'est la réalité à 24 images par seconde«, aber wozu? Wir, die hier schreiben, und Sie, die das lesen, wissen das alles.

Es ist kein formaler Lapsus, keine Petitesse und auch kein Dumme­jun­gen­streich, den die 42-jährige Regis­seurin sich erlaubt hat, und als solchen sollte man ihn auch nicht behandeln. Sie hat eben nicht in einer Mischform expe­ri­men­tieren, Grenzen sprengen oder breite Diskus­sionen über die Form auslösen wollen. Sie handelte rein aus persön­li­chem Interesse. Es mag durchaus sein, dass sie mit dem Rücken zur Wand stand und sich durch Deadlines unter Druck gefühlt hat. Ja, es ist ihr erstes größeres Projekt, und viel­leicht hat sie diesen Fehler aus Uner­fah­ren­heit, Über­for­de­rung und falscher Selbstein­schät­zung gemacht. Dennoch hat sie im Vorjahr stolz wie Oskar den oben genannten Preis entge­gen­ge­nommen, im Anschluss mit Trophäe in die Kameras gegrinst und dann in Inter­views – man kann es in der Rückschau nur rotzfrech nennen – über die Wirkung der Kamera im Doku­men­tar­film, eine zu vermei­dende voyeu­ris­ti­sche Ausbeu­tung und das Seelen­leben ihrer Prot­ago­nis­tinnen sinniert . Sie hat damit auch ihre eigene Realität als Künst­lerin insze­niert, und sich darin gefallen, die letzten beiden Jahre von Veran­stal­tung zu Veran­stal­tung zu bewegen, wo sie doch genügend Zeit gehabt hätte, einen Break zu machen und mit sich ins Reine zu kommen. Das erinnert sehr an den Fall Relotius, der irgend­wann auch geglaubt hat, er wäre die von ihm selbst proji­zierte Kunst­figur. Man fragt sich: Wie lange hat sie ihre Masche schon angewandt? Und ab welchem Zeitpunkt kann man Auszeich­nungen und Preis­gelder annehmen, ohne dass einen das Gewissen mehr plagt?

Bis hierhin klingt es wie eine leidlich amüsante Felix-Krull-Geschichte, doch das ist sie wahrlich nicht. Zum einen ist das ein Schlag ins Gesicht aller seriösen Filme­ma­cher. Jeder, der selbst einmal an einem Doku­men­tar­film gear­beitet hat, weiß wie knochen­hart es ist, all die kleinen und großen Momente, die man sonst nicht vor die Kamera bekommt, heraus­zu­ar­beiten. Wieviel Kopfnüsse man knacken muss, bis man Lösungen findet, wenn der geplante Weg mal wieder unver­mit­telt in die Irre führt, und wie flexibel man gleich­zeitig sein muss, um sich an die Gege­ben­heiten anzu­passen. Wieviel Kraft, Geduld und Einfüh­lungs­ver­mögen das alles kostet. Nicht zuletzt: Wieviele Projekte nicht fertig­ge­stellt werden können, weil sich die Sachen trotz äußerster Anstren­gungen nicht so fügen, wie sie es sollten. Viele Doku­men­tar­fil­me­rinnen stellen sich diesem harten täglich Brot, weil sie leiden­schaft­lich und inter­es­siert zugleich sind. Diese Kolle­ginnen müssen nun um den ihnen entge­gen­ge­brachten Vertrau­ens­vor­schuss fürchten. Das gilt über­tragen für die gesamte Branche, die sich gerade in diesen Zeiten auch im Punkt Glaub­wür­dig­keit immer wieder neu um ihr Publikum bemühen muss.

Frau Lehren­krauss hätte aus ihrer Recherche auch einen Film über ein Gefühl machen können, ihr Interesse, ihre eigene Unsi­cher­heit oder gar ihr Scheitern. Sie wählte aber einen narra­tiven Ansatz. Wenn der Ausweg aus der Malaise derjenige sein kann, dass man einfach ein im Kopf erstelltes plumpes Drehbuch knallhart mit seinen erdachten Figuren durch­in­sze­niert, haben wir alle großen Lern­be­darf in Sachen Doku­men­tar­film, worüber noch zu sprechen sein wird. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist glei­cher­maßen unpro­fes­sio­nell wie unin­spi­riert, und in diesem Bereich spielt sich mutmaß­lich die nackte und unspek­ta­kuläre Wahrheit in diesem Fall ab. Selbst die disku­tierte Kennt­lich­ma­chung der insze­nierten Sequenzen würde nicht den zentralen Konflikt auflösen: Wäre Lovemobil dann wirklich ein unpro­ble­ma­ti­scher Doku­men­tar­film? Hätten wir alle einen Doku­men­tar­film über das sensible Thema Prosti­tu­tion legitim gefunden, der von vorne bis hinten gestellt ist? Dessen hilflose, unserer Sprache kaum mächtige Prot­ago­nis­tinnen, die von einem fiesen Zuhälter ausge­beutet werden und sich strunz­geilen Freiern hingeben müssen, allesamt Schau­pie­le­rinnen sind? Als etwaige Mischform wäre der Film, so wie er ist, nicht nur nicht akzep­tiert worden, er wäre künst­le­risch implo­diert. Da offenbart das von Frau Lehren­krauss bei ihrer Enttar­nung ange­führte Pauschal­ar­gu­ment, sie habe eine »viel authen­ti­schere Realität« erschaffen, was oft für die Kraft der Fiktion bemüht wird, nicht nur Tumbheit, sondern ange­sichts des Themas auch Zynismus.

Aber nicht nur, dass die Regis­seurin das Sujet der Prosti­tu­tion völlig unre­flek­tiert für ihre Zwecke ausbeutet, sie tut dasselbe auch mit ihren Darstel­lern. Der Beitrag von »STRG_F« holt dazu mehrere State­ments der Betrof­fenen ein, die geglaubt haben, bei einem Spielfilm mitzu­wirken, der Großteil Laien. Frau Lehren­krauss nahm es also in Kauf, dass Menschen, die sich nicht wehren können, sich als »echte« Prosti­tu­ierte, Freier und Zuhälter darge­stellt sehen. Teil ihrer Vertu­schungs­stra­tegie war nahe­lie­gen­der­weise, den Cast über den weiteren Weg des Filmes im Unklaren zu lassen, sie etwa nicht zu den Scree­nings einzu­laden und auch sonst die Spuren zu ihnen zu verwi­schen. Darüber hinaus hat sie aktiv zur Vertu­schung ange­stiftet, wenn man der Editorin Irem Schwarz, die man als »Whist­le­b­lo­werin« bezeichnen könnte, glauben kann, was dann doch eine gewisse krimi­nelle Energie offenbart. Ich finde es im Übrigen ungemein mutig von Frau Schwarz, sich unver­pi­xelt vor die Kamera zu setzen, denn sie hat damit in einer Branche, wo es oft darum geht, den Job zu machen und nicht weiter negativ aufzu­fallen, nichts zu gewinnen. Jeder, der das für Denun­zia­tion hält, hat schon wieder vergessen, gegen welche Beton­wände Juan Moreno im Spiegel-Verlag hämmern, dabei die eigene Repu­ta­tion aufs Spiel setzen musste, bevor die Wahrheit ans Licht kam.

Man darf, man muss sich sogar ärgern, über das, war hier passiert ist. Man sollte Frau Lehren­krauss meiner Ansicht nach kein Forum mehr bieten, die Chance dafür hat sie lange verspielt. Statt­dessen sollte man die von ihr getäuschten Menschen ins Zentrum der Diskus­sion stellen – erst recht all die namen­losen Frauen, die sich in solchen »Love-Mobilen« tatsäch­lich verdingen müssen, und auf deren Rücken sie ihren künst­le­ri­schen »Versuch« ausge­tragen hat. Sie ist schuld daran, dass es in dieser Geschichte nur Verlierer gibt.

Den NDR in Person des zustän­digen Redak­teurs Timo Großpietsch in Sippen­haft zu nehmen, liegt nahe. Wir saßen aber nicht mit am Tisch. Der Redakteur muss der Filme­ma­cherin und ihrem Team vertraut haben, er hat ihnen sehr viel Zeit gegeben, sie machen lassen. Den Verdacht des Betrugs, der schnell auch auf andere Betei­ligte über­ge­griffen hätte, auszu­spre­chen, wäre ein gewal­tiger Schritt gewesen, der tatsäch­lich einen Moreno erfordert hätte. Ihm vorzu­werfen, er hätte anhand der Bilder etwas merken können, ja merken müssen, ist legitim, auch wenn selbst der Editorin, der das gesamte Rohma­te­rial vorlag, nur durch im Off gespro­chene Regie­an­wei­sungen ein Verdacht kam. Ich würde in diesem Zusam­men­hang gerne mal eine Stel­lung­nahme des Kame­ra­manns Christoph Rohr­scheidt hören, der der engste Kolla­bo­ra­teur der Regis­seurin gewesen sein muss. Was hat er für Anwei­sungen bekommen? War er in den Schwindel einge­weiht, oder gehört er selbst zu den vielen Über­töl­pelten?

Den Vorwurf der ästhe­ti­schen Blindheit, der dem Redakteur gemacht wird, muss man dann auch an alle möglichen Jurys und Auswahl­ko­mi­tees weiter­geben, die den Film einge­laden und ausge­zeichnet haben. Es ist schon klar, sie verlassen sich alle auf die Expertise des NDR und der anderen Geldgeber, die hinter einem solchen Projekt stehen und dafür bürgen. Dass es aber nicht eine einzige Person in diesem ganzen Betrieb zu geben scheint, die wirklich was von Film versteht, mal ihre eigenen Augen und Ohren (und das Ding dazwi­schen) benutzt, kritisch hinschaut und alleine aufgrund ihres ästhe­ti­schen Grund­ver­s­tänd­nisses erkennt, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuge­gangen sein kann, macht einen wirklich sprachlos. Wie die Relotius-Texte, auf Drama­turgie getrimmte, vor Kitsch triefende Ergüsse eines mittel­mäßigen Literaten, findet man in Lovemobil nur die Behaup­tung von Authen­ti­zität, teilweise dilet­tan­tisch herge­stellt, und Szenen, denen man ansieht und -hört, dass Spiel­an­wei­sungen gegeben wurden, dass die Menschen vor der Kamera impro­vi­sieren und stets ziel­ge­richtet auf einen Konflikt zusteuern. Was machen die Leute, die so etwas beur­teilen dürfen, da eigent­lich mit »unserem« Medium, welche reflek­tierte Seherfah­rung haben sie, was quali­fi­ziert sie für die profes­sio­nelle Beschäf­ti­gung damit überhaupt? Wie wenig Kompetenz muss ihnen inne­wohnen, wenn sie dermaßen auf Thema und Fassade herein­fallen?

Es läuft struk­tu­rell was falsch im deutschen Film, da hat Rüdiger Suchsland mehr als recht, und das ist der eigent­liche Skandal. Es ist viel zu wenig Geld für kleine, besondere Projekte da, und es sitzen auch viel zu wenig Leute mit einem genuin filmi­schen Vers­tändnis in entschei­denden Posi­tionen. Das liegt schon an der Schul­aus­bil­dung, wo Film gegen Literatur und bildende Kunst abstinkt. Film wird immer nur dann einge­setzt, wenn er als »die Verfil­mung« dem durch­ge­ar­bei­teten Buch entge­gen­ge­stellt wird – oder wenn es darum geht, eine Vertre­tungs­stunde zu füllen. Es ist nicht groß genug einzu­schätzen, wie nach­haltig dieses schwache Fundament den filmi­schen Diskurs in Deutsch­land prägt. Über das Volumen der Film­för­de­rung im Vergleich zu anderen Kunst­formen brauchen wir gar nicht erst sprechen. Film gilt in Deutsch­land struk­tu­rell immer noch als kommer­zi­elle Gaukelei, der durch den Einfluss der Ober­hau­sener notdürftig ein zerklüf­teter staat­li­cher Klin­gel­beutel angepappt wurde.

Wenn wir nun aber schon einmal über Ästhetik sprechen, vermisse ich den bei diesem Fall­bei­spiel für mich wich­tigsten Aspekt, nämlich dem Sinn und Unsinn von Dreh­büchern im Doku­men­tar­film. Nach einer gängigen Defi­ni­tion zeichnet den Doku­men­tar­film gegenüber einer Reportage die Tatsache aus, dass er narrativ sei. Es steht eine effektive Drama­turgie also immer über dem puren jour­na­lis­ti­schen Ethos, und genau durch diese Soll­bruch­stelle konnte Frau Lehren­krauss ihre Vorge­hens­weise legi­ti­mieren. Nur weil ihr dieses Prinzip im Film­stu­dium in den Kopf geprügelt wurde, hat sie das als Leitfaden für ihren Film genommen. Wie oben ange­deutet: Im Zentrum ihres Films steht nicht etwa ein Gefühl oder das ureigene Interesse, erst recht nicht ein poli­ti­scher oder gar ästhe­ti­scher Ansatz, sondern »Protas«, die in einem exis­ten­zi­ellen Konflikt stehen, perso­ni­fi­ziert durch einen oder mehrere Anta­go­nisten, aufgelöst in einer szeni­schen Abfolge mit Anfang, Mitte, Ende, Aris­to­teles lässt grüßen. All dies garniert mit einer gesunden Prise emotio­naler Reflexe wie Humor, Angst und Ekel. Dieser unterste ästhe­ti­sche Nenner war sowohl Leit­prinzip als auch Fallback der Regis­seurin.

Es sei nochmal fest­ge­halten: Selbst wenn ich viele Probleme mit diesem Spielfeld und auch einigen Mitspie­lern sehe, gibt mir das immer noch keinen Freibrief dafür, so vehement gegen die Spiel­re­geln zu verstoßen, wie es Frau Lehren­krauss getan hat. Es kann auch kein Autor woanders abschreiben und es dann einen »Remix« nennen wie Helene Hegemann. Künstler sind eben nicht nur Gaukler, sondern haben eine gesell­schaft­liche Ausnah­me­stel­lung und somit auch Verant­wor­tung, die nicht geschenkt ist, sondern über Jahr­hun­derte errungen wurde. Dies gesagt, bedarf es in Deutsch­land dringend einer Diskus­sion darüber, ob das Medium Film – insbe­son­dere der Doku­men­tar­film – sich in erster Linie über ein »Thema« und/oder plumpe Drama­turgie auszeichnen muss, um auch von Komitees, Förderern, Juroren verstanden zu werden, oder das längst überholte Para­digmen sind. Und dann muss endlich gehandelt werden. Die Struk­turen sind schon viel zu lange so marode und von Inkom­pe­tenz durch­zogen, wie es auch durch diesen Fall wieder offen zu Tage tritt.

Mehr Demut von allen Betei­ligten wäre ange­bracht – vor allem mehr Demut gegenüber dem Medium Film.