14.01.2021

Mekkin Histri

Small Axe
Widerstand wird belohnt – unter anderem mit einem Happy End wie in Teil 2 von Small Axe, in Lovers Rock
(Foto: Amazon Prime Video)

Die beste Serie des Jahres 2020? Ist Steve McQueens Serien-Anthologie Small Axe. Sie schreibt nicht nur doppelbödig »Geschichte«, sondern ist auch zum Heulen schön und traurig, irritiert und überrascht, macht erst wütend und hilflos und am Ende restlos glücklich

Von Axel Timo Purr

Inglan is a bitch
dere’s no escapin it
Inglan is a bitch
is whey wi a goh dhu ‚bout it
?
Lynton Kwesi Johnson

Es war ein gutes Seri­en­jahr, ein Jahr der unge­wöhn­li­chen, über­ra­schenden Höhe­punkte, ein Jahr, das einem das Gefühl gab, dass das Internet wirklich uner­schöpflich und einfach nicht leer­zu­gu­cken ist. Sei es die als Romcom getarnte hoch­po­li­ti­sche, korea­ni­sche Serie Crash Landing on You, sei es das panafri­ka­ni­sche Wunder Queen Sono oder die den Nahost-Konflikt in neue Dimen­sionen über­füh­rende dritte Staffel von Fauda, das univer­selle Gesamt­paket von The Queen’s Gambit oder der rohe Diamant Liebe und Anarchie.

Eigent­lich kaum zu glauben, dass diese Vielfalt noch überboten werden könnte. Doch als Ende 2020 an fünf Sonntagen auf BBC One die Serien-Antho­logie Small Axe ausge­strahlt wurde und gleich darauf ohne Werbung, Prime-Bonus und Unter­titel weltweit auf Amazons Streaming-Dienst versenkt wurde, war klar, dass es sehr wohl noch sehr viel besser geht. Was im Grunde kaum über­rascht, wenn man weiß, dass der britische Regisseur Steve McQueen für Drehbuch, Produk­tion und Regie verant­wort­lich zeichnet. Steve McQueen, wir erinnern uns, hat nicht nur vor zwei Jahren mit seinem unge­wöhn­li­chen Heist-Thriller Widows kongenial Iden­ti­täten und die Suche danach hinter­fragt, sondern auch in seinem Oscar-prämierten 12 Years a Slave (2013), in Shame (2011) und Hunger (2008) private, poli­ti­sche und nicht zuletzt »schwarze« und »weibliche« Iden­ti­täts­bil­dung in all ihren vorder- und abgrün­digen Nuancen darge­stellt.

In Small Axe geht McQueen noch einen Schritt weiter. Oder besser: wirken plötzlich all seine bishe­rigen Filme wie Handü­bungen, um endlich die eigene, ganz persön­liche Iden­ti­täts­bil­dung in den Griff zu bekommen und erzählen zu können, die Geschichte und Lebens­li­nien afro-kari­bi­scher Einwan­derer in London zwischen 1968 und 1985, die auch Teil von McQueens eigener Geschichte ist, der 1969 als Sohn afro-kari­bi­scher Eltern in London zur Welt kam.

McQueen wählt für seine fünf Filme fünf Perspek­tiven, die unter­schied­li­cher nicht sein könnten, die durch keine weiter­er­zählte Geschichte verbunden werden, sondern durch das titel­ge­bende jamai­ka­ni­sche Sprich­wort und dessen Verwen­dung in Bob Marleys Song Small Axe verschmolzen sind: »If you are the big, big tree, Let me tell you that: we are the small axe, Ready to cut you down.« Also Wider­stand. Wider­stand in allen Facetten lernen und prak­ti­zieren. Sich im Wider­stand, und wenn er auch noch so klein ist, gegen eine Übermacht soli­da­ri­sieren und dabei die eigene, verlorene Identität finden. Das erinnert in Ansätzen an Julia von Heinz' Und morgen die ganze Welt, und ist doch ganz anders.

Denn McQueen lässt einen multi­per­spek­ti­vi­schen Ansatz zu, der allein schon in der Abfolge und als Inhalts­skizze verblüfft: Der erste und längste Film »Mangrove« erzählt über den Mikro­kosmos eines Restau­rants vom Kampf der afro-kari­bi­schen Einwan­derer gegen Poli­zei­ge­walt und -willkür; »Lovers Rock«, der einzige Film, der keine histo­ri­schen Ereig­nisse thema­ti­siert, begleitet eine junge Frau beim heim­li­chen Besuch einer Party; »Alex Wheatle« ist das Porträt des gleich­na­migen, realen Schrift­stel­lers als junger Mann, »Red, White and Blue« stellt einen afro-kari­bi­schen Poli­zei­an­wärter in den Mittel­punkt und in »Education« wird das rassis­ti­sche Schul­system Englands hinter­fragt.

Aber so wie die inhalt­lich so diversen Mikro­kosmen, über die McQueen eine ganze Gesell­schaft erklärt, so divers sind auch die musi­ka­li­schen und filmäs­the­ti­schen Blick­winkel, die in Small Axe aufge­boten werden, um so etwas wie histo­ri­sche Authen­ti­zität zu erzeugen. So besitzt jeder Film seine eigene musi­ka­li­sche Identität, erzählt »Lovers Rock« nicht nur einen Party-Abend, sondern auch die Geschichte eines ganz eigenen Reggae-Stils, eben Lovers-Rock-Reggae, wird in »Alex Wheatle« das Subgenre Roots-Reggae einge­bunden und in »Red, White and Blue« tauchen plötzlich vermehrt Soul-Elemente auf. Zu verdanken ist dieses musi­ka­li­sche Erwe­ckungs­er­lebnis dem Music Super­visor von Small Axe, Ed Bailie, der den Musiker Dennis Bovell mit ins Boot holte, der als in Barbados geborener Gitarrist, Bassist und Plat­ten­pro­du­zent für seine jahr­zehn­te­lange Zusam­men­ar­beit mit dem jamai­ka­ni­schen Dub-Poeten, Musiker und poli­ti­schen Akti­visten Linton Kwesi Johnson bekannt ist.

Diese musi­ka­li­sche Iden­ti­täts­bil­dung der Filmreihe wird fast genauso akribisch auf die Filmäs­thetik über­tragen, hat auch hier McQueen über die Kolla­bo­ra­tion mit einem großen Talent – in diesem Fall mit dem Auto­di­dakten Shabier Kirchner hinter der Kamera – großes geleistet, ist »Mangrove« etwa in einem wunder­voll fein­kör­nigen 35mm gedreht (das sogar auf 6.5 Inch kleinen Bild­schirmen brilliert), befand sich die Kamera für die inten­siven Party­szenen von »Lovers Rock« in einer an Kirchners Rücken befes­tigten Aufhän­gung über seinem Kopf, was ihm im Bein­be­reich die nötige Bewe­gungs­frei­heit während der Party­szenen und den Schau­spie­lern den unbedingt wichtigen Bewe­gungs­ra­dius für eksta­ti­sche und freie Moves ermö­g­lichte. »Red, White and Blue« gibt sich dann in fast elegi­schen, multi­per­spek­tiven Porträt-Kaskaden dem 35mm-Format hin, die dann radikal mit den 16mm von »Education« gebrochen werden, die das BBC-Schul­fern­seh­format der 1970er Jahre zitieren.

Neben der Musik und Filmäs­thetik ist die Sprache von Small Axe der viel­leicht wich­tigste Faktor, der von McQueen ins Spiel gebracht wird, um die afro-kari­bi­sche Iden­ti­täts­bil­dung in London zu charak­te­ri­sieren. Wie hier mit allen Formen des Jamaican Patois gespielt wird, und den »britisch sozia­li­sierten« Über­gängen zum Standard-Englisch, wie der opulente Wort­schatz des Patois mit seinen abschließenden, schlan­genähn­li­chen plosiven Zisch­lauten präsen­tiert wird, ist schon sprach­lich ein Kunstwerk, das eine ganz eigene »Migra­ti­ons­ge­schichte« erzählt, die umso aufre­gender ist, als es neben das in der Londoner Polizei zu dieser Zeit domi­nie­rende Cockney-Englisch gestellt wird und damit durch wenige Dialoge Bildungs­ho­ri­zont­welten aufein­an­der­prallen, die unter­schied­li­cher nicht sein könnten und die nicht einmal durch das Hoch-Englisch an den Gerichten wirklich in ihrer Konfron­ta­tion befriedet werden können. Damit erzählen auch die gespro­chenen Sprachen in Small Axe etwas von den Möglich­keiten und der Tragik des Wider­stands, in einer Inten­sität und Dichte, die so bislang noch nicht zu sehen war. Umso unver­ständ­li­cher ist Amazons nach­läs­siges Kura­tieren von Small Axe: sind die ersten vier Filme nicht einmal in Standard-Englisch und der fünfte Teil dann völlig falsch unter­ti­telt.

Aber auch ohne die fehlenden Unter­titel und Amazons schwer nach­voll­zieh­bare Politik, diese Filmreihe eher zu »versenken« statt zu »verkaufen«, bleibt zu hoffen, dass Small Axe das große Publikum findet, das McQueen über die Ausstrah­lung auf BBC One immerhin für das englische Publikum erreicht hat, das fünf Filme an fünf Sonntagen hat sehen können, die sich wie eine Penta­choron-Gemäl­de­gruppe über das kleine Einzelne zu einem großen Ganzen fügen, die aber dennoch, jeder Film für sich, ganz eigene und ganz großar­tige Geschichten erzählen.

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Teil 1 – Mangrove (127 Minuten)

In »Mangrove« ist das die Geschichte des in Trinidad geborenen Frank Crichlow, der gerade im Londoner Stadtteil Notting Hill ein Restau­rant, das »Mangrove«, eröffnet hat, aber schon schnell durch will­kür­liche Polizei-Razzien zur Zusam­men­ar­beit mit poli­ti­schen Black-Panther-Akti­visten gedrängt wird, obwohl er eigent­lich ein Restau­rant und keinen »Battle Room« führen wollte

McQueen findet für diese persön­liche, poli­ti­sche Erweckung aufre­gende, unkon­ven­tio­nelle Bilder. Nicht nur über die wachsende, gerade im poli­ti­schen Kern zerris­sene »Community«, das Essen und die Gespräche, sondern auch über eine fast schon kunst­volle, poli­ti­sche Poesie. Sei es das nach einer brutalen Razzia in den Raum geschleu­derte und in langsamen Spiralen auf dem Boden rotie­rende Abtropf­sieb aus der Küche, das von Shabier Kirchner in einem langsam erstar­renden Still­leben fixiert wird, oder die archi­tek­to­ni­sche Bild­mon­tage des wach­senden, immer moderner werdenden London, die von Reggae-Beats unterlegt ist und die so wie das Abtropf­sieb für Übergänge in eine Moderne steht, die nicht mehr aufzu­halten ist, so wie das legendäre Gerichts­drama gegen die Mangrove Nine, das McQueen so effizient wie spannend zu einem Iden­ti­täts­pro­zess formt wie er das bereits für Widows und die darin betei­ligten »Witwen« getan hat.

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Teil 2 – Lovers Rock (70 Minuten)

Auch »Lovers Rock« ist eine Insel, ist eine Mikrowelt, über die die Makro­ebene, die ganze Gesell­schaft erklärt wird. Aber »Lovers Rock« ist auch das Musical, das McQueen nach eigenen Aussagen schon immer machen wollte. Es ist der einzige Film der Reihe, der nicht auf histo­ri­schen Ereig­nissen basiert, der aber dennoch Teil von McQueens persön­li­cher Geschichte ist. McQueen erinnert sich hier an seine Tante Molly als junges Mädchen, die damals nicht zu einer der im Zentrum des Films stehenden Partys gehen durfte, die allein schon deshalb statt­fanden, weil Afro-Kariben in den offi­zi­ellen Diskos nicht gern gesehen wurden und Anfein­dungen ausge­setzt waren.

»Lovers Rock« spielt in einer einzigen Nacht im Jahr 1980 und erzählt nicht nur den heim­li­chen Besuch seiner Tante einer Lovers Rock-Party, sondern erzählt über die auf der Party gespielten Songs auch von einer Spielart des Reggae, des Lovers Rock, die sich ab Mitte der 1970er Jahre von Groß­bri­tan­nien ausgehend entwi­ckelte und in der Elemente von Soul und R&B mit Reggae-Groves verwoben und roman­ti­sche Themen besungen wurden, die sich von den politisch-sozi­al­kri­ti­schen oder spiri­tu­ellen Themen der Rastafari-Bewegung abgrenzten.

Gleich­zeitig machen McQueen und sein Team über die inten­siven Tanz-Porträts auf der Party deutlich, dass selbst ein Lovers-Rock-Klassiker wie Janet Jays Silly Games nicht nur ein Liebes­lied ist, sondern auch politisch inter­pre­tiert werden kann, es einfach alle satthaben, diese »silly games« nicht nur in der Liebe zu spielen – über eine Fast­ver­ge­wal­ti­gung ernüch­ternd illus­triert – sondern auch in der gegen­wär­tigen Politik endlich etwas passieren muss.

Und was passieren muss, passieren kann, zeigt dann die Abschluss­szene der Party (bevor Tante Molly wieder ins Fenster ihres elter­li­chen Hauses steigt), das wirklich fulmi­nante Kunta Kinte von The Revo­lu­tio­na­ries, das ohne Text zur Ekstase führt, einer auch gefähr­li­chen Ekstase, einer, die nicht nur zu einem völlig den Kopf verlie­renden Tanzen, sondern auch zu so etwas wie das von Ngũgĩ wa Thiong’o prokla­mierte Deco­lo­ni­sing the Mind führen kann. Ein großer Moment, der mit einer Kamera in Szene gesetzt, die Explosion und Implosion zugleich ist, die ganz tran­szen­den­tale Musik ist, aber dann doch ein Auge ist, das alles sieht, aber auch alles verzeiht.

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Teil 3 – Red, White and Blue (80 Minuten)

In »Red, White and Blue«, der thema­tisch und stilis­tisch nicht weiter von »Lovers Rock« entfernt sein könnte, spielt ein großar­tiger John Boyega den histo­ri­schen Poli­zisten Leroy Logan, der für die London Metro­po­litan Police tätig war und die von Rassismen geprägte Einheit von innen heraus verändern wollte, nachdem er gesehen hatte, wie sein Vater von zwei Poli­zisten will­kür­lich zusam­men­ge­schlagen worden war. McQueen verschmilzt Logans Biografie jedoch mit der seines Bruders, der nach seinem Univer­si­täts­ab­schluss ebenfalls zur Metro­po­litan Police ging, um etwas zu verändern, den Poli­zei­dienst jedoch zwei Jahre später frus­triert wieder quit­tierte.

McQueen führt diese Lebens­li­ni­en­par­tikel zu einem unheim­li­chen, kaum zu ertra­genden Ganzen zusammen. Denn er zeigt nicht nur die Rassismen, die auf die kari­bi­sche Community einwirken, sondern porträ­tiert eine fast schon tragische Über­as­si­mi­lie­rung der Gemein­schaft, die über Wohn­zim­mer­ein­rich­tungen bis zur gespielten Musik und einer puri­ta­ni­schen, sehr briti­schen Sexu­al­moral versucht, verzwei­felt Teil der engli­schen Gesell­schaft zu sein und doch gleich­zeitig eine gesunde Distanz zu wahren. Aber mit dem Ausscheren der eigenen Kinder aus diesem Konzept kaum umgehen kann, so wie Logans Vater, der sich zwar versucht anzu­passen, in seinen Abgren­zungs­be­stre­bungen jedoch radikaler als der eigene Sohn ist und ihm lange nicht verzeihen kann, »über­zu­laufen« und Polizist werden zu wollen.

Wie es Logans Vater dann doch gelingt, auf den Sohn zuzugehen, wie er ihn bis zur Ausbil­dungs­aka­demie begleitet und wie die Kamera aus dem Auto heraus die beiden Männer umfasst, in einer fast so distan­ziert wie intimen Einstel­lung, und einem Song, der diese Szene noch einmal inten­si­viert, ist so über­ra­schend wie großartig und schön, ist ein Bild, das wie ein Kunstwerk Geschichten neben der Geschichte erzählt. So wie auch die poetische Abschluss­szene des Films, nachdem Logan nach bittersten Erfah­rungen von poli­zei­in­ternem, insti­tu­tio­nellem Rassismus ein Jugend­zen­trum besucht und die Autos klauenden Jugend­li­chen dort Jugend­liche sein lässt und statt­dessen mit seinen Blicken einem Vogel­schwarm über einem Wald folgt, immer wieder, und immer länger.

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Teil 4 – Alex Wheatle (66 Minuten)

Insti­tu­tio­nellem Rassismus ist auch der spätere Schrift­steller Alex Wheatle in einem Kinder­heim ausge­setzt. Fehlende Impuls­kon­trolle wird mit Zwangs­jacke und einsamer Verban­nung in einer leeren Turnhalle bestraft. Auch hier nimmt sich die Kamera Zeit, um die Zurück­wei­sung von Person und Hautfarbe vor allem gegen das Leben zu posi­tio­nieren, was dann folgt, ein Leben in Brixton, ein Leben für die Musik, und die Literatur, die aller­dings erst über einen Gefäng­nis­auf­ent­halt und einen Rastafari-Zellen­ge­nossen zu Wheatle kommt, der ihm klar macht, dass Bildung die einzige Chance ist, die er in diesem Leben hat und zwar eine Bildung, die sich auch der Wurzeln afro-kari­bi­scher Kultur annimmt und Bücher wie C. L. R. James The Black Jacobins auf den Kanon setzt.

Doch neben kurzen Buch­zi­taten porträ­tiert McQueen afro-kari­bi­sche Kultur in diesem Teil vor allem über Musik und gespro­chene Sprache, und das mit einer Lust und »Fabu­lier­freude«, die sich nicht nur auf sprach­liche Initia­ti­ons­riten oder audio­vi­su­elles »Auskosten« von Blacker Dread’s legen­därem Reggae-Plat­ten­laden beschränken, sondern auch eine Foto­col­lage über das New Cross Fire von 1981 inte­griert, die mit einer gespro­chenen Version von Lynton Kwesi Johnsons New Crass Massahkah unterlegt ist und so wie es hier präsen­tiert ist, eine große Video­in­stal­la­tion in jedem renom­mierten Museum sein könnte, weil sie auf ambi­va­lente Weise deutlich macht, wie sehr diese Tragödie letzt­end­lich zur Iden­ti­täts­bil­dung der so zerris­senen afro-kari­bi­schen Gemein­schaft beigetragen hat.

Und einmal mehr deutlich wird, dass wir in Small Axe einem Prozess selbst­er­mäch­tigter Geschichts­schrei­bung beiwohnen, um Gegenwart und Zukunft in einem zu retten, ganz so wie es Alex »Rastafari-Zellen­ge­nosse Simeon erklärt und einfor­dert: ›You see if you don’t know your past you won’t know your future...‹

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Teil 5 – Education (63 Minuten)

Wie schwer es aller­dings ist, diesen Anspruch nach selbst­er­mäch­tigter Geschichts­schrei­bung in einem ganz normalen Arbeits­alltag und ohne einen gebil­deten Zellen­ge­nossen überhaupt nur in Ansätzen zu reali­sieren, davon erzählt der kürzeste und emotio­nalste Film dieser Antho­logie. Auch hier hat McQueen auto­bio­gra­fi­sche Elemente verar­beitet, denn so wie McQueen leidet auch der 12-jährige Kingsley an einer Lese-Recht­schreib­schwäche, die ihm zusammen mit einem Intel­li­genz­test zum Verhängnis wird – und er kurzum auf eine Schule geschickt wird, die sich seiner Probleme besser annehmen kann.

Kingsley reali­siert zwar schnell, dass es sich hier eher um eine Abschie­bung handelt, aber seine von der Arbeit gestressten Eltern wollen nichts davon wissen. Erst über eine pädago­gi­sche Eigen­in­itia­tive des Black Education Movement ist Kingsleys Mutter bereit zu verstehen, dass nicht nur der Intel­li­genz­test rassis­tisch konno­tiert war, sondern es sich bei Kingsleys Schule um nichts anderes als eine soge­nannte Educa­tional Subnormal School handelt, eine Schulform, die alles andere als reform­pä­d­ago­gisch arbeitet, sondern Kinder mit migran­ti­schem Hinter­grund auf ein einfaches Leben im Nied­rig­lohn­be­reich vorbe­reiten soll und von denen man nur dann eine Chance hatte wieder zu wechseln, wenn man sich über einen schrift­li­chen Einspruch gegen die Umschu­lung an die damalige Bildungs­mi­nis­terin Margaret Thatcher wandte.

Der Moment, in dem Kingsleys Mutter begreift, was mit Kingsley passiert und ihm zum ersten Mal bei seinen Vorle­se­ver­su­chen zuhört und dabei versteht, dass nur Eigen­in­itia­tive und Wider­stand ihren Sohn und ihre Familie retten können, ist dicht und »wortlos« und voll geballter, unter­drückter Emotio­na­lität insze­niert, die die kommende Erweckung umso erlö­sender erscheinen lässt.

McQueen zeigt hier, was Wider­stand auf kleinster Ebene bedeutet, beob­achtet Kingsley in der Eigen­in­itia­tive »Sams­tags­schule«, in der neben fakti­schem vor allem Selbst­be­wusst­sein und Wider­stand gegen ein igno­rantes Bildungs­system trainiert wird und im Fall der afro-kari­bi­schen Community auch die eigene Geschichte erläutert wird, die wir bereits in »Alex Wheatle« ange­deutet bekommen hatten.

Indem McQueen in einer Bade­wan­nen­szene mit Kingsley ganz offen­sicht­lich eine fast iden­ti­sche Szene aus Barry Jenkins' Moonlight zitiert, wird aller­dings auch deutlich, dass McQueen über das England der 1960er, 1970er und 1980er hinaus­weisen will, dass schwarze Selbst­er­mäch­ti­gung und Iden­ti­täts­bil­dung, Wider­stand hier wir dort, ja eigent­lich überall, notwendig ist, um Dinge zu ändern. Immer wieder. Und dann noch einmal. Ein Wider­stand­geist, der so stark ist, dass McQueen auch gleich  die klas­si­sche Dicho­tomie zwischen Kino und Fernsehen, zwischen Film und Serie sprengt.

Zum Abschluss zeigt McQueen in einer der viel­leicht berüh­rendsten Szenen dieser Filmreihe, dass dieser Wider­stand gegenüber alten gesell­schaft­li­chen Ritualen und neuen Ritua­li­sie­rungen des Lebens aber auch belohnt wird, und sei die Axt, mit der er geleistet wird, auch noch so klein. Dass Belohnung nicht immer gleich die ganze Geschichte sein muss, so wie es Lynton Kwesi Johnson in Mekkin Histri (Making History) besang – It is noh mistri / Wi mekkin histri / It is noh mistri / Wi winnin victri – sondern einfach auch »nur« bedeuten kann, dass das eigene Kind plötzlich lesen kann. Ein Moment, der schöner, präziser und subtiler nicht hätte sein können und McQueens Small Axe nicht besser hätte beschließen können.

Small Axe ist auf Amazon Prime und Google Play abrufbar.