05.10.2020

Trigger-Warnung vor Stroboskop-Filmen und Denk-Aerosolen

N · P
Endzeitstimmung ist vielleicht auch ein bisschen romantisch – der Eröffnungsfilm N · P der flämischen Fotografin Lisa Spilliaert
(Foto: Escautville)

Das 15. UNDERDOX Filmfestival startet in eine analoge und physische Ausgabe. Das ist immer wieder ein Tanz auf dem Vulkan, aber auch Konzept der Festivalmacher

Von Dunja Bialas

Zum 15. Mal UNDERDOX … wir hatten uns unser Jubiläums­jahr eigent­lich ganz anders vorge­stellt. Zuerst mussten wir die für den 18. Juni 2020 geplante UNDERDOX Halbzeit wegen Corona absagen. Dann brach die Digi­tal­welle über uns herein. Streamen war plötzlich State of the Art. Was aber bringt es – für die Filme wie für die Zuschauer – einen Expe­ri­men­tal­film im Cine­ma­scope-Format digital auszu­strahlen? Wir stellten uns die Leute in ihren Wohn­zim­mern vor, wie sie auf ihren Laptop oder im besten Fall über­großen TV-Bild­schirm starren, während Stro­bo­skop-Film­schnipsel und Found Footage auf sie einpras­seln. Und auch wenn wir unseren Filme bewusst­sei­ner­wei­ternde Wirkung zuschreiben, sie als Eye Opener bewerben und das Festival insgesamt als eines, »das die Augen öffnet«, hurra! – da müsste man schon vorab etwas einge­nommen haben.

Die Wider­stän­dig­keit des Expe­ri­men­tal­films und noch mehr die Unbe­zähm­bar­keit des analogen Film­ma­te­rial durch das Digitale waren für uns Grund genug, alles auf die physische Karte zu setzen und ein Festival zu planen, das im Kino mit realen Gästen statt­findet. In den letzten Wochen wurden wir immer wieder gefragt, warum wir das machen. Alles sei doch unwägbar, dann nur die einge­schränkten Sitz­plätze im Kino, die Hygie­nemaß­nahmen, die Angst der Leute, die deshalb gar nicht ins Kino gehen zur Zeit. Streamen wäre doch, Bewusst­seins­er­wei­te­rung hin oder her, die bessere Alter­na­tive. Außerdem sollten wir uns das mit den Gästen doch wirklich noch mal überlegen, zumal jetzt alle aus den Risi­ko­ge­bieten anreisen: aus Spanien, aus Belgien, aus Berlin.

Unsere Antwort darauf heißt schlicht und ergrei­fend: Wir machen, weil wir es können. Die Corona-Hygie­nemaß­nahmen sind natürlich ein restrik­tiver Eingriff in einen Festi­val­be­trieb. Ande­rer­seits aber sind sie auch eine Ermö­g­li­chungs­struktur, die uns erlaubt, im gegebenen Rahmen eben all dies zu tun: Gäste einzu­laden, Filme im Kino zu zeigen. Ist man nicht söderiger als Söder, päpst­li­cher als der Papst, wenn man strengere Maßstäbe als die Altvor­deren anlegt, die mit »Umsicht und Vorsicht« (Söder) die Maßnahmen beschlossen haben, um ein kultu­relles Leben möglich zu machen?

Kultur findet nicht im World Wide Wohn­zimmer statt, Kultur ist mehr als Filme zeigen (oder streamen), davon sind wir überzeugt.

Die große Leinwand, die Konzen­tra­tion auf die Filme im Dunkeln, schulden wir außerdem unseren nicht­nar­ra­tiven Film­kunst­werken. Sie haben sich auf das »Expe­ri­men­tier­feld der Wirk­lich­keit« begeben, so haben wir es einmal formu­liert, als Grenz­gänger zwischen dem Doku­mentar-, Expe­ri­mental-, Spiel- und dem Kunstfilm. Keine Schublade auszu­füllen zeichnet sie aus, ein Phänomen, das 2006, als Bernd Brehmer vom Werk­statt­kino-Kollektiv zusammen mit mir, artechock-Film­kri­ti­kerin, UNDERDOX gründeten, noch ganz neu war. Mitt­ler­weile gehört es fast schon zum guten Ton, den Reiz des Verbo­tenen – gegen die Formate zu filmen, gegen die Klas­si­fi­zie­rung zu handeln – genuss­voll auszu­loten.

Unserer jetzt schon langen Festival-Tradition treu bleibend, zeigen wir dieses Jahr – nach den großen Avant­garde-Filme­ma­chern Peter Kubelka und Michael Snow, mit denen wir seit 2013 diese Reihe verfolgen – Filme der eminenten Expe­ri­men­tal­fil­me­ma­cher Peter Tscher­kassky und Eve Heller in einer Lecture, in der sie ihre Arbeits­weise und ihr Werk vorstellen. »Eye Opener« nennen wir es, wenn Tscher­kasskys mächtige Film­ex­pe­ri­mente auf 35mm im Cine­maS­cope-Format die ganze Leinwand erfüllen und mit der gewal­tigen Tonspur ein zwin­gendes Immer­si­ons­er­lebnis erwirken, bis die Subwoofer in die Knie gehen. Eve Heller ist Wegbe­glei­terin des ameri­ka­ni­schen Avant­gar­disten Phil Solomon, zu dem sie ebenfalls eine Lecture halten wird. Sie ist Tochter einer Münch­nerin, die unter den Natio­nal­so­zia­listen in die USA emigriert ist, und zeigt ihr Werk zum ersten Mal in der Landes­haupt­stadt. Die ganze Familie wird da sein.

Deutsche Geschichte steht im dreißigsten Jahr nach der Wieder­ver­ei­ni­gung auf der Tages­ord­nung aller möglichen Gedenk- und Fest­ver­an­stal­tungen. Es kann durchaus als ein Beitrag in diese Richtung verstanden sein, wenn UNDERDOX Ute Adamc­ziew­skis preis­ge­kröntes Filmessay Zustand und Gelände zeigt, in welchem sie der geschichts­ver­ges­senen Weiter­nut­zung und Umwidmung von soge­nannten »wilden Konzen­tra­ti­ons­la­gern«, die im Osten Deutsch­lands früh in den 1930er Jahren entstanden, nachgeht und zumindest eine Ahnung gibt, weshalb der Rechts­ex­tre­mismus wieder zu einem massiven Szenario werden konnte. Auch Brot, Rache? von Stefan Hayn ist eine besondere Geschichts­ver­ar­bei­tung. Seine (deutschen) Schau­spieler lesen die Texte des Wider­stands­kämp­fers Robert Antelme, im fran­zö­si­schen Original. Sein Buch »Das Menschen­ge­schlecht« (1947) gilt als eines der ersten Zeugnisse, die über die Verbre­chen der NS-Zeit abgelegt wurden.

Neben diesen beiden histo­ri­schen Filmen befassen sich die UNDERDOX-Filme auch mit hoch­ak­tu­ellen Themen­fel­dern. Globa­li­sie­rung ist immer auch lokal spürbar, so zeigt Piqueuses, der neue Film von Kate Tessa Lee und Tom Schön. Auf Rodrigues haben sie die Oktopus-Fische­rinnen besucht. Sie sind faktisch arbeitslos geworden, der Klima­wandel und die verän­derten, modernen Lebens­weisen haben sie gewis­ser­maßen aussor­tiert. Wunder­schön foto­gra­fiert von Kate Tessa Lee, die selbst aus Mauritius stammt.

Viel­leicht sind wir ja ein wenig senti­mental, was das Fort­schreiten der Zeit anbelangt. Wie VHYes von Jack Henry Robbins (Sohn von Susan Sarandon und Tim Robbins), der wiederum äußerst vergnü­g­lich 80er-Jahre-TV-Sendungen kompi­liert, Home­shop­ping-Clips, Soft-Pornos, Malan­lei­tungen, eben alles Nieder­schmet­ternde, was im Zeitalter der Schul­ter­polster und Aerobic-Moves in die Wohn­zimmer gespült wurde und heute kult­ver­dächtig ist.

Auch unser Eröff­nungs­film, N · P, der flämi­schen Foto­grafin Lisa Spil­liaert, hat eine heiter-melan­cho­li­sche Stimmung, die uns gut in dieses Jahr zu passen scheint. Ihr Film ist stumm, d.h. die Dialoge werden durch Unter­titel einge­blendet, während die Figuren dann ohne Ton reden. Ansonsten hört man viel: die Origi­nal­geräu­sche, die Musik von Asuna, Wolf Eyes und Stacks. Ein melan­cho­li­sches Entrück­sein geht von dem Film aus, außerdem die Unüber­setz­bar­keit von Stim­mungen in Sprache. Ein träu­me­ri­sches Unter­fangen.

Am Ende des Films sitzen die Figuren am Lager­feuer zusammen. Es ist ein roman­ti­sches Bild, nachdem sie alle Möglich­keiten des Todes ausge­lotet haben. Auch das passt gut in dieses Jahr: Irgendwo verspüren wir diese Endzeit­stim­mung, die Apoka­lypse, die »Natur­ka­ta­strophe in Zeitlupe« (Christian Drosten). Wie bei den Melan­cho­li­kern findet sich Trost nur in der Philo­so­phie.

Und genau wie die Protag­nisten von N · P wollen wir UNDERDOX-Macher wieder mit Menschen zusam­men­sitzen und gemeinsam Filme sehen. Denn das ist unserer Auffas­sung nach Kultur: die kultische Zusam­men­kunft der Menschen für ein beson­deres ästhe­ti­sches Erlebnis. Das klingt zwar nicht besonders modern. Aber eine Trigger-Warnung ist dennoch ange­bracht: Denk-Aerosole sind besonders infektiös.