30.04.2020

Wo sind denn die Systemsprenger?

Systemsprenger
Rotziger Angriff auf die Fördersysteme
(Foto: Nora Fingscheidt / kineo Filmproduktion, Weydemann Bros. Oma Inge Film, ZDF / Das Kleine Fernsehspiel)

Sieg des mittleren Realismus: Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt gewinnt nahezu alle Preise – ansonsten fehlten die Frauen, die Frauenfiguren und weitgehend auch aufregende Kunst

Von Rüdiger Suchsland

»Aufgabe von Kunst ist es heute, Chaos in die Ordnung zu bringen.«
Adorno

Man muss nicht immer was lernen. Man kann aber.

Was lernen wir denn aus einem Film wie System­sprenger, was nehmen wir mit außer einer Problem­film-Version von Pippi Langstrumpf, einem krass krakee­lenden Kind, das kaum einer von uns auch nur fünf Minuten im Home-Office ertragen könnte, das wir aber – ich auch, ja! – super finden, wenn es mit Boller­wagen um sich wirft, Fens­ter­scheiben zerbersten lässt, wenn es schreit, bis der Arzt kommt, andere Kinder blau schlägt, wenn es uns auf der Leinwand nervt und dabei zugleich amüsiert – denn es ist ja nur ein Film –, dann rührt, dann irgendwie doch wieder eher nervt, dann in Angst versetzt? Und dann doch rauslässt mit dem Gefühl: Saustark, traurig auch, aber ist ja nur 'n Film.

Ein starker Film, den man nicht planen kann. Dem auch die deutsche Förderung nicht vertraut hat, nur Mindest­summen und Alibi-Betei­li­gungen gegeben hat, man weiß ja nie. Keine Schande.

Es wäre nur toll, wenn wenigs­tens irgend­eine Förder­chefin und irgendein ungläu­biger Thomas von Fern­seh­re­dak­teur sich mal hinstellen könnte und einfach zugeben: Wir hätten nicht gedacht, dass das was wird, dass dies irgendwer sehen will, dass System­sprenger sich als einer der wichtigen Filme des Jahres und Abo-Preis­ab­räumer entpuppt. Wir haben’s einfach nicht gewusst, weil wir eh vieles nicht wissen, und jetzt freuen wir uns. Und dann keine Förder-Chefin auf dem Teppich, kein Redakteur, sondern einfach hinten rechts in der Ecke freuen. Basta.

Demut, das könnte das deutsche Film­system von System­sprenger lernen.

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Und der Rest?

Aufgabe von Kunst ist heute, Chaos in die Ordnung zu bringen, schrieb Adorno. Ich bin nicht sicher, ob das diesem Fim gelingt, ob er nicht eher auf recht clevere und intel­li­gente und mitreißende Art das Gegenteil tut.

Aber wenn wir uns mal dumm stellen und den Film nicht inhal­tis­tisch, sondern in seiner Wirkung wörtlich nehmen, dann lernen wie daraus, dass es immer darum geht, Systeme zu sprengen. Dass den Anar­chisten die Zukunft gehört, denen, die sich trauen, Chaos in die Ordnung zu bringen und manchmal auch das Gegenteil. Film an sich ist so anar­chis­tisch, wie es nur denkbar ist. Erst so ein Film­system prügelt den Anar­chismus und die Phantasie aus ihm heraus.
Wo sind die System­sprenger des deutschen Films? Wann wird endlich das System des deutschen Films gesprengt?

Beim deutschen Filmpreis schon mal bestimmt nicht. Das macht diese Preise und diese Veran­stal­tung so verlogen.

Oder warten wir jetzt darauf, dass Corona dieses System sprengt?

Wo werden wir zu System­spren­gern? Wann sprengen wir den deutschen Film, wie er gerade ist? Es ist einfach, dieses Kind zu bewundern, dieses Kind zu lieben – selber aber nur Soldaten des Systems zu sein. Und das sind doch fast alle: Diener des Systems, Funk­ti­onäre des Systems, Appa­rat­schiks des Systems. Man feiert Figuren, man feiert Charak­tere, mit denen man selber nichts zu tun hat – auch nicht die Film­aka­demie.

Das gilt übrigens genau so für Berlin Alex­an­der­platz.

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Wer hat sich das angesehen? Offenbar nicht sehr viele. Dabei war es auch sonst eine Veran­stal­tung, die vieles über das Gute und alles über das Schlechte im deutschen Film verriet.

An diesen deutschen Filmpreis wird man sich in jedem Fall erinnern: Als eine Veran­stal­tung ohne Publikum, aber live in der ARD, bei der sich der Favorit durch­ge­setzt hat: Nora Fing­scheidts System­sprenger gewann acht von neun möglichen deutschen Film­preisen – erwartbar, aber ziemlich lang­weilig für einen Abend, der ein bisschen Spannung dringend nötig hatte: Ohne Saal­pu­blikum, ohne Freu­den­tränen oder irgend­eine andere Form, von spontaner Regung auf der Bühne, ohne Party und Party­stim­mung.
Corona hatte auch hier fast alles verdorben.

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Um so mehr muss man den Machern des Deutschen Filmpreis gratu­lieren für das, was ihnen gegen alle Umstände gelang. Der eigent­liche Star des Abends waren daher gar nicht die Filme, sondern der Moderator: Edin Hasanovic – meist allein im großen Saal musste er fort­wäh­rend gegen die leere Wand anreden. Er machte das mit Bravour. Und mit einer Lässig­keit, einer Ironie auch gegenüber Auto­ri­täten, die dem deutschen Film ansonsten fehlt.

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Der Rest aber war das Übliche: Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerk­sam­keit für Dreh­bücher gäbe. Aber wenn sie es einmal besser machen können, dann kommen nur peinlich lässige oder über­kan­di­delt geschwol­lene Reden der Lauda­toren heraus. Zum Beispiel: Dreh­bücher sind nicht etwa etwas im Hirn oder im Herz, sondern gleich »in der Musku­latur der Autoren«. Jesses!!! Wer schreibt sowas?

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Manche Preise für System­sprenger waren verdient, wie der für die Beste Regie, manche unver­dient, wie der für die Beste Weibliche Neben­rolle, den unbedingt Jella Haase für Berlin Alex­an­der­platz hätte gewinnen müssen, und die aller­meisten Preise gab es gar nicht für die jeweilige Einzel­leis­tung, sondern weil eben die Aller­meisten in allen Kate­go­rien für diesen Film stimmten.

Denn System­sprenger hat einfach alles, was im deutschen Film schon lange angesagt ist: Ein sozial rele­vantes Thema, ein Kind als Haupt­figur, eine Frau als Regis­seurin.
Dazu kommt eine über­zeu­gende Insze­nie­rung und ein Glücks­fall durch die Haupt­dar­stel­lerin, die 11-jährige Helena Zengel – sie allein, ihre Energie ist das Besondere dieses Films. Und doch gibt es Gründe zu finden, dass sie besser einen Spezi­al­preis bekommen hätte, und nicht mit Erwach­senen konkur­riert.

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Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerk­sam­keit für Frauen gäbe. Aber wenn die Film­aka­demie es einmal besser machen könnte, dann versteckt sie sich hinter einer Nora Fing­scheidt, die von allen Förder­che­finnen vorher nur ein paar Förder-Brosamen erhalten hat, und nominiert Ina Weisses Das Vorspiel kein einziges Mal, und Kathrin Gebbes Pelik­an­blut sowie Mariko Mino­gu­chis Mein Ende. Dein Anfang. einfach nur je einmal in Neben­ka­te­go­rien. Obwohl alle drei Filme zum besten halben Dutzend der Film-Auswahl des letzten Jahres gehörten. Sie wurden mehr oder weniger links liegen gelassen, wie die entspre­chenden Frau­en­fi­guren: In allen drei Fällen ist eine Frau die Haupt­figur, in zwei Fällen spielt Nina Hoss Mütter und dies komplett anders, als es die immerzu leidend-liebenden Mütterkli­schees des deutschen Kinos zulassen.
Nichts davon beim Filmpreis sichtbar.

Auch das muss man der Ehrlich­keit halber und vor allem um dieser Filme willen auch erwähnen – und das ausdrück­lich nicht um irgend­einer sche­ma­ti­schen Gleich­heit oder irgend­wel­cher Gender-Studien willen. Die sind mit herzlich egal.

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Man könnte weitere blinde Flecken der Film­aka­demie nennen, bei der sich ein ums andre Jahr das gehobene Mittelmaß und der größte Haufen durch­setzen.

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Dann die unge­wohnten Einblicke in Wohn­zimmer und Büro­ge­bäude der Preis­träger per Inter­net­stream. Gele­gent­lich ruckelnde Bilder und Kommu­ni­ka­ti­ons­aus­fälle inbe­griffen. Das gehört zu jener »Corona-Ästhetik«, an die wir alle uns viel­leicht etwas zu schnell gewöhnt haben.
Aber keine Namen der Preis­träger, die einge­blendet werden. Keine Bühnen-Show, die auch mit Abstand möglich gewesen wäre.
Statt­dessen Kinde­reien. Und der peinliche Giovanni di Lorenzo aus seinem mit ZEIT-Covern voll­ge­pflas­terten ZEIT-Büro bei einer soge­nannten Laudatio für Edgar Reitz, die eher eine Laudatio für Giovanni di Lorenzo war, der zur Strafe von Reitz immerhin mal gesiezt und nicht voll­ge­duzt wurde.

Manche Preise für System­sprenger waren verdient, wie der für die Beste Regie, manche unver­dient, wie der für die Beste Weibliche Neben­rolle, den Jella Haase für Berlin Alex­an­der­platz hätte gewinnen müssen. Aber das Ärger­liche war, dass es die aller­meisten Preise gar nicht für die jeweilige Einzel­leis­tung gab, sondern weil eben die Aller­meisten in allen Kate­go­rien für diesen Film stimmten.

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Ein Sieg also des mittleren Realismus. Der die aller­meisten deutschen Filme und nicht nur diese dominiert. Der sich die Wirk­lich­keit so zurecht biegt, dass sie aussieht, als wäre alles echt, und nicht gemacht. Der sie so forciert, dass sie ans Herz geht, aber ja nicht so, dass sie dauerhaft stört, und der nie wirklich irri­tie­rend und gefähr­lich ist.

Fast ein Wunder ist es, dass in diesem lauwarmen Einerlei des Mittelmaß, zwischen Deutsch­stunde und Linden­berg, zwischen dem gespro­chenen Wort und System­sprenger, in dem die biedere Strenge von Christian Petzolds Undine schon das äußerste Extrem an Kunst­willen markiert, und der knallige, aber inkon­se­quente Boulevard von »Ich war noch niemals in New York« als das Äußerste an kommer­zi­ellem Erfolgs­re­zept gilt – fast ein Wunder, dass ein wirklich künst­le­risch aufre­gender und wie auch immer den Rahmen des Mittel­maßes spren­gender Film wie Berlin Alex­an­der­platz immerhin vier Preise in den Neben­ka­te­go­rien gewann und zum zweit­besten Film gekürt wurde. Immerhin!

Wir gratu­lieren!!

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Was den deutschen Film wirklich hart treffen wird, ist das fehlende Geld. Keine Einnahmen bei geschlos­senen Kinos, keine Dreh­ge­neh­mi­gungen und keine Aussicht auf Besserung.

Fast alle erwähnten die Not der Filme­ma­cher und griffen – mal höflich, mal präzis, fast immer etwas zu freund­lich – die Politiker an, die die Kunst, insbe­son­dere das Kino, allein­lassen, weil sie es nicht als Lebens­mittel begreifen.

Dass die Kunst, gerade das Kino als die brei­ten­wirk­samste, alle Gruppen, Milieus und Schichten der Gesell­schaft verei­nende Kunstform, nicht weniger wichtig ist, als Trinken und Essen, wird man hoffent­lich begreifen, bevor es zu spät ist.