Der goldene Brei oder Mythen des Alltags |
||
Berückendes Filmessay mit Kelly Reichardt: »Elaborated Time«, aufzufinden auf Youtube. | ||
(Foto: patreon.com/luxessays) |
Von Nora Moschuering
Neue Geräusche: Die Kinder in der Wohnung nebenan. Das Fließen der Heizung in der Küche. Alte Geräusche: Das Schlagen meiner Heizung, jetzt aber über 24 Stunden verfolgt, es ist unregelmäßig und stetig. Ich recherchiere. Schreibe dem Heizungstechniker und schicke ihm Aufnahmen per Whatsapp. Er antwortet nicht. Sie muss raus. Ich werde das wohl bald eigenhändig erledigen. Mit Gewalt. Ich wache mindestens zwei Mal pro Nacht davon auf, lege mein eines Ohr auf das grüne Kissen und das andere bedecke ich mit dem anderen, etwas leichteren. Da man mittlerweile Zeit dazu hat, mache ich mir tagsüber Sorgen, ob auf diese Weise nicht zahlreiche kleine Fäden und Flusen in mein Ohr fallen, die dann irgendwann mit einem kleinen Spezialgerät herausgeangelt werden müssen. Wie Katzen-Gewöll. Ich mag Ohrstöpsel nicht. Ich höre Podcasts mitten in der Nacht oder setze mich auf die Couch in der Küche, um diesen Text anzufangen. Die Heizung rauscht und irgendjemand über mir scheint eine Badewanne einzulassen. Jetzt? Das, was man gemeinhin Alltag nennt, verändert sich.
Ich google: Alltag im … Mittelalter / KZ / Kinderheim / Nationalsozialismus / alten Rom / Gefängnis / Todestrakt … Alltag im Film ist bei den ersten Vorschlägen kein Thema. Offenbar ist Alltag interessant, wenn er an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Zeit stattfindet. Zu Alltag in der Corona-Pandemie wird es vielleicht bald mehr geben, sobald es länger geht. Wahrscheinlich ist es per definitionem gar nicht so schnell möglich, einen Alltag herauszubilden. Das, was wir gerade erleben, ist eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Routiniertem und Besonderem.
Der Film hat sich mit dem Alltag schon immer schwergetan. Alltag ist nicht dramatisch, er besteht aus lauter Wiederholungsschleifen, Routineaktivitäten und minimalen Änderungen, die den Alltag an jedem Dienstag von dem an jedem Samstag unterscheiden. Vielleicht liegt die Dramatik einzig in der Wiederholung und der Länge. Wenn man jeden Tag aufsteht und als erstes eine Tasse Schwarztee mit zwei Löffeln Zucker zu sich nimmt, ist das langweilig, wenn man aber sagt: Das hat er sein ganzes Leben so gemacht, 92 Jahre lang, dann ist das schon ein Schritt Richtung Extrem. Ein Extrem, das eher in der schriftlichen Form funktioniert als in der bildlichen. In einem Film würde man in 30 Sekunden 10 Schnitte machen und Requisite und Maske ändern. Das Teetrinken bekäme so eine Dynamik, die es gar nicht hat. Büchern gelingt es eher zu flanieren, und Büchern kann der Leser selber eine Zeit geben, die Lesezeit ist viel individueller als die Zeit eines Films. Filme optimieren sich oft, das macht die Bilder zwar reichhaltig, aber sie geben sich und uns selten Zeit, in ihnen zu flanieren. Und der Alltag kippt dabei meist hintenüber.
Ich suche nach Alltagsfilmen, finde auf Netflix Pappa ante Portas. Der Haus-Alltag einer Ehefrau kollidiert mit dem Arbeits-Alltag des Frührentner-Ehemannes. Loriot arbeitet mit Übertreibungen und einem Rentner, der zu einer Art Roboter wird. Henri Bergson beschreibt diesen Humor in seinem Essay »Das Lachen« (1900) als totale Gewohnheit, die mechanischer Starrheit gleicht. Als Gruppe finden wir das lustig, weil wir uns distanzieren, können uns aber gleichzeitig auch ertappen, also wiedererkennen und selber korrigieren. Wir erkennen: Alltag ist so, irgendwie beruhigend, aber auch ein bisschen absurd.
Dabei gibt es für einen aufmerksamen Beobachter wahrscheinlich gar keinen Alltag in Reinform. Alltag besteht aus Gesten, Details, Besonderheiten, aus kleinen Verschiebungen, Änderungen, die das Ideal nie existieren lassen. Alltag ist interessant, erst recht in solchen Zeiten, in denen wir ihn neu definieren.
Es gibt einige Filme, die versuchen, eine Art »Anthropologie des Nahen«, wie es Marc Augé beschreibt, zu zeigen. Klaus Wildenhahn, der 2018 verstorbene Dokumentarfilmer, der im Stil des Direct Cinema Filme auch fürs Fernsehen drehte. Sein bekanntester ist vielleicht Heiligabend auf St. Pauli (BRD 1968) . Oder eine dreiteilige Serie von Thomas Heise über rechtsradikale Jugendliche, die man auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung finden kann. Von Antje Ehmann und Harun Farocki steht das Projekt »Eine Einstellung zur Arbeit« online, Untersuchungsgegenstand hier: die (meist) repetitive Arbeit. Die gibt es gerade auch noch. Für einige gibt es aber gar keinen Arbeits-Alltag mehr, für andere ist er ins Home-Office gewandert. Auch viele Fernsehsendungen arbeiten mit Home-Videos. Das Zuhause ersetzt das Studio. »Heute Show«, »Die Anstalt«, »Xtra3«, Theater, Konzerte, intim und trotzdem mit einem unheimlich vergrößerten Zuschauerraum. Das ist Arbeit, die noch keinen Alltag kennt, in einem Alltagsraum, der sich immer mehr in die Öffentlichkeit begibt, es sei denn, man blurt ihn.
Auch in den USA – neben Hollywood, dieser unrealistischen Traumerfüllungsmaschine – gibt es Alltag im Film. A.O. Scott beschreibt diese Filme mit dem Begriff Neo-Neo-Realismus, nachzulesen in seinem Artikel im Magazin der New York Times von 2009. Dass sich dieser Begriff nicht durchsetzen würde, weil schon ein einziges »neo« oder »post« meistens ausreicht, um Hilflosigkeit in der Begriffsfindung zu zeigen, und deshalb etwas stört, war abzusehen, nichtsdestotrotz ist der Artikel interessant. Scott beschreibt US-amerikanische Filme, in denen der Alltag wichtig ist: der tägliche Kampf ums Überleben oder doch zumindest um ein Auskommen. Um Freundschaften, um Familien, um irgendwie so etwas wie Liebe. Die USA sind nämlich gar nicht so, wie wir es aus Hollywood-Filmen kennen. Ach was? Sie sind nicht alle Superhelden oder finden die einzig wahre Liebe oder gehen aus einer finanziellen oder beruflichen Krise gestärkt hervor? In den von Scott erwähnten Filmen gibt es keine übergeordnete Macht, die uns qua Geburt ein Schicksal vorgibt – das bedeutet freilich nicht, dass das, was wir tun, keinen Einfluss haben kann. Aber das Leben gibt sich nicht unbedingt mit zwei Plotpoints zufrieden oder einer einzigen Lebensliebes-Geschichte. Wir sind ziemlich viel mit Geldverdienen, Zähneputzen und Essenzubereiten beschäftigt. Wünsche werden nicht immer wahr, Ziele werden nicht erreicht, Happy Ends gehen unter in vielschichtigen Momenten und sind selten ein Ende oder sie finden einfach nicht statt. Scott orientiert sich am Neorealismus der italienischen Film-Strömung nach dem 2. Weltkrieg. Die Protagonisten sind oft passiv, desorientiert und suchen etwas. Sie sind keine Helden, und sie haben bescheidene Ziele, die sie oft nicht erreichen. Filme von Ramin Bahrani, Lance Hammer oder Kelly Reichardt verlangen vom Zuschauer Geduld und Genauigkeit in der Wahrnehmung, das, was wir auch in unserem Alltag machen sollten. Das Video-Essay »Elaborated Time« führt ein Interview von Reichardt mit Bildern aus ihren Filmen zum Thema Zeit zusammen.
Es ist natürlich auch die Frage, ob wir gerade jetzt eben genau das nicht ansehen wollen. Ob der Wunsch nach Flucht in solchen Zeiten nicht verständlich ist. Wollen wir Kaffee aufbrühen und dabei jemandem zusehen, der seinen Kaffee aufbrüht? Ich gucke gerade alle Harry Potter-Filme, weil seine Welt und seine Erlebnisse so wenig meinen gleichen, und weil ich weiß, wie es ausgeht. Ich habe aber auch Isadoras Kinder gesehen, den man bei Kino-on-demand ausleihen kann und über den Dunja Bialas vor zwei Wochen hier geschrieben hat. Der Film nimmt sich Zeit für Bewegungen, Gesten, Gesichtsausdrücke. Ich habe den Film allerdings nicht in einem durchgesehen, ich habe ihn in drei Teilen geguckt und zwischendurch gekocht und aufgeräumt. Ich habe ihn in meinen sogenannten Alltag integriert. Manchmal mache ich es auch andersherum und integriere den Alltag anderer in meinen. Kochsendungen erschienen mir im ersten Augenblick gut dafür, sie sind mir allerdings meistens zu dramatisch, also doch lieber YouTube-Videos von Menschen, die ihre Heizung entlüften oder ihre Heizungsrohre verkleiden oder gleich demontieren, auch eine Art von Happy End.