12.10.2017

Back to the Future

Das Mädchen vom Änziloch
Ein in jeder Hinsicht besonderer Film: Das Mädchen vom Änziloch

Der 40. LUCAS – das internationale Festival für junge Filmfans, vom 1. bis 7. Oktober 2017 in Frankfurt war ein großes Jubiläum – vor allem für den Kinderfilm. Und Anlass genug einmal ganz weit zurückzublicken und zu erzählen, wie weit der Kinderfilm schon gehen musste, um da zu sein, wo er heute steht.

Von Christel Strobel

Rückblick
Als der Kinder­film in der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land noch in den Kinder­schuhen steckte, haben die seit Herbst 1974 statt­fin­denden Kinder­film­vor­füh­rungen im Kommu­nalen Kino, beher­bergt im Histo­ri­schen Museum am Römerberg, schon regen Zuspruch der Frank­furter Kinder. Vom 23. bis 30. Mai 1975 wurde deshalb dort zum ersten Mal eine „Inter­na­tio­nale Kinder­film­woche“ veran­staltet mit dem Ziel, dem Film für Kinder eine noch größere Aufmerk­sam­keit zu geben. Damit legte Walter Schobert, seiner­zeit Leiter des Kommu­nalen Kinos und von 1984 bis 2003 Direktor des Deutschen Film­mu­seums, den Grund­stein für das älteste Kinder­film­fes­tival Deutsch­lands.

Das Angebot an Kinder­filmen im heutigen Sinne aller­dings war noch mager. Kinder­film wurde immer noch mit dem Märchen­film der 50er-Jahre gleich­ge­setzt. Erst 1973 kam mit Hark Bohms Tschetan, der India­ner­junge eine andere Film­ge­schichte für das junge Publikum ins Kino. Sein nächster Film für Kinder, Wir pfeifen auf den Gurken­könig (nach dem Buch von Christine Nöst­linger), und Ein Tag mit dem Wind von Haro Senft waren auf der ersten Inter­na­tio­nalen Kinder­film­woche zu sehen, ergänzt mit geeig­neten Produk­tionen aus den Nach­bar­län­dern, vor allem Skan­di­na­vien und Osteuropa. Dazu gehörten auch die Kinder­filme aus der DDR, wo schon sehr früh realis­ti­sche, ziel­grup­pen­ori­en­tierte Filme entstanden, deren Anzahl 1977 die Gründung des fortan zwei­jähr­li­chen »Natio­nalen Festivals ‚Goldener Spatz’ für Kinder­filme der DDR in Kino und Fernsehen« als Leis­tungs­schau der Defa-Produk­tion in Gera möglich machte. Davon hat immer wieder auch die bundes­deut­sche Kinder­film­szene parti­zi­piert. Und – das sei hier vermerkt – der „Goldene Spatz“ hat dank des Enga­ge­ments von Ost und West die Wende überlebt und führt heute als jähr­li­ches Kinder-Medien-Festival Goldener Spatz in Gera und Erfurt ein vom jungen Publikum und Fach­be­su­chern gut besuchtes Dasein.

Die Entste­hung und Entwick­lung des 1975 gegrün­deten Frank­furter Festivals jedoch war eng mit der Situation des Kinder­films in der BRD verknüpft. „Aufbruch zum neuen bundes­deut­schen Kinder­film“, der Titel des Handbuchs für den Kinder­film (Hrsg. Wolfgang Schneider, Eulenhof-Verlag 1982) signa­li­sierte das gewach­sene Bewusst­sein bei Produ­zenten und Filme­ma­chern, Verlei­hern und Spiel­stellen. Förde­rungs­formen wurden disku­tiert und alles zielte darauf ab, dem kriti­schen, jungen Kinder­film den ange­mes­senen Stel­len­wert einzu­räumen. Das Frank­furter „Expe­ri­ment“ war erfolg­reich, das Angebot einer eigenen Kinder­film­schau wurde von den Adres­saten ange­nommen und als jährlich wieder­keh­rende Veran­stal­tung etabliert. Zunehmend entstanden auch bundes­deut­sche Kinder­filme, Ende der 70er- / Anfang der 80er-Jahre waren es jährlich drei bis vier Kinder­filme zu zeit­ge­schicht­li­chen wie Alltags-Themen aus der Perspek­tive der Kinder.

Der Aufbruch jener Jahre zeigt sich auch an weiteren Grün­dungen nach 1975:
1977 Kinder- und Jugend­film­zen­trum in Deutsch­land (KJF) in Remscheid / 1978 Förder­verein Deutscher Kinder­film e.V. (anläss­lich der 4. Inter­na­tio­nalen Kinder­film­woche in Frankfurt) / 1979 Kinder­kino München e.V., Heraus­geber der vier­tel­jähr­lich erschei­nenden Fach­pu­bli­ka­tion „Kinder- und Jugend­film Korre­spon­denz“ von 1980-2014. Und seit 1978 widmet die Berlinale eine eigene Sektion dem Kinder- und Jugend­film, heute unter dem Namen „Gene­ra­tion“ (Kplus und 14plus).

1984, beim 10. Inter­na­tio­nalen Kinder­film­fes­tival, wurde zum ersten Mal der Festi­val­preis LUCAS vergeben. Eine Beson­der­heit war die Zusam­men­set­zung der Jury: Im ersten Jahr entschied eine neun­köp­fige Kinder­jury über die Preis­ver­gabe, seit 1985 arbeiten zu gleichen Teilen Kinder und Erwach­sene in der Jury zusammen. Die Einrich­tung der Jury kommen­tierte ein Fach­be­su­cher wie folgt:
»Irgend­wann musste es ja so kommen – auch das Inter­na­tio­nale Kinder­film­fes­tival in Frankfurt hat sich zur Leis­tungs­schau gemausert. Erster Preis, zweiter Preis – ferner liefen. Immerhin – die Orga­ni­sa­toren des Festivals waren sich der Proble­matik offen­sicht­lich bewusst und verzich­teten darauf, eine Jury mehr oder weniger promi­nenter Menschen zusam­men­zu­rufen – sie wandten sich an die Sach­ver­s­tän­digen. Durch Kontakte zu Lehrern wurden neun Kinder, 12-15 Jahre alt, für die Kinder­jury gewonnen … Die dabei gemachten Erfah­rungen haben mich als noto­ri­schen Preis-Gegner über die mögli­cher­weise negativen Folgen dieser Umge­stal­tung des Festivals hinweg­ge­tröstet. Erstaun­lich war, dass trotz der ziem­li­chen Belastung (Schule, zwei bis drei Stunden Film und eine Stunde Nach­be­rei­tung) alle Kinder die Sichtung sämt­li­cher 18 Filme durch­hielten und während des Festivals gele­gent­lich noch mal zusätz­lich ins Kino gingen zur Hark-Bohm-Retro­spek­tive. … Die Einrich­tung einer Kinder­jury hat sich hervor­ra­gend bewährt.« (Oliver Tolmein in KJK Nr. 20-4/1984)

Zudem fand 1984 das „Inter­na­tio­nale Kinder­film­fes­tival LUCAS“ zum ersten Mal im gerade eröff­neten Deutschen Film­mu­seum statt, in einer histo­ri­schen Villa am Mainufer, wo das seit 1971 bestehende Kommunale Kino nun ein adäquates Ambiente hat. Der Kultur­de­zer­nent, Hilmar Hoffmann, betonte anläss­lich der Eröffnung, dass die Konzep­tion des Film­mu­seums dem Gedanken nach bereits bei der Gründung des Kommu­nalen Kinos mit dem Erwerb von bedeu­tenden Samm­lungen angelegt war. Das neue Umfeld ist auch eine Berei­che­rung für die Festi­val­ma­cher und fürs junge Publikum, denn die Möglich­keiten des Hauses werden über die Jahre immer inten­siver für film­tech­ni­sche und medi­en­päd­ago­gi­sche Workshops sowie Ausstel­lungs­füh­rungen genutzt.
Das inzwi­schen zwölf­tägige Festival gliederte sich in Film­vor­füh­rungen für Kinder, Retro­spek­tive und Woche­n­end­ver­an­stal­tung für Film­fach­leute und Branche. In vielen der 18 Filme aus 13 Ländern stehen Kinder im Mittel­punkt, die ohne Erwach­sene ihren Weg suchen und finden. Unter dem Motto „Kinder unterwegs“ werden Aben­teu­er­sehn­sucht, Selbst­be­haup­tung, Über­le­bens­kampf thema­ti­siert, zum Beispiel in Arend Agthes „Fluss­fahrt mit Huhn“ (der noch heute zum Kinder­kino-Reper­toire gehört).

Die 90er-Jahre
waren geprägt von Diskus­sionen und Speku­la­tionen: Mittel­kür­zungen der Stadt Frankfurt, perso­nelle Unstim­mig­keiten und Über­le­gungen, das Kinder­film­fes­tival nur noch alle zwei Jahre – im Wechsel mit dem natio­nalen Kinder­film­fes­tival in Gera – zu veran­stalten, verun­si­cherten die Festi­val­be­su­cher und über­schat­teten das Festi­va­l­ereignis. Das Motto des 18. Festivals 1992 war geradezu program­ma­tisch: „Wo ich zu Hause bin“ mit zehn Filmen über Kinder aus aller Welt und sieben Filmen in der Retro­spek­tive, die dem tsche­cho­slo­wa­ki­schen Kinder­film galt.

Während die Zeiten für das älteste Kinder­film­fes­tival in Frankfurt schwierig wurden, entstand 1995 in Chemnitz das »Inter­na­tio­nale Film­fes­tival für Kinder und junges Publikum SCHLINGEL«, das sich im Laufe der Jahre zu einem weiteren Treff­punkt der Kinder­film­szene entwi­ckelte.

1998 kam es schließ­lich zur Umstel­lung auf den Zwei-Jahres-Rhythmus, was den KJK-Bericht­erstatter zu einem leiden­schaft­li­chen Plädoyer für das Kinder­film­fes­tival Frankfurt veran­lasste: »Ich fahre seit zehn Jahren regel­mäßig auf dieses Festival und habe schon alle möglichen Stim­mungs­lagen erlebt. Doch selbst im Krisen­jahr 1992 war die Stimmung nicht so schlecht wie diesmal. Denn auch wenn seiner­zeit eine allge­meine Unzu­frie­den­heit über Ablauf und Programm herrschte, so waren doch alle davon überzeugt, dass das Festival diese Probleme über­winden und auch weiterhin statt­finden werde. Ganz anders dieses Jahr. Die Ankün­di­gung, dass LUCAS nur noch alle zwei Jahre statt­finden soll, sorgte bei den Teil­neh­mern für eine Art Unter­gangs­stim­mung. Es kann jedoch nicht angehen, dass wir dieses für die nationale und regionale Kinder­film­kultur bedeut­same Forum einfach zugrunde gehen lassen, ohne den Versuch zu unter­nehmen, alles dafür zu tun, dass das Festival in seiner Substanz erhalten wird. Denn Frankfurt stand immer für einen inter­na­tio­nalen Austausch, für inter­kul­tu­relle Begegnung, bot aber Verlei­hern und Programm­ma­chern auch ganz konkret die Möglich­keit zu sichten, wo der Kinder­film steht und welche Tendenzen sich neu eröffnen.« (Lutz Gräfe in KJK Nr. 76-1/1998) – Die 16 Filme aus 15 Ländern behan­delten ernste Themen wie Rassismus und Frem­den­hass sowie Trauer und Tod und wie Kinder damit umgehen.

Wech­sel­hafte Zeiten – LUCAS wird 25
Zwei Jahre später, 2000, konnte LUCAS sein Vier­tel­jahr­hun­dert (wenn auch erst nach 26 Jahren) feiern. Aller­dings unter deutlich weniger Betei­li­gung einer Fachöf­fent­lich­keit. An der unzu­rei­chenden finan­zi­ellen Ausstat­tung hat sich wenig geändert. Viele der Filme (13 aus 10 Ländern) machten den Eindruck, dass sie nicht explizit für Kinder und Jugend­liche gemacht waren. Selbst die LUCAS-Jury bemän­gelte: »Wir, die Kinder und Erwach­senen der Kinder­jury, bedauern die geringe Betei­li­gung solcher Filme, deren unmit­tel­bares Erzählen die Perspek­tive der Kinder einnimmt. Auch werden wir nicht mit gut erzählten Geschichten versöhnt, die sich auf die Kraft ihrer Bilder verlassen können.« Bis die Jury wieder berufen wurde, vergingen erneut zwei Jahre, aber der Tenor 2002 klang schon ganz anders: »Ja zum wieder­be­lebten und neuerwachten LUCAS, der sich nach Jahren der Krise nun unter neuer Leitung mit neuem Design und vor allem mit neuem Schwung präsen­tierte … und LUCAS wieder den Stel­len­wert verschafft, den die nationale wie inter­na­tio­nale Kinder­film­szene erwartet und benötigt. Dazu trug auch die Entschei­dung bei, das Programm – nach mehr­jäh­rigen Versuchen, das Festival mit einer Sektion für Jugend­liche zu erweitern – erstmals wieder auf Filme für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren zu konzen­trieren. Bei den 14 Filmen domi­nierten Filme für kleine Kinder, stark vertreten waren Animation, Fantasy und Geschichten von starken Mädchen.« (KJK Nr. 92-4/2002)

2004 wurde der jährliche Rhythmus wieder aufge­nommen. Zum Langfilm-Wett­be­werb kam eine eigene, ebenfalls mit einem dotierten Preis ausge­stat­tete Kurz­film­sek­tion. Auch wenn die Zahl der Fach­be­su­cher vorüber­ge­hend abnahm, verzeich­nete das Festival einen konti­nu­ier­li­chen Anstieg der Besu­cher­zahlen. Gestiegen war auch die Zahl der einge­la­denen Filme und weitere Kinos wurden einbe­zogen. Verschie­bungen gab es bei den Einrei­chungen aus den verschie­denen Ländern: Skan­di­na­vien – lange Zeit führend in der Kinder­film­pro­duk­tion – war nicht mehr so stark, dafür kamen immer mehr Filme aus dem asia­ti­schen Raum – Indien, Phil­ip­pinen, Indo­ne­sien, Südkorea – und Iran ist immer wieder mit außer­ge­wöhn­li­chen Kinder- oder Jugend­filmen vertreten. 2007, im Bericht über die 30. Festival-Ausgabe, hieß es: »LUCAS hat die Jahre des freien Falls in die Bedeu­tungs­lo­sig­keit hinter sich und ist auf einem guten Wege, wieder ein wichtiger Termin im natio­nalen wie inter­na­tio­nalen Festi­val­zirkus zu sein.« 2011 dann stand das Kinder­film­fes­tival ganz im Zeichen des umge­bauten Film­mu­seums, das kurz zuvor unter dem Motto „Mehr Raum für den Film“ wieder eröffnet wurde und gleich eine erste Belas­tungs­probe, auch für die neu gestal­teten Ausstel­lungs- und Workshop-Räume, bestehen musste.

Das 40. LUCAS-Festival
Das Jubiläum des ältesten Kinder­film­fes­ti­vals in Deutsch­land ist zugleich das erste für eine neue Leitung. Mit Enga­ge­ment haben Julia fleißig, die als Leiterin der Schul­ki­no­woche prak­ti­sche Erfah­rungen mitbringt, und ihr kommu­ni­ka­tives wie kompe­tentes Team das Erbe über­nommen und diese Erbschaft auch gleich mit einem origi­nellen Trailer gewürdigt, der im Zeit­raffer durch 40 Jahre eilt und an die jeweils typischen grafi­schen Logos erinnert, und der am Anfang jeder Film­vor­füh­rung des Jubiläums­fes­ti­vals stand.

Auch die Zahl der für LUCAS 2017 ausge­wählten Filme – 70 Lang- und Kurzfilme aus 35 Ländern – macht die Entwick­lung im Kinder­film­be­reich von den Anfängen bis heute bewusst.
Das Jubiläum war auch ein schöner Anlass für die Wieder­ent­de­ckung früherer LUCAS-Preis­träger. Der 1986 preis­ge­krönte „Kleine Revolte“ (Pequeña Revancha, R: Olegaria Barrera, Venezuela 1985) ist bei lang­jäh­rigen Festi­val­be­su­chern noch in guter Erin­ne­rung, war er ja auch danach fürs nicht­ge­werb­liche Kinder­kino vom Bundes­ver­band Jugend und Film verfügbar gemacht worden. Eine „Kleine Revolte“ bedeutet für die Bewohner des Dorfes irgendwo in Latein­ame­rika unter der Militär­dik­tatur, dass die Eltern sich von den über­fall­artig auftau­chenden Jeeps nicht einschüch­tern und die Kinder sich nicht aushor­chen lassen von den Soldaten, die in ihre Schule gekommen sind und einen Aufsatz darüber verlangen, was ihre Eltern am Abend machen; und dass die Kinder gemeinsam den Laden­be­sitzer als Regie­rungs­spion entlarven. »Der Film erzählt auch einiges über das Leben in einem Dorf, dessen poli­ti­sche Situation zum Nach­denken anregt« (aus der Begrün­dung der LUCAS-Jury für ihre Preis­ver­gabe 1986). „Kleine Revolte“ hat nichts von ihrer Wirkung verloren.
In den kommenden Monaten stehen noch sieben High­lights aus früheren Festi­val­jahr­gängen auf dem Programm vom Kino im Deutschen Film­mu­seum.

Auf dem 40. Festival war auch ein neuer Film aus Venezuela (im Wett­be­werb 13+) vertreten: Die Familie (La Familia, R: Gustavo Rondón Córdova, 2017) handelt vom harten, von Gewalt geprägten Leben in einem herun­ter­ge­kom­menen Stadtteil von Caracas, wo der zwölf­jäh­rige Pedro mit seinem oft abwe­senden Vater lebt. Nach Pedros tragisch endenden Streit mit einem Jungen aus einer anderen Clique, verlassen sie über­s­türzt das Viertel – eine Odyssee durch die Stadt beginnt, immer auf der Suche nach Arbeit, bei der sich Vater und Sohn nach und nach wieder näher­kommen, doch Pedro ist auch immer wieder auf dem Sprung zurück in das frühere Leben. Nur mit Laien­dar­stel­lern besetzt, entwi­ckelt der Film eine atemlose Dynamik, die – je weiter sich die Beiden vom städ­ti­schen Chaos entfernen – entspannten Momenten weicht. Ob es auf diesem Weg weiter­geht, bleibt offen.

Ein Film, der lange im Gedächtnis bleibt, ist der dänische Beitrag,  Der Tag wird kommen (Der kommer en Dag, R: Jesper W. Nielsen, 2016; zu Nielsens Filmo­grafie gehört auch die preis­ge­krönte populäre Serie „Borgen“, 2011-2013). Mit seinem neuen Film greift Jesper ein düsteres Kapitel aus einer noch nicht allzu lang zurück­lie­genden Vergan­gen­heit auf: Weil die schwer­kranke, allein­er­zie­hende Mutter von Erik und Helmer ins Kran­ken­haus muss, werden die Brüder in ein Jungen­heim auf dem Lande einge­wiesen. Hier herrschen unglaub­liche Zustände: Mit einem perfiden System aus Schlägen und Demü­ti­gungen, Willkür und Unge­rech­tig­keit machen sich die Erzieher die Kinder gefügig. Als Erik vom Direktor halb tot geschlagen auf der Kran­ken­sta­tion liegt, gelingt es Helmer mit einer List, vom Direktor die Geneh­mi­gung für einen freien Tag in Kopen­hagen zu bekommen. Dort – im Jahre 1967 – ist die Flower-Power- Bewegung ange­kommen und neue Zeiten sind auch für die Heim­auf­sicht ange­bro­chen. Es ist tröstlich, dass es für Erik und Helmer und all die anderen Heim­in­sassen gut enden wird, zumal die Film­ge­schichte auf tatsäch­li­chen Bege­ben­heiten beruht.

Preise
Die paritä­ti­sche Jury (drei Kinder / drei Erwach­sene aus der Branche) vergab den „Preis für den besten abend­fül­lenden Film“ (dotiert mit 5.000 €) in der Wett­be­werbs­ka­te­gorie ab 8 J. an Oskars Amerika, eine norwe­gisch-schwe­di­sche Kopro­duk­tion von Torfinn Iversen, die vom zehn­jäh­rigen Oskar erzählt, der gerne einmal auf dem Pferd durch die grandiose ameri­ka­ni­sche Land­schaft reiten möchte. Seine Mutter ist schon mal vorweg gereist, sagt sie ihm jeden­falls, obwohl alles auf eine Alko­ho­l­ent­zugskur deutet. Der durchweg mürrische Großvater ist ihm keine Hilfe, doch dann entdeckt er Levi, der sich etwas merk­würdig benimmt und als unge­liebter Außen­seiter von den Dorf­jungen geärgert wird. Wie Oskar und Levi ihre Reise mit dem Boot nach Amerika vorbe­reiten, hat schon rührende Augen­blicke, aber auch einige Unge­reimt­heiten und ergibt kein über­zeu­gendes Ganzes. Aus der Begrün­dung der LUCAS-Jury: »Der Film hat uns berührt und schwere Themen kind­ge­recht erzählt. Gleich­zeitig gab es auch schöne Momente zum Lachen! Außerdem beein­druckte uns die tolle und passende Musik.«

In der Sektion ab 13 J. verlieh die Jury (drei Jugend­liche / drei Erwach­sene) ihren Preis (ebenfalls mit 5.000 € dotiert) an den fran­zö­si­schen Film Ava von Léa Mysius, der von einem Mädchen erzählt, das langsam erblindet. Die Jury befand ihn für preis­würdig, weil »die heraus­ra­genden schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen, grandiose Kame­ra­füh­rung und Licht­set­zung uns – im besten Sinne – keine Wahl lassen, als uns voll und ganz mit der Prot­ago­nistin zu iden­ti­fi­zieren, sie in ihren Hand­lungen und in ihrer Entschlos­sen­heit zu verstehen und anzu­nehmen.« Außerdem wurde aus den abend­fül­lenden Filmen dieser Sektion für den »Preis für eine außer­ge­wöhn­liche cine­as­ti­sche Leistung« (dotiert mit 2.000 €) der iranische Beitrag Steu­er­mann (Gamichi, R: Majid Esmaeili) ausge­wählt. Ein Film, der mit seiner Geschichte und seinem Drehort – den ausge­trock­neten Urmia-See im Nord­westen Irans – das „heiße Eisen“ Klima­ver­än­de­rung / Klima­ka­ta­strophe berührt, denn die Familie des Jungen Hassan verliert dadurch ihre Exis­tenz­grund­lage. Der Vater hat die Familie vor einem Jahr verlassen, die Mutter ist gestorben. Hassan wider­setzt sich vehement dem Verkauf des Fami­li­en­bootes und restau­riert mit seinem Freund Naji das alte Schiff und glaubt fest daran, dass der Vater zurück­kehrt. Aus der Begrün­dung für die außer­ge­wöhn­liche cine­as­ti­sche Leistung. »Der Film erzählt die tragische Geschichte eines Jungen mit unend­li­cher Hoffnung, dem starken Glauben an Ideale, den Wert von Freund­schaft und was es bedeutet, Dinge hinter sich zu lassen, zu bewäl­tigen und weiter­zu­ma­chen. Jedes Detail des Films hat uns diese Geschichte erzählt: Berüh­rende Bilder, bedeu­tungs­volle Symbole, die erschüt­ternde Trost­lo­sig­keit der Drehorte, großar­tige Charak­tere und ein außer­ge­wöhn­li­cher Sinn für Humor.«‚

Seit 2012 wird von der ECFA-Jury der Preis der European Children’s Film Asso­cia­tion (ECFA) an den besten europäi­schen Kinder- und Jugend­film verliehen. In diesem Jahr ging der ECFA-Award an Alice Schmids eindring­li­ches Porträt Das Mädchen vom Änziloch (Schweiz 2016), ein in jeder Hinsicht beson­derer Film der Schweizer Doku­men­tar­film­re­gis­seurin. Auch bei dem Mädchen vom Änziloch handelt es sich haupt­säch­lich um einen Doku­men­tar­film. Laura, inzwi­schen 12 Jahre, hatte schon mit vier Jahren einen kleinen Auftritt in Alice Schmids Film „Die Kinder vom Napf“ und bereits dort eine starke Lein­wand­prä­senz. Sie lebt mit den Eltern und älteren Brüdern in einem der kargen Höfe im hügeligen Napf-Gebiet oberhalb von Luzern, einer von Legenden geprägten Land­schaft, hilft in Haus und Hof mit und ist ansonsten viel allein, vermisst jemanden zum Reden. Statt­dessen führt sie Tagebuch, das sie fürs Aufschreiben der Gedanken braucht. Eines Tages kommt Thom, ein schmäch­tiger Junge aus der Stadt, um eine Woche Land­dienst zu verrichten. Mit ihm kann sie über die sagen­um­wo­bene Schlucht, das Änziloch, reden, wo es „geistern“ soll und der sie sich immer wieder mit dem Fernglas von oben nähert. Doch dann ist es soweit – Thom ist schon wieder in die Stadt zurück­ge­kehrt – und Laura wagt sich in die Schlucht. Aus der Begrün­dung der ECFA-Jury: »Wir erhalten einen Einblick in das Leben eines empa­thi­schen Mädchens und nehmen Anteil an ihrem tiefen Wunsch nach Freund­schaft und Selbst­ver­trauen. … Die Nähe zu ihrer Prot­ago­nistin erlaubt uns eine behutsame Annähe­rung an ein kaum vernehm­bares Lebens­ge­fühl.«

Klassiker
Für diese Reihe waren drei Filme ausge­wählt worden: The Kid von Charles Chaplin, USA 1921; Oliver Twist von David Lean, Großbri­tan­nien 1948, 116 Min., DF / teils OmU, 116 Min., und Die Halb­starken von Georg Tressler, Deutsch­land 1956, mit Horst Buchholz als Freddy, Anführer einer Gang, die sich mit kleinen Diebstählen, Hehle­reien und Auftritten im Schwimmbad die Zeit vertreibt, bis sie eines Abends das ganz große Ding drehen wollen...
Eine besondere Erwähnung gilt bei dieser Gele­gen­heit den Mode­ra­to­rinnen in Frankfurt, die ihr Fach Film­ver­mitt­lung verstehen! Es war z.B. bei diesem Film nicht einfach, ein Gespräch mit den 12-/13-jährigen Schülern einer Förder­schule zu führen. Doch so nach und nach löste sich die Befan­gen­heit und es gab ein längeres, inten­sives Gespräch sowohl über film­tech­ni­sche (Schwarz-Weiß-Film, Dreh an Origi­nal­schau­plätzen) als auch inhalt­liche Aspekte.

Sektion „Young European Cine­philes“
„Was ist wahr und was ist Fake?“ Diese Frage stellten sich sechs junge Cineasten und präsen­tierten im Abend­pro­gramm ihre Lieb­lings­filme, u.a. The Congress von Ari Folman und Synec­doche, New York / Stage Play von Charlie Kaufman. »Wir leben in einer Welt, in der kein allzu großer Wert mehr auf den Unter­schied zwischen Realität und Fiktion, richtig und falsch gelegt wird.« (Lilith, 15 J.) Auch Filme­ma­cher/innen wollen sich in der Wahl der filmi­schen Form nicht mehr eindeutig festlegen. Für die Projekt­teil­neh­merin Lilith sind die soge­nannten Hybrid­filme eine Möglich­keit, »durch Kunst kritisch auf dieses Thema aufmerksam zu machen«. Ein aktuelles Thema, mit dem sich LUCAS – nunmehr „Inter­na­tio­nales Festival für junge Filmfans“ – in seiner 40. Ausgabe beschäf­tigt hat und das neben der Podi­ums­dis­kus­sion über „Nach­wuchs­film und junges Publikum“ und der flan­kie­renden Tagung „Film bildet“! auch zeigt, dass sich der Weg nach Frankfurt weiterhin lohnt.