11.01.2016

Fetisch, Liebe, Tod

Jules und Jim
François Truffauts Jules et Jim: Unbändiges Freiheitssymbol einer neuen Generation
(Foto: Kinowelt)

Zum Auftakt der Retrospektive zu François Truffaut im Filmmuseum München stellt Serge Toubiana, Leiter der Pariser Cinémathèque Française, das Werk aus biographischer Perspektive vor

Von Dunja Bialas

Den Urheber mit seinem Werk in eins zu setzen, ist eine heikle Ange­le­gen­heit. Schnell ist man bei psycho­lo­gisch-biogra­phisch moti­vierter Herme­neutik, zieht Rück- und im schlim­meren Fall Kurz­schlüsse vom Werk auf den Autor, der doch nur ein Imaginäres zur Darstel­lung brachte.
Kein Problem für Serge Toubiana, den Leiter der Ciné­ma­thèque Française in Paris. Der ehemalige Chef­kri­tiker der Cahiers du Cinéma und Truffaut-Biograph hielt zum Auftakt der Retro­spek­tive im Münchner Film­mu­seum einen Vortrag, in dem er den Menschen in seinem Werk wieder­fand – und es auf wenige Grund­themen runter­brach.

Zwischen Schüch­tern­heit und Obsession bewege sich demnach Truffaut. Als einer der populärsten Regis­seure der Nouvelle Vague kam ihm dabei die Rolle des Außen­sei­ters zu – wenn man die Perspek­tive des Intel­lek­tu­ellen-Kaders der Cahiers du Cinéma einnimmt. Die Regie­kol­legen Truffauts sowie die Film­kri­tiker orien­tierten sich in den 1970er Jahren zunehmend politisch-maois­tisch, erinnert sich Toubiana. Das wichtige poli­ti­sche Drei­ge­stirn wurde damals gebildet von Serge Daney, Jean Narboni und Jean-Louis Comolli, die die maois­ti­sche Ausrich­tung der Cahiers voran­trieben. Truffaut, der noch unter dem Begründer André Bazin Film­kri­tiker der ersten Stunde bei den Cahiers du Cinéma gewesen war, hatte kein Vers­tändnis für die poli­ti­sche Ausrich­tung, erzählt Toubiana, der selbst 1973, zusammen mit Serge Daney, Chef­re­dak­teur bei den Cahiers wurde.

»Cinéma de petit bourgeois«

Toubiana war einer der wenigen in dem poli­ti­sierten Heft, der sich für die Filme von Truffaut einsetzte: »Ich musste meine Kollegen erst davon über­zeugen, dass Truffaut ein wichtiger Filme­ma­cher war.« Es kam zu einem ganz­tä­gigen Interview, zu dem Truffaut einlud. Die Wogen waren danach zwar auf persön­li­cher Ebene geglättet, nicht jedoch auf ästhe­tisch-inhalt­li­cher. »Truffaut hatte wenig gute Worte für Godard übrig«, resümiert Toubiana seine Erin­ne­rung an das Gespräch. Jean-Luc Godard wiederum soll die Filme Truffauts als »cinéma de petit bourgeois« apostro­phiert und damit in jenen Nega­tiv­ho­ri­zont des Kinos der klein­bür­ger­li­chen Werte einge­reiht haben, gegen das sich die Nouvelle Vague stellte.

Die Polarität zwischen den Erzäh­lungen Truffauts und den Dekon­struk­tionen Godards beschreibt Toubiana so: »Truffaut mag seine Figuren und Erzäh­lungen. Godard tut dies nicht, er zerstört die Geschichten.« Truffaut wurde bald auch inter­na­tional populär und spielte u.a. bei Steven Spiel­bergs Unheim­liche Begegnung der dritten Art mit – als er selbst. Seine Person sei zur Gänze im Kino aufge­gangen, so Toubiana, und er verweist auf das berühmte Truffaut-Zitat: »Kino ist wichtiger als das Leben.« Das Archiv, das die Witwe Madelaine Morgen­s­tern verwaltet, erschien ihm bei seinem Besuch als Mausoleum, in dem von Grund­schul­heften über jede noch so kleine Notiz der ganze Truffaut aufzu­finden sei – eine Art Museum der Unschuld, das das Werden und Leben eines Film­ma­chers konser­viert. Über das Archiv hat Toubiana einen Doku­men­tar­film gemacht, François Truffaut – Portraits volés, das in der Film­mu­seums-Retro­spek­tive aller­dings nicht enthalten ist.

Propaganda

Fetisch Frau­en­bein. Ein wieder­keh­rendes Motiv bei Truffaut.

Truffaut war kein Polit­re­gis­seur, das ist sicher, und viele seiner Filme ähneln sich. Er machte auch Filme, die das Mann-Frau-Verhältnis unter noch bürger­li­chen Gesichts­punkten ins Zentrum stellen: Der Mann durfte schwach sein, die Frau stark, Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung und freie Liebe wurden gerade erst erforscht. »Die Mutter«, weiß Toubiana, »ist die erste Frau, die man kennt. Wenn man über eine beliebige Frau spricht, spricht man immer auch über sie.« Das Frau­en­bild, das man in sich trägt, sei daher immer auf diese Urfrau zurück­zu­führen. L’homme qui aimait les femmes (1977) führt dies in exem­pla­ri­scher Reinform vor. In serieller Weise versucht hier Frau­en­held Bertrand, Substi­tute für die Frau, die sich ihm immer entzogen hat – seine Mutter – zu finden. Erkennbar ist hier auch, wie Truffaut seine Figuren in einen vergleichs­weise bürger­li­chen Werte­kosmos einlässt, in welchem die Feti­schi­sie­rung des weib­li­chen Körpers in einer braven Enthül­lungs­fan­tasie kulmi­niert: Ein Frau­en­körper wird in einer lang­wie­rigen Prozedur aus einem Kleid mit über hundert Knöpfen geborgen. – Señor Buñuel, wie hätten Sie das gemacht?

Auto­bio­graph und Self­mademan

Truffaut war ein Auto­di­dakt und sehr schlecht in der Schule, wie Toubiana in Erin­ne­rung ruft. Die Erzählung über seine erdrü­ckende vater- und auch mutter­lose Kindheit (Truffaut wuchs zunächst bei seinen Großel­tern auf) wurde zu seinem filmi­schen Debüt. Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn) (1959) schlug in Cannes, wo er den Regie­preis erhielt, wie ein Blitz ein und markiert den Beginn der Nouvelle Vague. Er schuf darin die Figur Antoine Doinel als sein Alter Ego und machte den erst 14jährigen Jean-Pierre Léaud bekannt, der der Schau­spieler der Nouvelle Vague wurde und glei­cher­maßen bei François Truffaut, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, aber auch bei hier­zu­lande unbe­kann­teren Autoren wie Guy Gilles spielte. Antoine Doinel ist zwanzig Jahre lang Prot­ago­nist in Truffauts (fiktio­na­li­sierter) Auto­bio­gra­phie, die er als großen Antoine-Doinel-Zyklus mit vier Lang­filmen und einem Kurzfilm schuf. In der chro­no­lo­gisch ange­ord­neten Film­mu­seums-Retro­spek­tive verteilt sich der Zyklus entspre­chend. (Am 12.01. ist nochmals Les quatre cents coups zu sehen, gefolgt von Antoine et Colette (kurz, 1962) und Baisers volés (Geraubte Küsse) (1968) am 27. und 29.01., Domicile conjugal (Tisch und Bett) (1970) am 5. und 10.02. und schliess­lich L’amour en fuite (Liebe auf der Flucht) (1979) am 21.02.)

Propaganda

Vom 15-Jährigen zum Shoo­ting­star der Nouvelle Vague: Jean-Pierre Léaud ist Antoine Doinel ist Alter Ego von François Truffaut.

Truffaut, erinnert Toubiana, verehrte Jean Renoir, Alfred Hitchcock, Ernst Lubitsch, Roberto Rossel­lini, Sacha Guitry und Orson Welles. Mit seiner Arbeit als Cineast wollte er immer auch den großen Namen huldigen. Acht Jahre war er bei den Cahiers du Cinéma als Film­kri­tiker tätig, André Bazin, der sie 1951 begrün­dete, lernte er im Alter von fünfzehn Jahren kennen – Bazin verstarb dann ein Jahr vor Truffauts Durch­bruch als Regisseur. Die Film­mu­seums-Retro­spek­tive ehrt Truffaut auch als Kritiker durch die Inte­gra­tion einer Vielzahl an Filmen anderer Regis­seure, mit denen er sich schrei­bend ausein­an­der­setzte. Darunter sind neben den bereits Genannten Filme von Fritz Lang, Jean Vigo, Ingmar Bergman oder Jacques Becker zu sehen.

Truffaut, der Auto­di­dakt, prägte die unab­hän­gige, nur dem Akt der Kreation verpflich­tete politique des auteurs, die er bereits in den histo­ri­schen Regie­größen erkannte, obgleich diese meist noch in die Studio­sys­teme einge­bunden waren. 1957 gründete er die nach Jean Renoirs Le carrosse d’or benannte Produk­ti­ons­firma Les films du Carrosse, unter der seine Filme entstanden – ein Garant für die kreative Freiheit. Das Manifest des Autoren­films, mit dem sich bis heute die Erwar­tungen an das fran­zö­si­sche Film­schaffen verbinden, wurde sein bahn­bre­chendes Essay »Une certaine tendance du cinéma français« (»Eine gewisse Tendenz im fran­zö­si­schen Film«), das er im Januar 1954 in den Cahiers du Cinéma veröf­fent­lichte.

»Kino ist wichtiger als das Leben«

Fetisch, Liebe, Tod – dies sind nach Toubiana drei Grund­themen, die sich in Truffauts rund zwanzig Lang­filmen wieder­finden lassen. »Jeder Film bezieht sich darauf«, betonte Serge Toubiana in seinem Vortrag. Auch der biogra­phi­sche Truffaut sei in jedem seiner Filme zu finden. In La chambre verte (Das grüne Zimmer) (1978) insze­niert Truffaut einen »seltsamen Feti­schismus« (Toubiana) und übernimmt selbst die Haupt­rolle, in Les deux anglaises et le continent (Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent) (1971) spricht er persön­lich den Kommentar aus dem Off – was Dominik Graf 2014 zu seinem freien Remake Die geliebten Schwes­tern verleitet haben mag, wo er ebenfalls mit leicht zerstreuter Essay­is­ten­stimme den Kommen­tator aus dem Off gibt.

Propaganda

Zwischen zwei Schwes­tern: Les deux anglaises et le continent ist das Vorbild von Dominik Grafs Die geliebten Schwes­tern.

Die nach bestimmten Regeln ablau­fende ritua­li­sierte Liebe kann in dieser Drei­ecks­ge­schichte, mehr noch in dem berühmten Jules et Jim (1962) entdeckt werden, beides Filme nach Romanen von Henri-Pierre Roché. Auch der Fetisch birgt Rituale, die sich als kine­ma­to­gra­phi­sches Ritual wieder­keh­render Einstel­lungen durch das Werk von Truffaut ziehen. Besonders die Frau­en­beine haben es ihm angetan. L’homme qui aimait les femmes gründet regel­recht auf dieser Obsession des männ­li­chen Blickes auf die Frau, und in Vivement dimanche! (Auf Liebe und Tod) (1983), ein Jahr vor seinem frühen Tod entstanden, gibt Truffaut noch einmal unver­holen dem Feti­schismus nach, und lässt die Beine von Fanny Ardant, seiner Geliebten, vor einem Guck­fenster hin- und hergehen.

Der Tod, der immer in Truffauts Filmen vorkommt, ist das Wesen der roman­ti­schen Liebe selbst, so Toubiana: »Wenn man jemanden auf roman­ti­sche Weise liebt, muss man bis zum Limit gehen und sogar darüber hinaus«, erklärt er. Dabei ist die roman­ti­sche Liebe bei Truffaut immer auch auf den Film und das Kino bezogen. Denn, so Toubiana: »Truffaut musste ein anderes Kino finden, und eine andere Art zu lieben.«
Seine Liebe und sein Leben, das war das Kino selbst.

Zum Weiter­lesen:

  • François Truffaut: »Die Filme meines Lebens – Aufsätze und Kritiken«, Verlag der Autoren, 560 S., 25,00 Euro
  • François Truffaut: »Die Lust am Sehen«, hg. von Jean Narboni, Serge Toubiana, Robert Fischer, Verlag der Autoren, 416 S., anti­qua­risch
  • François Truffaut: »Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?«, Heyne Verlag, 410 S., 9,95 Euro
  • Antoine De Baecque, Serge Toubiana: »François Truffaut – Biogra­phie«, Egmont Vgs, 720 S., anti­qua­risch

+ + +

»Die Schule des Lebens – François Truffaut«. Retro­spek­tive im Film­mu­seum München. Bis 28.02.2016. Film­mu­seum München, St.-Jakobs-Platz 1, 80333 München. Karten­re­ser­vie­rung: 089 / 233 96 450.