13.08.2015

Die Leoparden sind los!

Festival-Fächer
Aufgefächert: Christine Dériaz schreibt jeden Tag von ihren Seherlebnissen und fotografiert dazu.
(Foto: Christine Dériaz)

Auf unserem Artechock-Blog veröffentlicht unsere Autorin Christine Dériaz immer zum Festival von Locarno ein sehr feines Filmtagebuch. Wir bringen hier die bisherigen Beiträge.

Von Christine Dériaz

Tag 1: Leoparden in Freiheit und anderes schüt­zen­wertes (Kultur-)Gut
Tag 2: Wolken­loses Vergnügen
Tag 3: Slapstick und Monster
Tag 4: Anarchie und Tränen
Tag 5: Kalei­do­sko­pi­sches und Schweizer SciFi
Tag 6: Drei Konti­nente an einem Tag

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Tag_1 Leoparden in Freiheit und anderes schüt­zen­wertes (Kultur-)Gut

Leinwand mit Leopard
Die Leoparden sind los (Foto: Christine Dériaz)

Im Tessin sind wieder die Leoparden los. Geschützt, furchtlos, eigen­sinnig und mit einem frisch erhöhten Kultur­etat, Leoparden, die sich nicht nur von Popcorn(-Kino) ernähren, Filme für den kriti­schen Geist, Filme als »Absage an die Belie­big­keit«, so Festi­val­prä­si­dent Marco Solari in seiner Eröff­nungs­rede. Die Erwar­tungen sind hoch im sommer­lich schwit­zenden Locarno.
Eröffnet wurde das 68. Film­fes­tival, das 3. unter der künst­le­ri­schen Leitung von Carlo Chatrian, auf der rappel­vollen Piazza Grande, mit Jonathan Demmes Ricki and the Flash. Kein wahn­sinnig intel­lek­tu­eller Film, aber insgesamt fröh­li­ches Treiben, gewürzt mit Klas­si­kern der Rockmusik, über­schau­baren fami­liären Problemen, die am Ende – natürlich – eine, für alle Betei­ligten, annehm­bare Lösung erfahren. Ein soge­nanntes Feel-Good-Movie, nicht über­mässig roman­tisch – zum Glück – aber auch nichts worüber man sich noch stun­den­lang den Kopf zerbricht, für einen Eröff­nungs­film auf der Piazza völlig in Ordnung; Inten­si­veres wird sicher­lich folgen.

Tag 1

Intensiv, ja, aber intensiv lang­weilig der kambo­dscha­ni­sche Film Dreamland von Steve Chen. In den ersten 10 Minuten über­rascht der Film mit schönen, inter­es­santen Bildern, sehr grafisch, leicht wehende Gardinen, die der Strenge eines Raumes etwas Verspieltes geben, Licht­re­flexe von der Seite, die den Vorder­grund teilweise abstrakt verschwimmen lassen, schön. Aber dann mutiert diese Hand­schrift zum Manie­rismus, scheint verliebter Selbst­zweck zu werden, wird über­stra­pa­ziert, spätes­tens da fällt auf, dass die Figuren nicht viel zu bieten haben, ausser deko­ra­tiver und spre­chender Teil der Bilder zu sein. Kein bril­lanter Start in einen Festi­valtag.
Sehr viel packender: James White von Josh Mond. Am Anfang ist die Kamera ständig nah, rau, bewegt und frontal auf dem Prot­ago­nisten, wodurch ein Sog ins Innen­leben der Figur entsteht, mitfühlen in sehr wört­li­chem Sinn; anstren­gend ist das, aber auch sehr spannend, eine geistige Subjek­tive. James White taumelt durch sein Leben, lässt sich hängen, säuft, grübelt, feiert, orien­tie­rungslos, bis bei seiner Mutter erneut Krebs fest­ge­stellt wird. Unmerk­lich beruhigt sich die Kamera, das Ich der Figur rückt zusehends in den Hinter­grund, Aufgaben müssen bewältigt werden, seine Befind­lich­keiten sind nicht mehr das Zentrum seines Univer­sums, ein formaler und inhalt­li­cher Perspek­ti­ven­wechsel der das Publikum mitreisst. Sehens­wert.

Formal etwas unfertig, nicht ausge­reift ist Brat Dejan von Bakur Bakuradze, trotzdem ein inter­es­santer Film. Ein ehema­liger serbi­scher General, seit Jahren unter­ge­taucht, vom inter­na­tio­nalen Straf­ge­richtshof gesucht, wird, auch aus Kalkül seiner politisch wieder aktiven Freunde, aus seinem, unge­nannten, bishe­rigen Versteck gebracht, um in einem Dorf versteckt zu werden. Nicht die Frage der Schuld des Alten (gross­artig: Marko Nicolić) ist die Geschichte, sondern eher die selbst­ge­wählte Isolation, um einer Strafe zu entgehen, die totale Abschot­tung von der Welt, die sich weiter­be­wegt hat, während er von der Vergan­gen­heit fest­ge­halten wird. Unaus­ge­reift sind Passagen, in denen sich Szenen, teilweise stumm, abspielen, von denen man im Verlauf erkennt, dass es Proben zu den Spiel­szenen sind,die später im Film wieder auftau­chen. Visuell fallen sie aus dem Rahmen, mit einge­blen­detem Timecode, Linien, die den Cash markieren, aber ihr Einsatz ist unrund und etwas beliebig. Genauso wie der Einsatz von Musik: plötzlich, vehement, ohne Notwen­dig­keit und ebenso plötzlich wieder vorbei. Oder: Szenen, die Flash­backs aus dem Krieg sind, tauchen verstreut im Film auf, meistens, aber nicht immer in 4:3 Format, manchmal, aber nicht immer in einer Art Super8-Ästhetik, und einmal unter­bro­chen von Regie­an­wei­sung, also komplett heraus­ge­nommen aus der Konti­nuität des Films. Es wirkt, als wäre einiges auspro­biert, und dann weder konse­quent durch­ge­halten, noch schlüssig verworfen worden, mit etwas mehr Entschie­den­heit in der Form wäre das ein sehr eindring­li­cher Film.

Bei weiterhin hoch­som­mer­li­chen Tempe­ra­turen endet der Abend auf der Piazza Grande – nach der Verlei­hung von Ehren­leo­parden an den russi­schen Regisseur Marlen Khutsiev und Office Kitano – mit La belle saison von Catherine Corsini, gefolgt von Le dernier passage von Pascale Magontier. La belle saison, ange­sie­delt in den frühen 1970er Jahren in Frank­reich, die Anfänge der Frau­en­be­we­gung, Recht auf Abtrei­bung, Schwulen- und Lesben­be­we­gung, laut, bunt, aggressiv, und mitten­drin eine junge Frau vom Land, die viel­leicht etwas anderes will, als es in ihrem dörf­li­chen Umfeld gibt. Die vor allem aber auch der Enge entfliehen will, die sie hindert, ihre lesbische Liebe zu leben. In Paris scheint alles ganz leicht zu gehen, bis sie nach einem Herz­an­fall ihres Vaters zurück fährt. Wieder auf dem Land wird der Film langsamer, ruhiger, die Probleme aller­dings wachsen an. Eine Entwick­lungs­ge­schichte, die Entschei­dung zu sich zu stehen auch gegen gängige Muster, die großen gesell­schaft­li­chen Ände­rungen, im kleinen, eigenen Leben zu inte­grieren. Dabei bleibt der Film leicht, erzählt flüssig und in schönen Bildern, getragen von tollen Darstel­le­rinnen. Le dernier passage, 28 Minuten, ein Gang mit der Kamera durch die, aus Konser­vie­rungs­gründen, nach­ge­baute prähis­to­ri­schen Höhlen von Chauvet. Auf der riesigen Leinwand ein umwer­fendes Erlebnis.

Insgesamt ein recht guter Festi­val­ein­stieg; die gezeigten Filme, so Carlo Chatrian, sollen und wollen keine Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen, es wird sich zeigen, in wie weit die Filme das erfüllen.

Tag_2 Wolken­loses Vergnügen

Unge­trübte Urlaubs­stim­mung am Lago Maggiore, und mit Keeper von Guillaume Senez ein Film am Morgen, mit dem man den Tag gerne beginnt. Die Liebes­ge­schichte der beiden 15-Jährigen wird kompli­ziert und auch auf die Probe gestellt, als Mélanie schwanger wird. Kind behalten, Kind abtreiben? Ein, vers­tänd­li­ches, Schwanken bewegt die beiden Figuren, mal will er, aber sie nicht, dann wieder anders­herum, die Gefühle fahren Achter­bahn. Entgegen dem, was man erwarten würde, erzählt der Film eher aus der Perspek­tive des Jungen, aller­dings etwas unent­schlossen, es fehlen tiefere Momente in seinem Entschei­dungs­fin­dungs­pro­zess, so wirkt manche Wende unver­mit­telt; als Studie zum Problem früher Eltern­schaft und dem Umgang mit plötz­li­cher Verant­wor­tung funk­tio­niert der Film wunderbar, nicht zuletzt wegen seiner fabel­haften jungen Darsteller, und sicher auch, weil er sich ein kitschiges Happy-End spart.

Das erste schwei­ze­ri­sche Programm der Sektion »Pardi di domani« beginnt fulminant, mit einem märchen­haften Anima­ti­ons­film D’ombre et d’ailes von Eleonora Marioni und Elice Meng, eine schöne, ein wenig melan­cho­li­sche Hommage an die persön­liche Freiheit, an die Eigen­ver­ant­wor­tung, an eine Welt, in der nicht alle gleich­ge­schaltet werden. Formal wie inhalt­lich expe­ri­men­tell: Ein Ort wie dieser von Philip Meyer. Eine radikale Bild­füh­rung, rabiate, poin­tierte Schnitte, eine spannende Tondra­ma­turgie, eine Nachschau: Was wurde aus einem Gefängnis in Luzern, in dem in den 60er Jahren auch Wehr­dienst­ver­wei­gerer einge­sperrt wurden? Basis für den Rückblick ist die Auto­bio­gra­phie eines ehema­ligen Insassen, kontra­punk­tisch unterlegt mit Bildern des heute als Künst­ler­haus fungie­renden Gebäudes; 8 Minuten Hoch­span­nung! Welt­po­li­tisch aber nicht didak­tisch: Just Another Day in Egypt von Corina Schwing­huber Illič und Nikola Illič. Ein Tag in Kairo, Menschen gehen ihren diversen Beschäf­ti­gungen nach, beiläu­fige Inter­views zur Lage in Ägypten nach dem letzten Wahlen, Alltag konzen­triert in elf Minuten. Nur der Text im Abspann verweist auf die noch lange nicht beendeten Demo­kra­ti­sie­rung des Landes, unauf­dring­lich und sehr wahr.
The Waiting Room von Igor Drjača erzählt von einem Schau­spieler und Komiker, der während des Bosni­en­krieges nach Kanada geflüchtet ist. Zwanzig Jahre lebt er dort, hat eine Familie gegründet, und doch bestimmen Entwur­ze­lung, Schuld­ge­fühle und Heimweh sein Leben. Der Film erzählt in Bögen, von denen nicht auf Anhieb klar ist, wie sie zeitlich zusammen hängen, oder was Realität und was Wunsch ist. Die Stränge über­schneiden sich, Szenen scheinen sich zu wieder­holen, und erst gegen Ende meint man, Wahr von Unwahr unter­scheiden zu können, und ist, genau wie der Prot­ago­nist, einer Lösung nicht wirklich näher gekommen.

Moderation vor der Leinwand
Der gutge­launte Festi­val­leiter Carlo Chatrian (ganz rechts) (Foto: Christine Dériaz)

Eine Piazza voller Helden: ein Ehren­leo­pard für den kräftig beju­belten Andi Garcia, gefolgt von Der Staat gegen Fritz Bauer von Lars Kraume. So spannend, gut gemacht und toll gespielt kann deutsche Nach­kriegs­ge­schichte sein. Erzählt wird die Geschichte des Gene­ral­staats­an­walts, Fritz Bauer, der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, mutig und ziemlich allein dafür gekämpft hat, unter­ge­tauchte Nazis vor Gerichte zu bringen. Unter anderem, indem er dem israe­li­schen Mossad Hinweise auf den Aufent­haltsort Eichmanns gegeben hat. Etwas, wofür er wegen Landes­ver­rats hätte einge­sperrt werden können. Ein unschein­ba­rere Held, der letztlich eine ganze Menge hat bewegen können. Und gegen Mitter­nacht dann noch Southpaw von Antoine Fuqua, eine klas­si­sches Boxer-Drama, vom tiefen Fall und vom wieder Aufstehen. Keine großen Über­ra­schungen im Ablauf der Geschichte, aber sehr solide Arbeit, packende Kampf­se­quenzen mit der genreüb­li­chen Portion Sozial-und Familien Kitsch. Nach soviel Helden­haftem kann man entspannt schlafen gehen, und von Helden träumen, oder viel­leicht mal von Heldinnen?

Tag_3 Slapstick und Monster

Plastikstuhl
Hart: die Kinositze der Piazza (Foto: Christine Dériaz)

Hintern und Rücken rebel­lieren bei jedem Kontakt mit den harten Plastik-Kino­sitzen, da helfen auch die Gratis-Sitz­kissen der Sponsoren nichts. Was aller­dings, wenn auch nur kurz­zeitig Abhilfe schafft, sind Vorstel­lungen, die nicht zum Wett­be­werbs­pro­gramm gehören: Retro­spek­tive Sam Packinpah, Semaine de la critique, Panorama Suisse. Eine physische Erholung wie auch eine grosse Freude ist deshalb: Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern von Stina Werenfels. In der Schweiz und in Deutsch­land bereits gelaufen, kann man diesen Film über das sexuelle Erwachen einer geistig behin­derten jungen Frau nur empfehlen. Die Borniert­heit der ach-so-aufge­klärten Eltern, die Wider­wär­tig­keit ihres Lieb­ha­bers und die unge­hemmte Lebens­freude Doras ergeben einen guten, inter­es­santen und auch lustigen Film, ohne dabei den ernsten Hinter­grund aus den Augen zu verlieren.

Das Program Pardi di domani, inter­na­tional, bietet nichts wirklich sehens­wertes, I Rember Nothing von Zia Anger bildet eine Ausnahme. Eine Geschichte von einer jungen Studentin, der immer wieder Teile ihres Lebens fehlen, weil sie, ohne es zu wissen, an epilep­ti­schen Anfällen leidet, visuell relativ spannend erzählt, Bild­aus­schnitte, die verwirren, struk­tu­riert in den fünf Etappen, die einem epilep­ti­schen Anfall in der Medizin zuge­ordnet werden. Der bisher beste Film: Schneider vs. Bax von Alex van Warmerdam. Er fängt an als konven­tio­nelle Geschichte von einem Auftrags­mord, fröh­li­ches Fami­li­en­leben beim Killer zu Hause, bis das Telephon klingelt und er seinen Mord­auf­trag bekommt. Dringend sei der Auftrag, ein Kinder­mörder muss erledigt werden. Was dann kommt, ist an Klamauk kaum zu über­bieten. Das Opfer lebt in einer Hütte mitten mitten im Schilf, dessen Archi­tektur eine perfekte Bühne für Auftritte und Abgänge wie in einem rasanten Slapstick bietet. Menschen tauchen durch eine Tür auf, während durch die andere welche hinaus­kom­ple­men­tiert werden; Freundin raus, Tochter rein, Tochter weg, Vater mit neuer Freundin rein…. Das vermeint­liche Opfer bekommt seiner­seits den Auftrag, den Killer zu töten, und immer mehr Menschen erscheinen und stehen im Weg. Die Komik entsteht vor allem durch die Ernst­haf­tig­keit mit der die Figuren bei ihren Rollen bleiben, jeder bemüht, seinen Auftrag zu erfüllen, und das was für den Zuschauer wie Komödie wirkt, ist für die Figuren nur ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Gewürzt ist das Ganze dann noch mit zum Teil irren Dialogen, und Freunde des Hitman-Genres werden trotzdem nicht um ihre Komplotte und Leichen betrogen; einfach wunderbar!

Der Nachtmahr von AKIZ ist laut, spannend, originell. Das Leben der 18 jährigen Julia besteht neben Schule aus Partys, Drogen und Musik, aber irgend­etwas scheint sie zu ängstigen. Ein Unfall geschieht, oder ist sie nur ohnmächtig geworden? Und was lauert in der Küche? Was anfängt, wie eine Teenager Horror Story, entwi­ckelt sich zu einer dunklen, aber sehr liebe­vollen Annähe­rung an das verbor­gene Selbst. Der Nachtmahr, der Julia heimsucht, erinnert an Golum, schmatzt und grunzt und verliert zusehends seinen Schrecken für die Prot­ago­nistin, entfernt sie dabei aber immer weiter von ihrem bishe­rigen Umfeld. Ruhige Phasen, in denen sie sich zwischen lähmender Angst und Neugier bewegt, werden unter­bro­chen von Partys mit hämmernder Musik, und während die Eltern und Freunde Julia immer mehr für verrückt halten, wird sie immer selbst­be­wusster. Ein Film mit Sogwir­kung und einem eher offenen Ende.

Dating Queen von Judd Apatow, auf der Piazza Grande »geschwänzt«, den letzten 10 Minuten nach zu urteilen eine entbehr­liche roman­ti­sche Komödie. Der Mitter­nachts­film: Jack von Elisabeth Scharang über den Frau­en­mörder, Frau­en­lieb­ling und Dichter Jack Unter­weger. Eine Annähe­rung an eine sowohl charis­ma­ti­sche wie auch gefähr­liche, impulsive Person, einer der sich aus miesen Lebens­um­ständen immer wieder heraus­ge­holt hat, um dann noch ein Stück weiter darin zu versinken. Sehr gut gemacht, schön gedreht, mit tollen Darstel­lern, wenn auch Johannes Krisch als Jack zu wenig körper­liche Präsenz hat, schade, da genau das eigent­lich eine seiner Stärken ist. Leider verlei­tete der einset­zende Regen viele Zuschauer kurz vor Ende des Films, die Pliazza flucht­artig zu verlassen.

Tag_4 Anarchie und Tränen

Le grand Jeu von Nicolas Pariser ist ein ordent­lich gemachter, hübsch gedrehter etwas dialog­las­tiger Film über ein poli­ti­sches Komplott. Alte Linke, neue Linke, Frank­reichs Innen­mi­nister auf Stim­men­fang mittels härtere Anti­ter­ror­ge­setzte, und ein etwas undurch­sich­tiger »Strip­pen­zieher«, der ihn auf seinem Posten ablösen möchte. Oder doch einfach nur weiter Komplotte schmieden will? Für Fans der Gattung.

Ein durch­gängig tolles Programm gab es bei den Pardi di domani bisher nicht, in der heutigen, inter­na­tio­nalen, Ausgabe fielen zwei Filme positiv auf: Mama von Davit Pirts­khalava, zeichnet ein einfühl­sames Bild zweier Brüder in einem ärmlichen Viertel. Zwischen fast kind­li­chen Spielen mit der Mutter und nächt­li­chen Dieb­stählen, zu denen der grössere Bruder eine Waffe mitnimmt, und dennoch dominiert ein Wille nach Harmonie, nach Gutmachen. Ein Film in dem vieles unaus­ge­spro­chen bleibt, der aber eine grosse Wärme vermit­telt. Von grossem Schmerz handelt der zweite Film: Des millions de larmes von Natalie Beder. Ein älterer Mann liest eine junge Frau, fast buchs­täb­lich, am Straßen­rand auf, bietet ihr an, sie im Auto mitzu­nehmen. Die Frau ist miss­trau­isch, latent aggressiv, und auch vom Mann geht eine unter­schwel­lige Wut aus, trotzdem bietet er ihr an, ein Hotel­zimmer für sie zu zahlen, sie weiterhin mitzu­nehmen. Als sie sich am nächsten Tag im Auto streiten, und das Mädchen aussteigt, dreht er wieder um, holt sie zurück, bittet sie, ihn noch etwas zu begleiten. Doch alle Vorstel­lungen, die zu dieser Konstel­la­tion passen, erweisen sich als falsch; sind Illu­sionen eines Vaters auf dem Weg, seine als Tramperin zu Tode gekommene Tochter zu iden­ti­fi­zieren.

Te prometo anraquía von Julio Hernández Cordón, die verspro­chene Anarchie gibt es in diesem Film nicht. Dafür jede Menge skatende Jugend­liche, die Geld verdienen, in dem sie Blut­spender an eher suspekte Stellen vermit­teln, Liebe, Eifer­sucht und Freund­schaft. Bis dann ein besonders lukra­tiver Blut­spen­der­deal massiv daneben geht und das ganze fragile Gebilde von Spass und Gefahr zum eins­türzen bringt, und die beiden Prot­ago­nisten, beste Freunde und Liebhaber, wohl für immer trennt. Der Film braucht etwas lang, um Fahrt aufzu­nehmen, macht das aber dann mit zuneh­mender Spannung wett.

Michael Cimino
Michael Cimino (Foto: Christine Dériaz)

Ehrengast des Abends Michael Cimino, der zunächst ange­sichts der Zuschauer schweigt, um dann viel und lang zu sprechen, übers Filme­ma­chen, über Lebens­wege, über Entschei­dungen. Und dann die Leopar­den­skulptur als verbes­se­rungs­würdig u befinden, weil: sie sähe eher aus wie ein Hühnchen, als wie ein furcht­ein­flös­sendes Raubtier! Sein ab Mitter­nacht gezeigter Film The Deer Hunter hat womöglich weniger Zuschauer als er verdient, da seit kurz nach Mitter­nacht ein kräftiges Unwetter tobt.

Der erste Film des Abends auf der Piazza hatte dagegen mehr Glück. Floride von Philippe LeGuay ist eine Vater-Tochter Geschichte, ein kauziger, zunehmend verwirrt werdender Vater, eine patente Tochter und der Versuch, ihrer beider Leben und Bedürf­nisse unter einen Hut zu bringen, ohne zu verzwei­feln und ohne schlechtes Gewissen. Der Film hat viele gute, auch lustige Momente, aber er über­rascht im Ablauf nicht, und so kommt es zu allen erwart­baren Reibungs­punkten und auch zum erwart­baren Ende.

Tag_5 Kalei­do­sko­pi­sches und Schweizer SciFi

Ein echtes Wow-Erlebniss gleich am Morgen: Cosmos von Andrej Zulawski. Zwei junge Männer kommen gleich­zeitig in einem portu­gie­si­schen Dorf an, einer ätherisch, androgyn, am Leben und an der Liebe leidend, ein roman­ti­siernder Möch­te­gern-Poet ganz im Stil des 19. Jahr­hun­derts, der andere eine Art Clown, charmant, nicht zu fassen, komisch, erdig; am Ende werden beide wieder abreisen. Dazwi­schen ein surreales Kalei­do­skop von Irrsinn, erhängte Spatzen, schräge Gestalten in einem verwun­schenen Fami­li­en­hotel, bizarre Ereig­nisse und dazwi­schen immer wieder der roman­ti­sche Held, Gedicht­frag­mente rezi­tie­rend, sich nach der schönen – und verhei­ra­teten – Tochter des Hauses verzeh­rend. Die Bilder sind bunt und fließend, aber bei jeder Drehung des Kalei­do­skops etwas anders als vorher, scharf gezeichnet, aber nicht eindeutig greifbar, genau wie das doppelte Ende der Geschichte, Varianten sind möglich, denkbar, sichtbar, aber nie eindeutig.

Gut gelaunt also zu den Pardi di domani, und: Belohnung, drei Filme, die wirklich über­zeugen können. Haus­ar­rest von Matthias Sahli, eine böse, komische Story, von einem Mann, der sich mit Fußfessel in Haus­ar­rest befindet, einer spre­chenden, compu­ter­ge­steu­erten Fußfessel, einer, die zunächst wie eine elek­tro­ni­sche Sekre­tärin Vorschläge zur Gestal­tung und Verein­fa­chung des Alltags anbietet, und mit der Zeit Entschei­dungen trifft und ausführt, die man nur als extrem rabiat bezeichnen kann. Sehr grell.

Ganz ruhig, kontem­plativ, aber nicht weniger über­ra­schend ist: The Meadow von Jela Hasler. Kühe grasen, von Hirten­hunden beauf­sich­tigt, alles sieht wie ein x-belie­biger fried­li­cher Ort aus, je weiter der Tag fort­schreitet, um so mehr sieht man, wo die Kühe grasen, umgeben nicht nur von Zäunen und Autobahn, sondern auch von Minen­warn­schil­dern und bewacht von Soldaten. Kuh-Alltag auf dem Golan. Persi von Lora Mure-Ravaud ist eine kleine, sehr schön erzählte Fami­li­en­ge­schichte. Mutter, Vater, ein kleiner Junge, Fröh­lich­keit, bis sich heraus­stellt, dass 10 Jahre zuvor ihre kleine Tochter verschwunden ist. Das Fami­li­en­glück ist fragil, während die Mutter sich mit der Situation abge­funden hat, und sich um ihren kleinen Sohn kümmert, wird der Vater immer wieder aus der Bahn geworfen, mit gefähr­li­chen Konse­quenzen für seinen Sohn. Ein kurzer Ausschnitt aus einem fremden Leben, ruhig und einfühlsam erzählt.

Warteschlange am Einlass
Warte­schlange zu Heimat­land (Foto: Christine Dériaz)

Der schweizer Science Fiction Film Heimat­land zieht massen­weise Zuschauer an, dichtes Gedränge am Eingang des Fevi, ausver­kaufter Saal. Der Film ist eine Art Expe­ri­ment, 10 Regis­seure (Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krum­men­acher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Schei­willer) haben an der Geschichte gear­beitet, haben mit insgesamt drei Kame­ra­leuten gedreht, was hinterher von einem Cutter zu einer wunder­baren, düsteren Groteske für die Leinwand wurde. Ein unge­klärtes Wetter­phä­nomen bedroht die Schweiz, eine dunkle Wolke, von der ange­nommen wird, dass sie sich in abseh­barer Zeit in einem mons­trösen Orkan entladen wird. Rasch wird klar, dass diese Bedrohung exakt auf die Schweiz beschränkt bleibt, an verschie­denen Orten sieht man Menschen auf dieses Bedrohung reagieren. Das typische Szenario solcher Kata­stro­phen wird aufge­rollt, Plün­de­rungen, Politiker, die machtlos versuchen, Schaden zu begrenzen, Resi­gna­tion, Fana­tismus jeglicher Art. Immer mehr Menschen versuchen das Land zu verlassen, die Reak­tionen aus dem Ausland sind radikal und eindeutig: Es werden keine Schweizer Flücht­linge mehr aufge­nommen. Der Wechsel von Ort zu Ort, von Prot­ago­nisten zu Prot­ago­nisten funk­tio­niert, das Ausmaß der Kata­strophe und des Chaos erzählt sich in Etappen über die Wechsel von einer Region zur anderen. Spannend, bedrü­ckend, vermut­lich sehr wahr.

Auf der Piazza Grande dann ein Ehren­leo­pard für die wunder­bare Bulle Ogier, über­reicht von Chatrian, der sich jeden Abend über seine Ehren­gäste freut wie ein kleiner Junge, der ein Geschenk auspackt. Gefolgt dann von einer kana­di­sche Polit-Komödie: Guibors s'en va-t-en guerre von Philippe Faradeau. Ein partei­loser Parla­ments­ab­ge­ord­neter findet sich plötzlich in der Position die entschei­dende Stimme für oder gegen den Einsatz kana­di­scher Soldaten im Nahen Osten zu sein. Gewis­sens­kon­flikte, versuchte Einfluss­nahmen, diverse Probleme in seinem Wahlkreis plus ein Prak­ti­kant aus Haiti, der ihm voller Enthu­si­asmus und mit vielen unkon­ven­tio­nelle Vorschlägen zur Seite steht.
Komödie mit ernstem Hinter­grund, leicht erzählt, witzige Dialoge, alles in schöner kana­di­scher Land­schaft, und ein Ende, das realis­tisch bleibt.

Tag_6 Drei Konti­nente an einem Tag

Der chine­si­sche Film Lu bian ye can (Kaili Blues) von Bi Gan ist eine wunder­bare Entde­ckung. Alleine die Bild­ge­stal­tung ist es wert, diesen Film zu sehen, so gut wie jede Einstel­lung ist in sich schon toll, Spie­ge­lungen und Schatten verdichten die Szenen, ohne dass die Kamera sich bewegt, wodurch immer neue Aspekte des Bildes, der Geschichte hervor­treten. Die Zeit scheint linear im Ablauf, aber viel­leicht ist alles auch gar nicht dort auf einer Zeitlinie, wo der Zuschauer es vermutet. Metaphern für Zeit, das Vergehen von Zeit, die Suche nach verlo­rener Zeit, die Suche des Prot­ago­nisten nach dem, was er verloren hat, während er neun Jahre im Gefängnis war. Fast eine Geschichte innerhalb der Geschichte: eine sehr lange Plan­se­quenz, die Kamera folgt einem Motorrad, biegt dann aber ab, trifft wieder auf das Motorrad, folgt mal dieser, mal jener Figur, verweilt, kommt zurück, und verlässt diesen Exkurs auf demselben Weg wieder.

Der einzige Film, vor dem dieses Jahr zarte Gemüter gewarnt werden ist Tikku von Avishai Sivan. Die vermut­lich erreg­testen Gemüter dürfte der Film in Israel haben, die Geschichte des Yeshiva-Studenten, der von Rettungs­sa­ni­tä­tern schon für tot erklärt wird, dessen Vater aber weiter Herz­mas­sage macht, und ihn so doch ins Leben zurück­holt, könnte in eingen Kreisen nicht so gut ankommen. Nach seiner Rettung ist er Student einfach nicht mehr er selbst, findet sich in seinem Leben nicht mehr zurecht, hadert mit sich. Während seinen Vater düstere Albträume quäle, in denen er sich bezich­tigt, Gottes Willen miss­achtet zu haben. Schwarz­weiß-Bilder einer Welt, die ziemlich fremd anmutet, und doch sind die Probleme an sich univer­sell, eine Suche nach sich selbst, nach seinem Platz im Leben, nichts weniger.
Die Kata­log­be­schrei­bung von Dead Slow Ahead von Mauro Herce schreckt ein wenig ab, was dann aber auf der Leinwand zu sehen ist, ist tolles Doku­men­tar­kino. Ein Monster von einem Fracht­schiff, auf dem Weg durch den Atlantik und das Mittel­meer, endgül­tiges Ziel noch unbekannt, die paar Mann Besatzung nehmen sich wie Ameisen aus, im Vergleich zu den riesigen Metall­teilen und zur Weite des Meeres. Inter­es­sante Bilder, eine fast medi­ta­tiver Schnitt­rhythmus und eine eindring­liche Geräusch­dra­ma­turgie, versetzen den Zuschauer mitten ins Geschehen und sorgen für Spannung.

Eine Frage zwischen­durch: wieso machen Menschen in einem Festi­val­kino Bilder von der Leinwand? Nicht etwa von der leeren Leinwand vor dem Film, sondern vom Film und während der Vorstel­lung? Das kommt an Ärgernis noch vor den Zuschauern, die ihrem Sitz­nach­barn erklären, was alle im Saal gerade gesehen haben.

Ein Abend auf der Piazza Grande ohne Ehren­leo­parden! Dafür ein 159 Minuten langer indischer Film Noir, ange­sie­delt zwischen 1949 und 1969. Zwei Straßen­jungs werden Freunde, vom Klein­kri­mi­nellen bewegen sie sich die Karrie­re­leiter hinauf zu anzug­tra­genden Hand­lan­gern der großen Verbre­cher und geraten schließ­lich als Bauern­opfer zwischen die Fronten von Verbre­chen und Politik. Dazu eine hübsche Nacht­club­sän­gerin, die das Herz des einen Freundes erobert, man meint einen Scorsese-Film vor sich zu haben, und liegt insofern nicht falsch, als der Regisseur von Bomay Velvet Anurag Kashyap sowohl ein Scorsese- als auch ein Film-Noir-Fan ist und Thelma Scho­on­maker beim Schnitt ihre wendigen Finger mit im Spiel hatte. Blutig, rasant, und – fast – keiner kommt lebend aus der Geschichte, so wie sich das gehört.
Bisher war noch bei keinem Film auf der Piazza der Applaus so laut, dass man eine Prognose zum Publi­kums­preis treffen könnte, entweder war’s das alles noch nicht, oder das ist ein sehr zurück­hal­tendes Publikum in diesem Jahr.