Die Leoparden sind los! |
||
Aufgefächert: Christine Dériaz schreibt jeden Tag von ihren Seherlebnissen und fotografiert dazu. | ||
(Foto: Christine Dériaz) |
Von Christine Dériaz
Tag 1: Leoparden in Freiheit und anderes schützenwertes (Kultur-)Gut
Tag 2: Wolkenloses Vergnügen
Tag 3: Slapstick und Monster
Tag 4: Anarchie und Tränen
Tag 5: Kaleidoskopisches und Schweizer SciFi
Tag 6: Drei Kontinente an einem Tag
+ + +
Im Tessin sind wieder die Leoparden los. Geschützt, furchtlos, eigensinnig und mit einem frisch erhöhten Kulturetat, Leoparden, die sich nicht nur von Popcorn(-Kino) ernähren, Filme für den kritischen Geist, Filme als »Absage an die Beliebigkeit«, so Festivalpräsident Marco Solari in seiner Eröffnungsrede. Die Erwartungen sind hoch im sommerlich schwitzenden Locarno.
Eröffnet wurde das 68. Filmfestival, das 3. unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian, auf der
rappelvollen Piazza Grande, mit Jonathan Demmes Ricki and the Flash. Kein wahnsinnig intellektueller Film, aber insgesamt fröhliches Treiben, gewürzt mit Klassikern der Rockmusik, überschaubaren familiären Problemen, die am Ende – natürlich – eine, für alle Beteiligten, annehmbare Lösung erfahren. Ein sogenanntes Feel-Good-Movie, nicht übermässig romantisch
– zum Glück – aber auch nichts worüber man sich noch stundenlang den Kopf zerbricht, für einen Eröffnungsfilm auf der Piazza völlig in Ordnung; Intensiveres wird sicherlich folgen.
Intensiv, ja, aber intensiv langweilig der kambodschanische Film Dreamland von Steve Chen. In den ersten 10 Minuten überrascht der Film mit schönen, interessanten Bildern, sehr grafisch, leicht wehende Gardinen, die der Strenge eines Raumes etwas Verspieltes geben, Lichtreflexe von der Seite, die den Vordergrund teilweise abstrakt verschwimmen lassen, schön. Aber dann mutiert diese Handschrift zum Manierismus, scheint verliebter
Selbstzweck zu werden, wird überstrapaziert, spätestens da fällt auf, dass die Figuren nicht viel zu bieten haben, ausser dekorativer und sprechender Teil der Bilder zu sein. Kein brillanter Start in einen Festivaltag.
Sehr viel packender: James White von Josh Mond. Am Anfang ist die Kamera ständig nah, rau, bewegt und frontal auf dem Protagonisten, wodurch ein Sog ins Innenleben der Figur entsteht, mitfühlen in sehr wörtlichem Sinn;
anstrengend ist das, aber auch sehr spannend, eine geistige Subjektive. James White taumelt durch sein Leben, lässt sich hängen, säuft, grübelt, feiert, orientierungslos, bis bei seiner Mutter erneut Krebs festgestellt wird. Unmerklich beruhigt sich die Kamera, das Ich der Figur rückt zusehends in den Hintergrund, Aufgaben müssen bewältigt werden, seine Befindlichkeiten sind nicht mehr das Zentrum seines Universums, ein formaler und inhaltlicher Perspektivenwechsel der das
Publikum mitreisst. Sehenswert.
Formal etwas unfertig, nicht ausgereift ist Brat Dejan von Bakur Bakuradze, trotzdem ein interessanter Film. Ein ehemaliger serbischer General, seit Jahren untergetaucht, vom internationalen Strafgerichtshof gesucht, wird, auch aus Kalkül seiner politisch wieder aktiven Freunde, aus seinem, ungenannten, bisherigen Versteck gebracht, um in einem Dorf versteckt zu werden. Nicht die Frage der Schuld des Alten (grossartig: Marko Nicolić) ist die Geschichte, sondern eher die selbstgewählte Isolation, um einer Strafe zu entgehen, die totale Abschottung von der Welt, die sich weiterbewegt hat, während er von der Vergangenheit festgehalten wird. Unausgereift sind Passagen, in denen sich Szenen, teilweise stumm, abspielen, von denen man im Verlauf erkennt, dass es Proben zu den Spielszenen sind,die später im Film wieder auftauchen. Visuell fallen sie aus dem Rahmen, mit eingeblendetem Timecode, Linien, die den Cash markieren, aber ihr Einsatz ist unrund und etwas beliebig. Genauso wie der Einsatz von Musik: plötzlich, vehement, ohne Notwendigkeit und ebenso plötzlich wieder vorbei. Oder: Szenen, die Flashbacks aus dem Krieg sind, tauchen verstreut im Film auf, meistens, aber nicht immer in 4:3 Format, manchmal, aber nicht immer in einer Art Super8-Ästhetik, und einmal unterbrochen von Regieanweisung, also komplett herausgenommen aus der Kontinuität des Films. Es wirkt, als wäre einiges ausprobiert, und dann weder konsequent durchgehalten, noch schlüssig verworfen worden, mit etwas mehr Entschiedenheit in der Form wäre das ein sehr eindringlicher Film.
Bei weiterhin hochsommerlichen Temperaturen endet der Abend auf der Piazza Grande – nach der Verleihung von Ehrenleoparden an den russischen Regisseur Marlen Khutsiev und Office Kitano – mit La belle saison von Catherine Corsini, gefolgt von Le dernier passage von Pascale Magontier. La belle saison, angesiedelt in den frühen 1970er Jahren in Frankreich, die Anfänge der Frauenbewegung, Recht auf Abtreibung, Schwulen- und Lesbenbewegung, laut, bunt, aggressiv, und mittendrin eine junge Frau vom Land, die vielleicht etwas anderes will, als es in ihrem dörflichen Umfeld gibt. Die vor allem aber auch der Enge entfliehen will, die sie hindert, ihre lesbische Liebe zu leben. In Paris scheint alles ganz leicht zu gehen, bis sie nach einem Herzanfall ihres Vaters zurück fährt. Wieder auf dem Land wird der Film langsamer, ruhiger, die Probleme allerdings wachsen an. Eine Entwicklungsgeschichte, die Entscheidung zu sich zu stehen auch gegen gängige Muster, die großen gesellschaftlichen Änderungen, im kleinen, eigenen Leben zu integrieren. Dabei bleibt der Film leicht, erzählt flüssig und in schönen Bildern, getragen von tollen Darstellerinnen. Le dernier passage, 28 Minuten, ein Gang mit der Kamera durch die, aus Konservierungsgründen, nachgebaute prähistorischen Höhlen von Chauvet. Auf der riesigen Leinwand ein umwerfendes Erlebnis.
Insgesamt ein recht guter Festivaleinstieg; die gezeigten Filme, so Carlo Chatrian, sollen und wollen keine Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen, es wird sich zeigen, in wie weit die Filme das erfüllen.
Ungetrübte Urlaubsstimmung am Lago Maggiore, und mit Keeper von Guillaume Senez ein Film am Morgen, mit dem man den Tag gerne beginnt. Die Liebesgeschichte der beiden 15-Jährigen wird kompliziert und auch auf die Probe gestellt, als Mélanie schwanger wird. Kind behalten, Kind abtreiben? Ein, verständliches, Schwanken bewegt die beiden Figuren, mal will er, aber sie nicht, dann wieder andersherum, die Gefühle fahren Achterbahn. Entgegen dem, was man erwarten würde, erzählt der Film eher aus der Perspektive des Jungen, allerdings etwas unentschlossen, es fehlen tiefere Momente in seinem Entscheidungsfindungsprozess, so wirkt manche Wende unvermittelt; als Studie zum Problem früher Elternschaft und dem Umgang mit plötzlicher Verantwortung funktioniert der Film wunderbar, nicht zuletzt wegen seiner fabelhaften jungen Darsteller, und sicher auch, weil er sich ein kitschiges Happy-End spart.
Das erste schweizerische Programm der Sektion »Pardi di domani« beginnt fulminant, mit einem märchenhaften Animationsfilm D’ombre et d’ailes von Eleonora Marioni und Elice Meng, eine schöne, ein wenig melancholische Hommage an die persönliche Freiheit, an die Eigenverantwortung, an eine Welt, in der nicht alle gleichgeschaltet werden. Formal wie inhaltlich experimentell: Ein Ort wie
dieser von Philip Meyer. Eine radikale Bildführung, rabiate, pointierte Schnitte, eine spannende Tondramaturgie, eine Nachschau: Was wurde aus einem Gefängnis in Luzern, in dem in den 60er Jahren auch Wehrdienstverweigerer eingesperrt wurden? Basis für den Rückblick ist die Autobiographie eines ehemaligen Insassen, kontrapunktisch unterlegt mit Bildern des heute als Künstlerhaus fungierenden Gebäudes; 8 Minuten Hochspannung! Weltpolitisch aber nicht
didaktisch: Just Another Day in Egypt von Corina Schwinghuber Illič und Nikola Illič. Ein Tag in Kairo, Menschen gehen ihren diversen Beschäftigungen nach, beiläufige Interviews zur Lage in Ägypten nach dem letzten Wahlen, Alltag konzentriert in elf Minuten. Nur der Text im Abspann verweist auf die noch lange nicht beendeten Demokratisierung des Landes, unaufdringlich und sehr wahr.
The Waiting
Room von Igor Drjača erzählt von einem Schauspieler und Komiker, der während des Bosnienkrieges nach Kanada geflüchtet ist. Zwanzig Jahre lebt er dort, hat eine Familie gegründet, und doch bestimmen Entwurzelung, Schuldgefühle und Heimweh sein Leben. Der Film erzählt in Bögen, von denen nicht auf Anhieb klar ist, wie sie zeitlich zusammen hängen, oder was Realität und was Wunsch ist. Die Stränge überschneiden sich, Szenen scheinen sich zu wiederholen, und erst
gegen Ende meint man, Wahr von Unwahr unterscheiden zu können, und ist, genau wie der Protagonist, einer Lösung nicht wirklich näher gekommen.
Eine Piazza voller Helden: ein Ehrenleopard für den kräftig bejubelten Andi Garcia, gefolgt von Der Staat gegen Fritz Bauer von Lars Kraume. So spannend, gut gemacht und toll gespielt kann deutsche Nachkriegsgeschichte sein. Erzählt wird die Geschichte des Generalstaatsanwalts, Fritz Bauer, der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre, mutig und ziemlich allein dafür gekämpft hat, untergetauchte Nazis vor Gerichte zu bringen. Unter anderem, indem er dem israelischen Mossad Hinweise auf den Aufenthaltsort Eichmanns gegeben hat. Etwas, wofür er wegen Landesverrats hätte eingesperrt werden können. Ein unscheinbarere Held, der letztlich eine ganze Menge hat bewegen können. Und gegen Mitternacht dann noch Southpaw von Antoine Fuqua, eine klassisches Boxer-Drama, vom tiefen Fall und vom wieder Aufstehen. Keine großen Überraschungen im Ablauf der Geschichte, aber sehr solide Arbeit, packende Kampfsequenzen mit der genreüblichen Portion Sozial-und Familien Kitsch. Nach soviel Heldenhaftem kann man entspannt schlafen gehen, und von Helden träumen, oder vielleicht mal von Heldinnen?
Hintern und Rücken rebellieren bei jedem Kontakt mit den harten Plastik-Kinositzen, da helfen auch die Gratis-Sitzkissen der Sponsoren nichts. Was allerdings, wenn auch nur kurzzeitig Abhilfe schafft, sind Vorstellungen, die nicht zum Wettbewerbsprogramm gehören: Retrospektive Sam Packinpah, Semaine de la critique, Panorama Suisse. Eine physische Erholung wie auch eine grosse Freude ist deshalb: Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern von Stina Werenfels. In der Schweiz und in Deutschland bereits gelaufen, kann man diesen Film über das sexuelle Erwachen einer geistig behinderten jungen Frau nur empfehlen. Die Borniertheit der ach-so-aufgeklärten Eltern, die Widerwärtigkeit ihres Liebhabers und die ungehemmte Lebensfreude Doras ergeben einen guten, interessanten und auch lustigen Film, ohne dabei den ernsten Hintergrund aus den Augen zu verlieren.
Das Program Pardi di domani, international, bietet nichts wirklich sehenswertes, I Rember Nothing von Zia Anger bildet eine Ausnahme. Eine Geschichte von einer jungen Studentin, der immer wieder Teile ihres Lebens fehlen, weil sie, ohne es zu wissen, an epileptischen Anfällen leidet, visuell relativ spannend erzählt, Bildausschnitte, die verwirren, strukturiert in den fünf Etappen, die einem epileptischen Anfall in der Medizin zugeordnet werden. Der bisher beste Film: Schneider vs. Bax von Alex van Warmerdam. Er fängt an als konventionelle Geschichte von einem Auftragsmord, fröhliches Familienleben beim Killer zu Hause, bis das Telephon klingelt und er seinen Mordauftrag bekommt. Dringend sei der Auftrag, ein Kindermörder muss erledigt werden. Was dann kommt, ist an Klamauk kaum zu überbieten. Das Opfer lebt in einer Hütte mitten mitten im Schilf, dessen Architektur eine perfekte Bühne für Auftritte und Abgänge wie in einem rasanten Slapstick bietet. Menschen tauchen durch eine Tür auf, während durch die andere welche hinauskomplementiert werden; Freundin raus, Tochter rein, Tochter weg, Vater mit neuer Freundin rein…. Das vermeintliche Opfer bekommt seinerseits den Auftrag, den Killer zu töten, und immer mehr Menschen erscheinen und stehen im Weg. Die Komik entsteht vor allem durch die Ernsthaftigkeit mit der die Figuren bei ihren Rollen bleiben, jeder bemüht, seinen Auftrag zu erfüllen, und das was für den Zuschauer wie Komödie wirkt, ist für die Figuren nur ein kleines Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Gewürzt ist das Ganze dann noch mit zum Teil irren Dialogen, und Freunde des Hitman-Genres werden trotzdem nicht um ihre Komplotte und Leichen betrogen; einfach wunderbar!
Der Nachtmahr von AKIZ ist laut, spannend, originell. Das Leben der 18 jährigen Julia besteht neben Schule aus Partys, Drogen und Musik, aber irgendetwas scheint sie zu ängstigen. Ein Unfall geschieht, oder ist sie nur ohnmächtig geworden? Und was lauert in der Küche? Was anfängt, wie eine Teenager Horror Story, entwickelt sich zu einer dunklen, aber sehr liebevollen Annäherung an das verborgene Selbst. Der Nachtmahr, der Julia heimsucht, erinnert an Golum, schmatzt und grunzt und verliert zusehends seinen Schrecken für die Protagonistin, entfernt sie dabei aber immer weiter von ihrem bisherigen Umfeld. Ruhige Phasen, in denen sie sich zwischen lähmender Angst und Neugier bewegt, werden unterbrochen von Partys mit hämmernder Musik, und während die Eltern und Freunde Julia immer mehr für verrückt halten, wird sie immer selbstbewusster. Ein Film mit Sogwirkung und einem eher offenen Ende.
Dating Queen von Judd Apatow, auf der Piazza Grande »geschwänzt«, den letzten 10 Minuten nach zu urteilen eine entbehrliche romantische Komödie. Der Mitternachtsfilm: Jack von Elisabeth Scharang über den Frauenmörder, Frauenliebling und Dichter Jack Unterweger. Eine Annäherung an eine sowohl charismatische wie auch gefährliche, impulsive Person, einer der sich aus miesen Lebensumständen immer wieder herausgeholt hat, um dann noch ein Stück weiter darin zu versinken. Sehr gut gemacht, schön gedreht, mit tollen Darstellern, wenn auch Johannes Krisch als Jack zu wenig körperliche Präsenz hat, schade, da genau das eigentlich eine seiner Stärken ist. Leider verleitete der einsetzende Regen viele Zuschauer kurz vor Ende des Films, die Pliazza fluchtartig zu verlassen.
Le grand Jeu von Nicolas Pariser ist ein ordentlich gemachter, hübsch gedrehter etwas dialoglastiger Film über ein politisches Komplott. Alte Linke, neue Linke, Frankreichs Innenminister auf Stimmenfang mittels härtere Antiterrorgesetzte, und ein etwas undurchsichtiger »Strippenzieher«, der ihn auf seinem Posten ablösen möchte. Oder doch einfach nur weiter Komplotte schmieden will? Für Fans der Gattung.
Ein durchgängig tolles Programm gab es bei den Pardi di domani bisher nicht, in der heutigen, internationalen, Ausgabe fielen zwei Filme positiv auf: Mama von Davit Pirtskhalava, zeichnet ein einfühlsames Bild zweier Brüder in einem ärmlichen Viertel. Zwischen fast kindlichen Spielen mit der Mutter und nächtlichen Diebstählen, zu denen der grössere Bruder eine Waffe mitnimmt, und dennoch dominiert ein Wille nach Harmonie, nach Gutmachen. Ein Film in dem vieles unausgesprochen bleibt, der aber eine grosse Wärme vermittelt. Von grossem Schmerz handelt der zweite Film: Des millions de larmes von Natalie Beder. Ein älterer Mann liest eine junge Frau, fast buchstäblich, am Straßenrand auf, bietet ihr an, sie im Auto mitzunehmen. Die Frau ist misstrauisch, latent aggressiv, und auch vom Mann geht eine unterschwellige Wut aus, trotzdem bietet er ihr an, ein Hotelzimmer für sie zu zahlen, sie weiterhin mitzunehmen. Als sie sich am nächsten Tag im Auto streiten, und das Mädchen aussteigt, dreht er wieder um, holt sie zurück, bittet sie, ihn noch etwas zu begleiten. Doch alle Vorstellungen, die zu dieser Konstellation passen, erweisen sich als falsch; sind Illusionen eines Vaters auf dem Weg, seine als Tramperin zu Tode gekommene Tochter zu identifizieren.
Te prometo anraquía von Julio Hernández Cordón, die versprochene Anarchie gibt es in diesem Film nicht. Dafür jede Menge skatende Jugendliche, die Geld verdienen, in dem sie Blutspender an eher suspekte Stellen vermitteln, Liebe, Eifersucht und Freundschaft. Bis dann ein besonders lukrativer Blutspenderdeal massiv daneben geht und das ganze fragile Gebilde von Spass und Gefahr zum einstürzen bringt, und die beiden Protagonisten, beste Freunde und Liebhaber, wohl für immer trennt. Der Film braucht etwas lang, um Fahrt aufzunehmen, macht das aber dann mit zunehmender Spannung wett.
Ehrengast des Abends Michael Cimino, der zunächst angesichts der Zuschauer schweigt, um dann viel und lang zu sprechen, übers Filmemachen, über Lebenswege, über Entscheidungen. Und dann die Leopardenskulptur als verbesserungswürdig u befinden, weil: sie sähe eher aus wie ein Hühnchen, als wie ein furchteinflössendes Raubtier! Sein ab Mitternacht gezeigter Film The Deer Hunter hat womöglich weniger Zuschauer als er verdient, da seit kurz nach Mitternacht ein kräftiges Unwetter tobt.
Der erste Film des Abends auf der Piazza hatte dagegen mehr Glück. Floride von Philippe LeGuay ist eine Vater-Tochter Geschichte, ein kauziger, zunehmend verwirrt werdender Vater, eine patente Tochter und der Versuch, ihrer beider Leben und Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen, ohne zu verzweifeln und ohne schlechtes Gewissen. Der Film hat viele gute, auch lustige Momente, aber er überrascht im Ablauf nicht, und so kommt es zu allen erwartbaren Reibungspunkten und auch zum erwartbaren Ende.
Ein echtes Wow-Erlebniss gleich am Morgen: Cosmos von Andrej Zulawski. Zwei junge Männer kommen gleichzeitig in einem portugiesischen Dorf an, einer ätherisch, androgyn, am Leben und an der Liebe leidend, ein romantisiernder Möchtegern-Poet ganz im Stil des 19. Jahrhunderts, der andere eine Art Clown, charmant, nicht zu fassen, komisch, erdig; am Ende werden beide wieder abreisen. Dazwischen ein surreales Kaleidoskop von Irrsinn, erhängte Spatzen, schräge Gestalten in einem verwunschenen Familienhotel, bizarre Ereignisse und dazwischen immer wieder der romantische Held, Gedichtfragmente rezitierend, sich nach der schönen – und verheirateten – Tochter des Hauses verzehrend. Die Bilder sind bunt und fließend, aber bei jeder Drehung des Kaleidoskops etwas anders als vorher, scharf gezeichnet, aber nicht eindeutig greifbar, genau wie das doppelte Ende der Geschichte, Varianten sind möglich, denkbar, sichtbar, aber nie eindeutig.
Gut gelaunt also zu den Pardi di domani, und: Belohnung, drei Filme, die wirklich überzeugen können. Hausarrest von Matthias Sahli, eine böse, komische Story, von einem Mann, der sich mit Fußfessel in Hausarrest befindet, einer sprechenden, computergesteuerten Fußfessel, einer, die zunächst wie eine elektronische Sekretärin Vorschläge zur Gestaltung und Vereinfachung des Alltags anbietet, und mit der Zeit Entscheidungen trifft und ausführt, die man nur als extrem rabiat bezeichnen kann. Sehr grell.
Ganz ruhig, kontemplativ, aber nicht weniger überraschend ist: The Meadow von Jela Hasler. Kühe grasen, von Hirtenhunden beaufsichtigt, alles sieht wie ein x-beliebiger friedlicher Ort aus, je weiter der Tag fortschreitet, um so mehr sieht man, wo die Kühe grasen, umgeben nicht nur von Zäunen und Autobahn, sondern auch von Minenwarnschildern und bewacht von Soldaten. Kuh-Alltag auf dem Golan. Persi von Lora Mure-Ravaud ist eine kleine, sehr schön erzählte Familiengeschichte. Mutter, Vater, ein kleiner Junge, Fröhlichkeit, bis sich herausstellt, dass 10 Jahre zuvor ihre kleine Tochter verschwunden ist. Das Familienglück ist fragil, während die Mutter sich mit der Situation abgefunden hat, und sich um ihren kleinen Sohn kümmert, wird der Vater immer wieder aus der Bahn geworfen, mit gefährlichen Konsequenzen für seinen Sohn. Ein kurzer Ausschnitt aus einem fremden Leben, ruhig und einfühlsam erzählt.
Der schweizer Science Fiction Film Heimatland zieht massenweise Zuschauer an, dichtes Gedränge am Eingang des Fevi, ausverkaufter Saal. Der Film ist eine Art Experiment, 10 Regisseure (Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller) haben an der Geschichte gearbeitet, haben mit insgesamt drei Kameraleuten gedreht, was hinterher von einem Cutter zu einer wunderbaren, düsteren Groteske für die Leinwand wurde. Ein ungeklärtes Wetterphänomen bedroht die Schweiz, eine dunkle Wolke, von der angenommen wird, dass sie sich in absehbarer Zeit in einem monströsen Orkan entladen wird. Rasch wird klar, dass diese Bedrohung exakt auf die Schweiz beschränkt bleibt, an verschiedenen Orten sieht man Menschen auf dieses Bedrohung reagieren. Das typische Szenario solcher Katastrophen wird aufgerollt, Plünderungen, Politiker, die machtlos versuchen, Schaden zu begrenzen, Resignation, Fanatismus jeglicher Art. Immer mehr Menschen versuchen das Land zu verlassen, die Reaktionen aus dem Ausland sind radikal und eindeutig: Es werden keine Schweizer Flüchtlinge mehr aufgenommen. Der Wechsel von Ort zu Ort, von Protagonisten zu Protagonisten funktioniert, das Ausmaß der Katastrophe und des Chaos erzählt sich in Etappen über die Wechsel von einer Region zur anderen. Spannend, bedrückend, vermutlich sehr wahr.
Auf der Piazza Grande dann ein Ehrenleopard für die wunderbare Bulle Ogier, überreicht von Chatrian, der sich jeden Abend über seine Ehrengäste freut wie ein kleiner Junge, der ein Geschenk auspackt. Gefolgt dann von einer kanadische Polit-Komödie: Guibors s'en va-t-en guerre von Philippe Faradeau. Ein parteiloser Parlamentsabgeordneter findet sich plötzlich in der Position die entscheidende Stimme für oder gegen den Einsatz
kanadischer Soldaten im Nahen Osten zu sein. Gewissenskonflikte, versuchte Einflussnahmen, diverse Probleme in seinem Wahlkreis plus ein Praktikant aus Haiti, der ihm voller Enthusiasmus und mit vielen unkonventionelle Vorschlägen zur Seite steht.
Komödie mit ernstem Hintergrund, leicht erzählt, witzige Dialoge, alles in schöner kanadischer Landschaft, und ein Ende, das realistisch bleibt.
Der chinesische Film Lu bian ye can (Kaili Blues) von Bi Gan ist eine wunderbare Entdeckung. Alleine die Bildgestaltung ist es wert, diesen Film zu sehen, so gut wie jede Einstellung ist in sich schon toll, Spiegelungen und Schatten verdichten die Szenen, ohne dass die Kamera sich bewegt, wodurch immer neue Aspekte des Bildes, der Geschichte hervortreten. Die Zeit scheint linear im Ablauf, aber vielleicht ist alles auch gar nicht dort auf einer Zeitlinie, wo der Zuschauer es vermutet. Metaphern für Zeit, das Vergehen von Zeit, die Suche nach verlorener Zeit, die Suche des Protagonisten nach dem, was er verloren hat, während er neun Jahre im Gefängnis war. Fast eine Geschichte innerhalb der Geschichte: eine sehr lange Plansequenz, die Kamera folgt einem Motorrad, biegt dann aber ab, trifft wieder auf das Motorrad, folgt mal dieser, mal jener Figur, verweilt, kommt zurück, und verlässt diesen Exkurs auf demselben Weg wieder.
Der einzige Film, vor dem dieses Jahr zarte Gemüter gewarnt werden ist Tikku von Avishai Sivan. Die vermutlich erregtesten Gemüter dürfte der Film in Israel haben, die Geschichte des Yeshiva-Studenten, der von Rettungssanitätern schon für tot erklärt wird, dessen Vater aber weiter Herzmassage macht, und ihn so doch ins Leben zurückholt, könnte in eingen Kreisen nicht so gut ankommen. Nach seiner Rettung ist er Student einfach nicht mehr er
selbst, findet sich in seinem Leben nicht mehr zurecht, hadert mit sich. Während seinen Vater düstere Albträume quäle, in denen er sich bezichtigt, Gottes Willen missachtet zu haben. Schwarzweiß-Bilder einer Welt, die ziemlich fremd anmutet, und doch sind die Probleme an sich universell, eine Suche nach sich selbst, nach seinem Platz im Leben, nichts weniger.
Die Katalogbeschreibung von Dead
Slow Ahead von Mauro Herce schreckt ein wenig ab, was dann aber auf der Leinwand zu sehen ist, ist tolles Dokumentarkino. Ein Monster von einem Frachtschiff, auf dem Weg durch den Atlantik und das Mittelmeer, endgültiges Ziel noch unbekannt, die paar Mann Besatzung nehmen sich wie Ameisen aus, im Vergleich zu den riesigen Metallteilen und zur Weite des Meeres. Interessante Bilder, eine fast meditativer Schnittrhythmus und eine eindringliche Geräuschdramaturgie,
versetzen den Zuschauer mitten ins Geschehen und sorgen für Spannung.
Eine Frage zwischendurch: wieso machen Menschen in einem Festivalkino Bilder von der Leinwand? Nicht etwa von der leeren Leinwand vor dem Film, sondern vom Film und während der Vorstellung? Das kommt an Ärgernis noch vor den Zuschauern, die ihrem Sitznachbarn erklären, was alle im Saal gerade gesehen haben.
Ein Abend auf der Piazza Grande ohne Ehrenleoparden! Dafür ein 159 Minuten langer indischer Film Noir, angesiedelt zwischen 1949 und 1969. Zwei Straßenjungs werden Freunde, vom Kleinkriminellen bewegen sie sich die Karriereleiter hinauf zu anzugtragenden Handlangern der großen Verbrecher und geraten schließlich als Bauernopfer zwischen die Fronten von Verbrechen und Politik. Dazu eine hübsche Nachtclubsängerin, die das Herz des einen Freundes erobert, man meint einen
Scorsese-Film vor sich zu haben, und liegt insofern nicht falsch, als der Regisseur von Bomay Velvet Anurag Kashyap sowohl ein Scorsese- als auch ein Film-Noir-Fan ist und Thelma Schoonmaker beim Schnitt ihre wendigen Finger mit im Spiel hatte. Blutig, rasant, und – fast – keiner kommt lebend aus der Geschichte, so wie sich das gehört.
Bisher war noch bei keinem Film auf der Piazza der Applaus so laut, dass man eine Prognose zum
Publikumspreis treffen könnte, entweder war’s das alles noch nicht, oder das ist ein sehr zurückhaltendes Publikum in diesem Jahr.