Der Mann, der zuviel wusste oder der Verlust der cinephilen Unschuld |
||
41.000 Mal umgeschrieben – Robert Downey Jr. und Robert Duvall in The Judge |
Von Peter Mehlman
Was wohl fast jeder kennt, der zu viele Filme gesehen hat, gilt erst Recht für die Veteranen von Hollywoods Filmindustrie – sie zahlen einen hohen Preis dafür, Teil des »Establishments« zu sein...
Der erste Fehler war, Karten im Voraus zu bestellen. Denn der zog gleich den zweiten Fehler nach sich: jedem erzählen zu können, dass ich The Judge sehen würde.
»Oha...«, sagte ein Freund.
»Oha?«
»Ach, egal, ich meine nur, dass ich wen kenne, der mit dem Drehbuchverantwortlichen ausgegangen ist. Oder war es der Dialog-Coach? Egal, jedenfalls hat der gesagt, dass das Drehbuch 41.000 Mal umgeschrieben worden ist.«
Die Karten kann man nicht zurückgeben. Du liebst Robert Duvall, der immerhin für seine Rolle in The Judge für einen Oscar nominiert war und Du hast auch mal Robert Downey Jr. im Starbucks getroffen. Das war noch während seiner harten Drogenzeiten und niemand hätte cooler als er sein können, also...
Nach zwanzig Minuten in The Judge beginnen die Dialoge ein wenig zu entgleisen, hört sich die Erzählung mal nach Nora Epron, mal nach Joe Esterhazy, dann wieder nach Erma Bombeck an. Nach einer Stunde – der Wahnsinn – hat man das Gefühl, dass hier eine Spezialeinheit der Navy Seals ins Rennen geschickt wurde, um das Ganze in den Griff zu kriegen.
Zurück zu Hause erwartet mich eine Mail von einem Freund, der eine Zeitzone vor mir im Kino war: »Habe The Judge gesehen. Toller Film!«
Neid. Genau das ist es, was Du gegenüber deinem Freund empfindest. Denn er kann das, was du nicht mehr kannst: einen Film genießen. Aber in Los Angeles zu arbeiten bedeutet nun mal, dass Kinospaß der Vergangenheit angehört und du nichts weiter als eine weitere katastrophale Erfolgsgeschichte bist.
Bevor ich nach L.A. kam, habe ich Filme geliebt. Es war einfach die reine Freude, diese Konzentration auf eine Geschichte, die im Dunkeln erzählt wird, kombiniert mit meinem naturgegebenen Talent fürs Schule schwänzen und der Lust in den Sesseln des Baronet-Kinos in der Third Avenue zu versinken.
Genug davon. Nach 5, 10 oder 20 Jahren in L.A. weiß man einfach zu viel. Du bist so sehr in diesem Mikro-Universum verankert, dass du einfach alles über Drehbuchstrukuren, Studio-Kommentare, Budget-Überschreitungen, Starneurosen und gefeuerte Regisseure weißt. Es ist fast so, als ob Du den Film schon gesehen hast, bevor er überhaupt gezeigt wurde.
Es ist schon seltsam, dass ich mich an den Grünschnabel, der Filme so tief in sich aufgesogen hat wie nichts anderes, kaum mehr erinnere. Ich habe versucht, letztes Jahr dieses alte »Ich« wiederzubeleben, indem ich mir in einem »Revival House« Lethal Weapon angesehen habe. Aber auch hier konnte ich nicht anders und bemerkte sofort die endlosen Neueinsprechungen in der Postproduktion – Mel Gibson hat wahrscheinlich im Tonstudio übernachten müssen, um das hinzukriegen.
Ich erinnere mich allerdings daran, wie meine Kinounschuld endete. Es war im dritten Jahr im Showbusiness, auf einem Gangplatz in einem Kino in Westwood, als ich in einem Film saß, den ich eigentlich mochte. Und beim Betrachten eines Aaron Sorkin-Dialogs mit Killer Jack Nicholson den hartnäckigen Gedanken nicht los wurde, dass dieser Film einen anderen Titel verdiente – »Eine Frage der Nahaufnahmen«.
Es war diese Art von unfreiwilligen Gedanken, die meine Kinobesuche von nun an begleiteten und denjenigen vor der Tür ließen, der sich während eines Kinobesuchs selbst vergessen konnte. Antennen wuchsen aus meinem Kopf und Signal-Detektoren begannen zu blinken, wenn auch nur die kleinste Plotschwäche zu erkennen war, die minimalste Unglaubwürdigkeit in der Charakterzeichnung oder diese ganzen »Das-musst-du-jetzt-fühlen«-Tricks ausgespielt wurden.
Aber es ist nun mal L.A. und natürlich gehst Du weiterhin ins Kino. Du kannst ja nicht einfach aufhören und dich damit von jedem Gespräch freiwillig ausschließen. Also verlässt Du dich auf deine Liste von wunderbaren Talenten – Paul Thomas Anderson, Kathryn Bigelow, Woody Allen – und versuchst nur dann und wann vorsichtig auszuscheren, was anderes zu versuchen, in der irrwitzigen Hoffnung, mal wieder überrascht zu werden.
Kurz bevor Gravity rauskam, traf ich den unglaublich netten Typen, dessen Firma für die Spezialeffekte von Gravity zuständig war. Irre. Danach glaubte ich wirklich, dass ich zumindest der majestätischen Visualität des Films was abgewinnen könnte.
Das Licht im Kino war noch nicht ganz runtergedimmt. als ich schon einen verdrahteten George Clooney durchs Weltall schweben sah, um mit Sandra Bullock zu schwätzen, so als wäre sie nichts weiter als ein neues Gesicht auf einem alten Barhocker gleich neben dir.
Oh Mann. Plumpester Hintergrundgeschichten-Alarm.
Er fragt, ob es irgendwen gibt, der zuhause auf sie wartet.
Oh mein Gott, nein. Versuche Dich lieber auf den wunderschönen Weltraum zu konzentrieren ...
Sandra sagt, dass niemand wartet. Ihre 4-jährige Tochter ist gestorben.
Und dann ist die Lawine des Entsetzens nicht mehr aufzuahlten: Anscheinend hat Warner Bros. dem Zielpublikum nicht zugetraut, sich eine Frau vorstellen zu können, die alleine im Weltall gestrandet ist. Also schnell mal eine tote Tochter dazu. Aber muss das dann gleich so weit gehen, dass sie den anderen Astronauten vorher nichts sagt, um gerade das Allerunmöglichste zu provozieren: dass sie während eines komplexen, wissenschaftlichen Außenbordmanövers, 16.000 Kilometer über der Erde darüber ausgefragt wird?! Und außerdem: ist eine Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, für die NASA wirklich die optimale Besetzung für eine derartig wichtige Mission?
Und wo wir gerade von einer optimalen Jobbbesetzung sprechen: auf meiner verzweifelten Suche nach einem Film, der keinerlei Denkprozesse abverlangt, habe ich mir Non-Stop angesehen. Liam Neeson spielt einen Air Marshal, der dem Alkohol verfallen ist, weil ... seine 8-jährige Tochter gestorben ist.
Wann wurde es eigentlich so schwer die einstelligen Lebensjahre zu überleben?
Und wo wir gerade von Liam Neeson sprechen – das Taken-Franchise bietet ein hervorragendes Übungsfeld für manisch-kritische Hollywood-Insider. Diese Filme sind unsere Art von Komödie. Nichts in dem Drehbuch ist lustig, aber die ganze Logik ist einfach nur hysterisch, was im Grunde genau die Perspektive ist, mit der man echte Komödien sieht. Die Taken-Filme sind Urlaube. Zwei Stunden, um endlich einmal jedes Urteilsvermögen ausschalten zu können während Liam einen Körper auf den anderen stapelt und seine unglückselige Tochter – wie hat sie es nur geschafft älter als acht Jahre zu werden? – ihr unvorstellbares Talent unter Beweis stellt, entführt zu werden.
Als ob unsere »So schlecht, dass es bereits wieder gut ist«-Einstellung nicht schon deprimierend genug wäre, sind es nicht allein die Filme, die uns Veteranen der Hollywood-Kriege unseren Spaß rauben.
Zum einen ist da noch der Nachbarschaftszynismus (»Wild muss ich mir nicht antun, ich sehe doch Reese Witherspoon ständig in Brentwood umherlaufen«).
Zum anderen gibt es diese Abneigung gegenüber besonderen Privilegien (»Warte mal, niemand will eins meiner Drehbücher lesen, wenn sie mehr als 108 Seiten haben? Aber Gone Girl dauert zweieinhalb Stunden? Ich sag Dir was: Lies erst mal 108 Seiten von meinem Drehbuch und falls Du es wirklich hassen soltest, sehen wir weiter.«).
Und dann – die Leute.
Im Vorspann eines jeden Hollywood-produzierten Films stehen die Chancen nicht schlecht, dass du einen Namen siehst, den du kennst – und mal die Hand aufs Herz: Menschen hier fühlen sich Bekannten nicht sonderlich verpflichtet. Willkommen in L.A. – dem einzigen Ort, wo Kinobesucher sich wünschen, dass der Film so richtig Scheiße ist. Ich persönlich habe Kinos immer wieder mit dem Wunsch betreten, den Film zu hassen. Und zwar aus folgenden Gründen:
A. Mir wurde angeboten, das Drehbuch umzuschreiben, aber ich habe abgelehnt.
B. Ich habe mit dem Regieassistenten Basketball gespielt ohne dass sich daraus was anderes ergeben hätte.
C. Ich hatte ein Date mit der Ausstatterin.
D. Dem Produzenten hat eines meiner Drehbücher »richtig gefallen«, aber er hat mich trotzdem nie wieder angerufen. Und das, obwohl er ganz in meiner Nähe wohnt, so dass ich, wenn ich ihn treffe, immer so tun muss, als ob nie was passiert wäre. Falls es einen Gott gibt, wird dieser und sein nächster Film genauso floppen wie seine Ehe.
Auf eine fast beschwingte Art und Weise sprechen mich deshalb ausländische Filme viel mehr an. Du kennst niemanden, der mitgemacht hat und falls der Vorspann dann auch noch in Koreanisch ist, wird es gleich noch besser.
Natürlich gibt es jedes Jahr ein paar gute Filme, die einem durch die Finger schlüpfen. Aber selbst wenn du einen Film anhimmelst und niemanden kennst, der daran beteiligt war, wird dein Eindruck dadurch geschmälert, dass du zuviel von dem weißt, was du eigentlich gar nicht wissen willst.
Nachdem ich Foxcatcher gesehen hatte (und Capote, beide von dem hervorragenden Bennet Miller), war mein erster Gedanke: Wie konnte so etwas Gutes nur jemals entstehen? Nachdem ich Birdman genossen hatte, mit dieser irren langen Liste von Produktionsfirmen, war mir das allerdings sofort klar. Nach Imitation Game dachte ich nur, dass irgendwer einen irren Druck ausgeübt haben muss, um das schönste Gesicht in England für das weibliche Mathe-Genie zu casten.
Das Leben ist nichts weiter als ein Kabarett des Verzichts.
Ich frage mich inzwischen wirklich, ob eine erfolgreiche Karriere in Hollywood es wert ist, so freudlos zu leben. Vielleicht, rede ich mir dann immer ein, ist das auch alles so in Ordnung, denn es ist ja im Grunde wie im wirklichen Leben, wo es einem ebenfalls niemals gelingt etwas so zu lieben oder zu hassen, wie man es sich eigentlich wünscht.
Nach 25 Jahren in Los Angeles bleibt mir im Grunde nur noch meine Freude auf die kleinen Lichtblicke. Nach dem Abspann von Her zum Beispiel dachte ich, dass da doch noch so einiges drin ist, dass die Filmindustrie Potential hat. Ich habe das aber für mich behalten, dann mir selbst vorgeworfen das Wort »Industrie« gedacht zu haben – was eigentlich bestraft gehört.
Peter Mehlman ist Romanautor, Drehbuchautor (»Seinfeld«), Produzent und Kolumnist in der HUFFINGTON POST und NEW YORK TIMES – er lebt in Los Angeles.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Axel Timo Purr.