Aufstand in Bullerbü |
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Fröhlicher Aufbruch in die Revolution: Uus maailm |
Von Dunja Bialas
Estland, das nördlichste Land des Baltikums, wurde bekannt durch seine »Singende Revolution«. Weitgehend friedlich, durch die Kraft seiner Lieder, schaffte das kleine Land 1990 die Unabhängigkeit von der großen Sowjetunion.
Von außen betrachtet – und sicherlich der Stereotypie verfallend – charakterisiert genau dies das estnische Volk: Große Ideen und ein unbedingter Wille paaren sich in ihm mit einer Leichtigkeit, die die Esten wie der lachende
Gegenentwurf zu ihren schwermütigen Nachbarn, den Finnen, erscheinen lassen. Vielleicht ist es der Kleinheit des Landes geschuldet und diesem durchaus beneidenswertem Frohsinn, dass man hierzulande so wenig über die Esten weiß. Obwohl in dem Land, das kaum mehr Einwohner zählt als die bayerische Landeshauptstadt, eine starke deutsch-baltische Gemeinde regen Kontakt zu Deutschland hält.
Um dies zu ändern und die estnische Kultur den Mia-san-mia-Münchnern nahezubringen, finden dieses Jahr zum zweiten Mal die Estnischen Filmtage statt. Vor zwei Jahren, im Gründungsjahr der Filmtage, war Tallinn gerade europäische Kulturhauptstadt; dieses Jahr gilt es, 100 Jahre estnischen Film zu feiern.
Eröffnet wird, um direkt in die aufmüpfig-heitere Seele der Landesgenossen hinzuführen, mit dem Dokumentarfilm New World – Uus maailm von Jaan Tootsen. »New World« heißt ein Stadtteil in Tallinn, der im Krieg weitestgehend zerbombt wurde und später im Stalin-Stil wieder errichtet wurde. Dennoch gibt es noch etliche kleine, typisch estnische Holzhäuser in dem Viertel, was ihm einen kleinen Anflug von Bullerbü verleiht. »Mehr von diesem Bullerbü« mag sich eine Gruppe von Aktivisten gedacht haben, als sie mittels pfiffiger Sabotage versuchten, ihren Stadtteil autofrei zu machen. In nächtlichen Heinzelmännchen-Aktionen malten sie Zebrastreifen auf die Straßen, blockierten Parkplätze und feierten verschwörerische Partys. Vier Jahre dauerten ihre – realen! – Aktionen, vier Jahre lang rieben sie sich an der starren Bürokratie und setzten sich konservativen Nachbarn aus, die in ihnen pauschal durchgeknallte Hippies sahen. Ob ihre Aktionen zum Erfolg wurden, ähnlich der »Singenden Revolution«, kann an diesem Donnerstag um 19:30 Uhr im Vortragssaal der Bibliothek im Münchner Gasteig gesehen werden, wenn die Estnischen Filmtage eröffnet werden.
Wie von den Dämonen von Dostojewski heimgesucht, blicken die Spielsüchtigen in Deemonid (Demons) in die Abgründe der eigenen Seele. Angetrieben von der Gier nach dem Geld und der Sucht, sich mit aberwitzigen Konsumgütern auszustatten, verheddern sie sich immer mehr in einem Netz von Lügen und persönlichem Chaos. Und wo die Finnen in schwermütigen Seelenstillstand verfallen würden, versprühen die Esten immer noch rasante Fröhlichkeit. Eine tragikomische Geschichte.
Ein Geheimnis des estnischen Frohsinns, folgt man der Dokumentation The Kaplinski System, liegt in der Hingabe zum Einfachen, nicht zum Komplizierten, und in der Hinnahme der ewigen Wiederkehr des Alltags als etwas schlicht Gegebenes, das einem zwar die Existenzfrage stellt, die aber bejahend angenommen wird. »Saubermachen ist niemals zu Ende / Der Ofen ist niemals heiß genug / Bücher werden nie ausgelesen / Das Leben ist niemals vollendet« heißt es bei Jaan Kaplinski, einer der wichtigsten estnischen Schriftsteller. In der unberührten Natur in Südestland erlebt er in den einfachen Dingen und simplen Alltagstätigkeiten eine tiefgehende Spiritualität.
Nicht nur während der »Singenden Revolution«, auch im Alltag und in den Familien gehören Lieder einfach dazu. Der poetische Dokumentarfilm Regilaul – laulud õhust (Regilaul – Lieder aus der Luft) nimmt sich der hohen estnischen Gesangskultur an: Sie ist stark und monoton, scheint direkt aus den Sphären der Luft zu kommen und ist maßgeblich für die estnische Identität, die mit ihren Liedern ihre Ängste und Sorgen beinahe alchimistisch in Mut und Hoffnung verwandeln.
Estnische Filmtage München. 14.-17. März 2013, Gasteig, München. Alle Vorführungen im Vortragssaal der Bibiothek.
Gefördert durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.