Blaubeerschmauß und Möwengraus |
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Philosophie-Möwen in der Stadt: Das Möwen-Theorem |
Von Dunja Bialas
»Estland liegt in Europa. Es hat eine Fläche etwa so groß wie Niedersachsen und ungefähr die Einwohnerzahl Münchens. In Estland gibt es fast 50 Kinos und pro Jahr werden über 200 Filme produziert«, werden wir auf der Homepage der Estnischen Filmtage informiert, die dieses Jahr zum dritten Mal im Vortragssaal der Stadtbibliothek in München abgehalten werden. Wenn wir die Macher beim Wort nehmen und gutgläubig schlucken, dass 200 Filme jährlich in Estland entstehen sollen (in Deutschland waren es 2014 laut SPIO 234 Filme), dann lässt sich aus dieser kurzen Information ableiten: die Esten sind ein filmbesessenes Volk, das trotz überwiegend ländlicher Einsamkeit am Kinogang festhält und ein großes Vergnügen daran hat, sich selbst Geschichten für die Kamera auszudenken.
Elf aktuelle estnische Filme, darunter Spiel- und Dokumentarfilme sowie den Kinderfilm Ruudi von Katrin Laur, haben die Veranstalterinnen Karin Kitsing, Karin Ladva-Zoller und Margit Urbel nach München geholt. Die Besonderheiten Estlands, geographische wie kulturelle, bilden dabei oft den sehr schönen Hintergrund für die baltischen Erzählungen über psychische Ausnahmezustände,
historische Schicksalsschläge und den Velosophen. Denn das wissen die Esten: Philosophieren ist auf dem Fahrrad am schönsten, und sie haben daraus einen erbaulichen Dokumentarfilm gemacht, Velosophen (Velosoofid) von Jaan Tootsen.
Philosophisch geht es auch in dem Dokumentarfilm von
Joosep Matjus mit dem schönen Titel Das Möwen-Theorem (Kajaka teoreem) zu. Dem Filmemacher geht es um den Volksglauben, der in den Möwen die Seele verstorbener Seemänner sieht, und er überträgt ihn auf die Stadtmöwen, die jetzt die Seele der Städter darstellen. Wer würde denn hierzulande einen
philosophisch-poetischen Film über die Tauben in der Stadt, den fliegenden Ratten, machen? Genau, das ist der Unterschied zwischen uns und den Balten.
»Nahezu surrealistisch und stellenweise rätselhaft« ist laut Programmheft der Spielfilm Landschaft mit mehreren Monden (Maastik mitme kuuga) von Jaan Toomik, einem existenziellen Drama über das amouröse Mehrleben eines Familienvaters. Hier wird der psychische Abgrund von Seitensprüngen auf poetische Weise dargestellt. Beware!
Mit der Liebe scheint es ein wenig schwierig zu sein. Wie hier ist auch in Estland oftmals Alkohol im Spiel, wenn Liebe blind macht. In Kertu – Liebe macht blind von Ilmar Raag ist es gerade Mittsommernacht, als sich die titelgebende Kertu zum heruntergekommenen Trinker Villu flüchtet. Ein Drama entspinnt sich, das den Zusammenhalt und das gleichzeitige Irren der kleinen Dorfgemeinschaft vor Augen führt.
Beschaulich und zugleich dramatisch geht es wohl insgesamt in Estland zu, so könnte man meinen. Nicht übersehen werden soll, dass sich hinter den Drama-Plots Filme von schöner Handschrift und gekonnter Erzählweise verbergen. Vielleicht teils zu glatt, man vermisst das ästhtisch Junge, Wilde und Ungeschlachte. Aber es sind allesamt Filme, die sehr schön anzusehen sind, und die sich auch allemal vor Münchner Publikum sehen lassen können.
Den Blick auf die jungen Esten wagt Kirschtabak (Kirsitubakas) von Katrin und Andres Maimik. Mitsommernacht, Lagerfeuer, Blaubeerschmauß in der Natur, aber auch das Aufbegehren gegen die verhasste Häkelmütze münden in die unmögliche Liebe zu einem wesentlich älteren Mann. Mit viel Humor, trocken und einfach nur so erzählt, wie es eben passiert: wenn man am Lagerfeuer zu viel Romantik verspürt.
Viel Einsamkeit (die Einwohnerdichte in Estland beträgt 28 pro Quadratmeter) führt zu viel Geselligkeit, während wohl viel Zusammensein ein Bedürfnis nach Alleinsein hervorbringt. Während in Deutschland (226 Einwohner pro Quadratmeter) dafür bezahlt wird, im Kloster alleine schweigen dürfen, treffen sich die Esten, um gemeinsam zu atmen, wie es im gleichnamigen Dokumentarfilm (Üheshingamine ist der Originaltitel) von James und Maureen Castle Tusty geschieht. Um gemeinsam lautstark zu atmen, muss man wohl ergänzen, denn der Film dreht sich um das wichtigste Kulturereignis, das die Esten kennen: das Sängerfest. »Obwohl ich kein Este bin, habe ich mich wie ein Este gefühlt« wird im Film ein begeisteter Amerikaner zitiert, der beim Sängerfest mitgemacht hat. Gezeigt wird Gemeinsam atmen am Sonntag, den 15.03., und vielleicht wird der ein oder andere Münchner danach das Zitat des Amerikaners auf den Lippen führen.
3. Estnische Filmtage, 12.03. – 15.03.2015, Vortragssaal der Bibliothek im Gasteig