12.03.2015

Blau­beer­schmauß und Möwen­graus

DAS MÖWEN-THEOREM
Philosophie-Möwen in der Stadt: Das Möwen-Theorem

Die dritten Estnischen Filmtage zeigen sich surrealistisch-poetisch – und philosophisch

Von Dunja Bialas

»Estland liegt in Europa. Es hat eine Fläche etwa so groß wie Nieder­sachsen und ungefähr die Einwoh­ner­zahl Münchens. In Estland gibt es fast 50 Kinos und pro Jahr werden über 200 Filme produ­ziert«, werden wir auf der Homepage der Estni­schen Filmtage infor­miert, die dieses Jahr zum dritten Mal im Vortrags­saal der Stadt­bi­blio­thek in München abge­halten werden. Wenn wir die Macher beim Wort nehmen und gutgläubig schlucken, dass 200 Filme jährlich in Estland entstehen sollen (in Deutsch­land waren es 2014 laut SPIO 234 Filme), dann lässt sich aus dieser kurzen Infor­ma­tion ableiten: die Esten sind ein film­be­ses­senes Volk, das trotz über­wie­gend länd­li­cher Einsam­keit am Kinogang festhält und ein großes Vergnügen daran hat, sich selbst Geschichten für die Kamera auszu­denken.

Elf aktuelle estnische Filme, darunter Spiel- und Doku­men­tar­filme sowie den Kinder­film Ruudi von Katrin Laur, haben die Veran­stal­te­rinnen Karin Kitsing, Karin Ladva-Zoller und Margit Urbel nach München geholt. Die Beson­der­heiten Estlands, geogra­phi­sche wie kultu­relle, bilden dabei oft den sehr schönen Hinter­grund für die balti­schen Erzäh­lungen über psychi­sche Ausnah­me­zu­stände, histo­ri­sche Schick­sals­schläge und den Velo­so­phen. Denn das wissen die Esten: Philo­so­phieren ist auf dem Fahrrad am schönsten, und sie haben daraus einen erbau­li­chen Doku­men­tar­film gemacht, Velo­so­phen (Velo­so­ofid) von Jaan Tootsen.
Philo­so­phisch geht es auch in dem Doku­men­tar­film von Joosep Matjus mit dem schönen Titel Das Möwen-Theorem (Kajaka teoreem) zu. Dem Filme­ma­cher geht es um den Volks­glauben, der in den Möwen die Seele verstor­bener Seemänner sieht, und er überträgt ihn auf die Stadt­möwen, die jetzt die Seele der Städter darstellen. Wer würde denn hier­zu­lande einen philo­so­phisch-poeti­schen Film über die Tauben in der Stadt, den flie­genden Ratten, machen? Genau, das ist der Unter­schied zwischen uns und den Balten.

»Nahezu surrea­lis­tisch und stel­len­weise rätsel­haft« ist laut Programm­heft der Spielfilm Land­schaft mit mehreren Monden (Maastik mitme kuuga) von Jaan Toomik, einem exis­ten­zi­ellen Drama über das amouröse Mehrleben eines Fami­li­en­va­ters. Hier wird der psychi­sche Abgrund von Seiten­sprüngen auf poetische Weise darge­stellt. Beware!

Mit der Liebe scheint es ein wenig schwierig zu sein. Wie hier ist auch in Estland oftmals Alkohol im Spiel, wenn Liebe blind macht. In Kertu – Liebe macht blind von Ilmar Raag ist es gerade Mitt­som­mer­nacht, als sich die titel­ge­bende Kertu zum herun­ter­ge­kom­menen Trinker Villu flüchtet. Ein Drama entspinnt sich, das den Zusam­men­halt und das gleich­zei­tige Irren der kleinen Dorf­ge­mein­schaft vor Augen führt.

Beschau­lich und zugleich drama­tisch geht es wohl insgesamt in Estland zu, so könnte man meinen. Nicht übersehen werden soll, dass sich hinter den Drama-Plots Filme von schöner Hand­schrift und gekonnter Erzähl­weise verbergen. Viel­leicht teils zu glatt, man vermisst das ästhtisch Junge, Wilde und Unge­schlachte. Aber es sind allesamt Filme, die sehr schön anzusehen sind, und die sich auch allemal vor Münchner Publikum sehen lassen können.

Den Blick auf die jungen Esten wagt Kirsch­tabak (Kirsi­tu­bakas) von Katrin und Andres Maimik. Mitsom­mer­nacht, Lager­feuer, Blau­beer­schmauß in der Natur, aber auch das Aufbe­gehren gegen die verhasste Häkel­mütze münden in die unmög­liche Liebe zu einem wesent­lich älteren Mann. Mit viel Humor, trocken und einfach nur so erzählt, wie es eben passiert: wenn man am Lager­feuer zu viel Romantik verspürt.

Viel Einsam­keit (die Einwoh­ner­dichte in Estland beträgt 28 pro Quadrat­meter) führt zu viel Gesel­lig­keit, während wohl viel Zusam­men­sein ein Bedürfnis nach Allein­sein hervor­bringt. Während in Deutsch­land (226 Einwohner pro Quadrat­meter) dafür bezahlt wird, im Kloster alleine schweigen dürfen, treffen sich die Esten, um gemeinsam zu atmen, wie es im gleich­na­migen Doku­men­tar­film (Ühes­hing­amine ist der Origi­nal­titel) von James und Maureen Castle Tusty geschieht. Um gemeinsam lautstark zu atmen, muss man wohl ergänzen, denn der Film dreht sich um das wich­tigste Kultur­er­eignis, das die Esten kennen: das Sänger­fest. »Obwohl ich kein Este bin, habe ich mich wie ein Este gefühlt« wird im Film ein begeis­teter Ameri­kaner zitiert, der beim Sänger­fest mitge­macht hat. Gezeigt wird Gemeinsam atmen am Sonntag, den 15.03., und viel­leicht wird der ein oder andere Münchner danach das Zitat des Ameri­ka­ners auf den Lippen führen.

3. Estnische Filmtage, 12.03. – 15.03.2015, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig