25.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Cannes ohne Strom

Un Simple Accident
Gewinner der Goldenen Palme: »Un Simple Accident« von Jafar Panahi
(Foto: Filmfestival Cannes)

Appell und Angebot: Mit dem Lehrstück von Jafar Panahi gewinnt in Cannes ein bequemer Kompromiss, aber keine Filmkunst die Goldene Palme. Und auch die restlichen Preise enttäuschen, aber entsprechen einem durchschnittlichen Jahrgang mit einigen starken, aber keinen herausragenden, das Kino weiterführenden Filmen. Und Mascha Schilinski muss jetzt sehr gut aufpassen – Cannes-Tagebuch, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Freiheit wäre, nicht zwischen Schwarz und Weiß zu wählen, sondern aus solcher vorge­schrie­benen Wahl heraus­zu­treten.« – Adorno

Er hat den Goldenen Löwen von Venedig gewonnen, er gewann den Goldenen Bären in Berlin, nun gewann er die Goldene Palme: Gegen die starke Konkur­renz der Filme des Brasi­lia­ners Kleber Mendonça Filho, des Norwegers Joachim Trier, und einiger anderer setzte sich am Ende der Iraner Jafar Panahi durch, und gewann für seinen Film »Un Simple Accident« im dies­jäh­rigen Wett­be­werb von Cannes den Haupt­preis.

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Die Würfel sind gefallen: So endet mit dem Sieg des Vorab-Favoriten vieler Beob­achter ein durch­schnitt­li­cher Cannes-Jahrgang der einige starke, aber keinen heraus­ra­genden, das Kino irgendwie weiter­füh­renden Film bot.
Deren Formen blieben fast durchweg im Rahmen des Konven­tio­nellen, Bekannten, mit wenigen Ausnahmen, wie dem deutschen »Sound of Falling« von Masha Schi­linski, dem spanisch-fran­zö­si­schen »Sirat« von Olivier Laxe und dem chine­si­schen »Resur­rec­tion« von Bi Gan.

Auffal­lend viele Beiträge im Wett­be­werb blickten in die Vergan­gen­heit und spielten in histo­ri­schen Perioden. Einiges kreiste um Tod und Todes­sehn­sucht, vieles um mensch­liche Verseh­rungen: Allein in vier Filmen erlebte man Menschen, die ein Bein verloren hatten.
Ebenso war das Mutter-Tochter-Thema ein roter Faden, erst recht allge­meiner das Verhältnis von Eltern und Kindern.

So revi­sio­niert das Gegen­warts­kino gerade die Bestände der Gesell­schaften, überprüft und befragt Soll und Haben. Es scheint fest­zu­hängen in der Schleife der Vergan­gen­heit. Aber zukunfts­wei­senden Antworten auf die Krisen der Gesell­schaft begegnet man im Gegen­warts­kino dagegen gerade selten.

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Hier macht der iranische Sieger­film keine Ausnahme.

Was tun mit Folter­knechten? Was ist Gerech­tig­keit? So könnte man die beiden Leit­fragen von Panahis neuem Film zusam­men­fassen. Schon aus diesen Fragen geht hervor: Der Film ist ein Lehrstück. Eine Parabel auf die poli­ti­schen Verhält­nisse im Iran. Sehr thea­tra­lisch, sehr sche­ma­tisch, mit Grautönen, die aller­dings sorg­fältig unter einem grund­sätz­li­chen Schwarz-Weiß-Schema verborgen werden. Filmisch scheint mir »Un simple accident« mehr als bescheiden zu sein. Ohne Frage ist er gut gemacht; man könnte das Ganze und würde es bei anderen aber auch einfach »routi­niert« nennen.

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Der Filmtitel könnte zwar einen »Unfall« meinen, nämlich das verse­hent­liche Über­fahren eines Straßen­kö­ters durch ein Auto in der Dunkel­heit der Nacht, er meint aber eher noch einen »Zufall«. Den der tote Hund zu Beginn dient als Ausgangs­punkt einer Verket­tung von Ereig­nissen, die zugleich schnell eine symbo­li­sche Dimension bekommt: Ein Auto­me­cha­niker ist nämlich überzeugt, dass es sich bei dem Fahrer um seinen ehema­ligen Folter­knecht handelt. Er ist zunächst entschlossen, den Mann aus Rache für das, was der ihm einst angetan hatte, zu töten und entführt den Fahrer. Doch dann wachsen Zweifel: Ist es wirklich der, für den er ihn gehalten hat? Der Entführte leugnet hart­nä­ckig und nennt einige Indizien, die zu seinen Gunsten sprechen. Sein Entführer zögert und kontak­tiert weitere ehemalige Leidens­ge­nossen.

Doch dann wachsen Zweifel: Ist es wirklich der, für den er ihn gehalten hat? Der Gefangene leugnet hart­nä­ckig und nennt einige Indizien, die dagegen sprechen, dass er der Gesuchte ist. Sein Entführer zögert und kontak­tiert weitere ehemalige Leidens­ge­nossen.

In der zweiten Hälfte des Films befinden sich deshalb dann gleich fünf ehemalige Opfer des Regimes im Minibus des Entfüh­rers, sowie ihr Gefan­gener, der in einer Kiste einge­schlossen seinem Schicksal hart – eine ebenso grausame, wie absurd komische Situation.
Denn die Kidnapper sind sich zum Teil ganz sicher, zum Teil überaus unsicher, ob es sich um ihren ehema­ligen Schergen handelt – manche von ihnen konnten ihre Folterer nämlich nie sehen sondern nur hören und riechen. Hier stellt der Film elemen­tare Fragen nach Wahrheit und dem Verhältnis von Anschein und Wirk­lich­keit. Doch selbst wenn es sich um den Folter­knecht handeln sollte – was tun? Will man ihn nach dem »Auge um Auge«-Prinzip selbst quälen und am Ende umbringen? Oder ihn anders strafen? Oder wäre Verzei­hung die beste Antwort?

Stilis­tisch betonen Anspie­lungen auf Beckett das Theatrale, Abstrakte von Film und Drehbuch. In mehreren Momenten nimmt alles auch Züge einer Komödie an, ohne je den Ernst der Situation zu über­tün­chen: die Diskus­sion der Opfer darüber, was sie mit einem Folterer tun sollen? Der Regisseur entwi­ckelt dieses Streit­ge­spräch an verschie­denen Schau­plätzen durch teils surreal anmutende, aber gemäßigt unter­halt­same Szenen.

Der Film entfaltet elemen­tare Fragen nach Wahrheit und dem Verhältnis von Anschein und Wirk­lich­keit. Und nach Moral: Am Ende entsteht eine origi­nelle Fabel über Rache und Vergebung, über die Verant­wor­tung der Täter und die Moral der Opfer – bis schließ­lich der Triumph von Ethik und Mensch­lich­keit zwar greifbar wird, aber dennoch nicht vergessen lässt, dass Terror und Tyrannei im Iran (und nicht nur dort) weiterhin gegen­wärtig sind.

Panahi stellt die Frage nach den Grenzen des Mitge­fühls und danach ob das Böse tatsäch­lich so banal ist, wie oft behauptet wurde. Sind die Hand­langer der Macht mensch­liche Wesen, oder bloß Werkzeuge einer unmensch­li­chen Maschi­nerie, die perverse Befehle ausführen? Oder Monster?

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Das Ergebnis ist ein sehr guter Film, dem doch auch bis zum Ende etwas Akade­mi­sches und »Trockenes«, Geschrie­benes anhaftet.

Leider bleibt alles ohne jede Über­ra­schung. Und das schon inhalt­lich: Die Geschichte nimmt Wendungen an, sie stellt Fragen, sie tendiert zu Posi­tionen, die wir allesamt schon sehr sehr oft gehört haben und entspre­chend vorher­sehen können. Sie werden nicht wahrer oder falscher dadurch dass man sie wieder­holt , sie werden aller­dings ermü­dender.

Filmisch hat Panahi dem Kino nichts zu geben und hinzu­zu­fügen, was wir nicht schon auf der Thea­ter­bühne von Tschechow und Brecht gesehen haben und im Kino zum Beispiel von Frank Capra und Panahi selbst.

Das ist zu wenig für ein Film­fes­tival wie das von Cannes und es ist viel zu wenig, um einen der Haupt­preise bei diesem Festival zu gewinnen – andere Filme im Wett­be­werb waren pulsie­render, standen für leiden­schaft­li­cheres, mit Bildern argu­men­tie­rendes Kino.

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So liegt es nahe diese Preis­ver­gabe durch die Jury um Juliette Binoche auch als politisch motiviert zu verstehen – das wäre im Fall Panahis, der seit Jahr­zehnten vom Mullah­re­gime drang­sa­liert, und mit Haus­ar­rest und Berufs­verbot überzogen wird, nur ehrenwert.

Sie ist aber vor allem auch ein bequemer ästhe­ti­scher Kompro­miss, mit dem die offen­sicht­lich uneinige Jury harten Entschei­dungen über Geschmacks­fragen ausweicht: Die inter­es­santen Debatten des cine­philen Teils der Cannes-Besucher kreisten eher um andere Filme, die mit Silbernen Palmen abge­speist wurden:
Der atem­be­rau­bende »Sound of Falling« von Masha Schi­linski zum Beispiel, die erste Cannes-Palme für einen deutschen Film seit vielen Jahren.
Oder der abgrün­dige Wüsten­trip »Sirat« von Olivier Laxe.
Oder der groß­ar­tige »Resur­rec­tion« von Bi Gan, eine Reise durch das chine­si­sche 20.Jahr­hun­dert und eine Beschwörung der Macht der Kino-Bilder.

Panahis Film bietet dagegen nicht mehr als einen guten bequemen Kompro­miss.

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Dass der Jurypreis auch noch geteilt wurde, machte aus dem »Prix de Jury« endgültig den Trost­preis der Jury.

Das fühlte sich insgesamt als ein trauriges Total­ver­sagen der Jury an. Einmal mehr ein trauriges Versagen einer Cannes-Jury.
In Cannes geht es darum, in den Jury-Entschei­dungen die Frage zu beant­worten, was gerade im Weltkino passiert, was ästhe­tisch vorne steht, und was zu vernach­läs­sigen ist. Es geht darum, mit den Preisen deutlich zu machen, »wohin die Reise geht«, darum Entschei­dungen voller ästhe­ti­scher Kenner­schaft zu treffen und nicht nur »wichtige« Themen und lautere poli­ti­sche Über­zeu­gungen zu prämieren.
Es geht auch nicht alleine um die Frage, ob man jemandem, der bereits in Venedig und Berlin den Haupt­preis gewonnen hat, nun unbedingt auch noch eine Goldene Palme geben muss.

In allen diesen Punkten ist die Jury feige ausge­wi­chen.

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Noch eine Anmerkung zum Preis für den deutschen Film: Viel­leicht war es bezeich­nend, dass Mascha Schi­linski unter allen Preis­trä­gern am Samstag die einzige war, die sich in ihrer Preisrede sehr artig bei allen Film­för­der­insti­tu­tionen bedankte. Andere taten das allesamt nicht, obwohl sie gute Gründe hätten, sie dankten der Familie, dem Team, dem Festival, Idolen und Anregern.
Das ist nicht nur mir aufge­fallen, sondern auch auslän­di­schen Kollegen, die mich danach darauf anspra­chen. Mir scheint es, wie gesagt, eine bezeich­nende Geste zu sein für eine deutsche Filmszene, die wie eine Bitt­stel­lerin auftritt, wie der Knecht dem Herren gegenüber, die dankbar und höflich sein will, anstatt Ansprüche einzu­for­dern, und stell­ver­tre­tend für die die Kunst des Kinos Ansprüche zu erheben.
Wann, wenn nicht im Augen­blick eines Palmen­ge­winns soll und kann man das tun?

»Sound of Falling«/»In die Sonne schauen« ist ein toller Film, ich habe das hier schon mehrfach gesagt und werde nicht müde werden, es immer wieder zu wieder­holen.
Trotzdem ist klar, was jetzt mit Mascha Schi­linski und ihrem groß­ar­tigen Werk passieren wird: Es wird verein­nahmt werden vom deutschen Film­system und seinen Funk­ti­onären; es wird wie eine Monstranz herum­ge­zeigt werden, als eine Bestä­ti­gung dafür, das doch alles richtig und hervor­ra­gend bei uns läuft. Es wird behauptet werden, der Film sei der Inbegriff des deutschen Kinos. Und Mascha Schi­linski wird zur Madonna werden, zur Madonna des heiligen Rich­tig­ma­chens; sie wird vorge­zeigt werden als Beweis dafür, dass es geht und wie es geht.
Dabei ist das Gegenteil der Fall: »Sound of Falling« ist überaus untypisch für alles, was im deutschen Film passiert. Es ist nicht etwa der Ausdruck dessen, was deutsches Kino bedeutet, sondern es ist die Antithese zu allen syste­mi­schen und stra­te­gi­schen Entschei­dungen im deutschen Kino.

Jetzt sollten wir weiter denken und von diesem Erfolg lernen. Die wich­tigste Lektion ist die: Vertraut den Regis­seu­rinnen und Regis­seuren! Misstraut allen Funk­ti­onären und Gremien!!

Die zweite Lektion ist die, dass wir in Deutsch­land endlich den Filmen, die leid­li­chen Erfolg auf irgend­einem Festival haben, auch ein Leben im Kino geben müssen. Dass wir sie nicht verram­schen dürfen in der ersten und zweiten Start­woche.
Die Filme und die Produk­ti­ons­firmen und die Verleiher, die wir alle so lieben, sind größ­ten­teils Zombies, die untot am Tropf der Förderer gerade mal so exis­tieren und dahin­sie­chen können: Halb leben sie, halb sterben sie, der himm­li­sche Vater ernähret sie nicht und die Film­för­de­rung ernähret sie kaum. Das muss sich ändern!

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Die Rhythmen eines Film­fes­ti­vals: Die letzten Tage gingen wie immer sehr schnell vorüber. Wie jeden Morgen laufe ich gegen acht Uhr wieder zum Palais. Zum letzten Mal in diesem Jahr der tägliche Weg, und darum versuche ich jedes Detail noch einmal intensiv wahr­zu­nehmen, die Luft kräftig einzu­atmen: Die frisch abge­spritzten Straßen, die Sonne, die gerade beginnt...
Morgen am Sonntag bin ich zwar noch den ganzen Tag da, aber das wird eine Mischung aus Arbeit und Strand, das Festival 2025 ist dann Geschichte.

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Was dann passierte, habe ich in 22 Jahren Cannes noch nie erlebt: Während der ersten Reprise-Vorfüh­rung am Morgen – ich sehe mir den deutschen Wett­be­werbs­film »Sound of Falling« noch einmal an – geht plötzlich um Minute 90 herum das Licht an. In Cannes und Umgebung, mögli­cher­weise der ganzen Cote d’Azur von Nizza bis Saint-Tropez ist der Strom ausge­fallen! Später ist von einem mutwillig gelegten Feuer die Rede. Der Ausfall geschah ziemlich genau gegen 10 Uhr am Morgen und ist bis jetzt, etwa fünf Stunden später noch nicht behoben.
Die Festi­val­vor­füh­rung geht aller­dings schon nach zehn Minuten weiter, genau an der stelle, o der Film unter­bro­chen wurde. Denn das Festival hat auch sein eigenes, vom übrigen Netz unab­hän­giges Strom­ag­gregat. Noch nie war so zutref­fend, wie jetzt, was ich hier schon öfters beschrieben habe: Dass das Palais nicht nur äußerlich, sondern auch von der Anmutung dort zwei Wochen lang zu leben und zu arbeiten wie ein Raum­schiff ist. Man befindet sich in seinem eigenen Orbit und was Außen passiert, das berührt die, die drin sind, nur wenig.
Trotzdem ist es ein Glück fürs Festival, das alles am letzten Tag geschah.

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Ausge­rechnet am letzten Tag kann man auch sagen, denn der letzte Tag wird oft von Festi­val­be­su­chern dazu genutzt, in Cannes etwas einzu­kaufen. Jetzt haben die meisten Geschäfte geschlossen.
Lustig ist auch, dass die Werbe­ta­feln ihre Botschaften munter weiter­drehen. Offenbar werden sie mit Sonnen­kol­lek­toren betrieben.

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Alles wird leerer, den Leuten der Security, jeden­falls, die mit denen man inzwi­schen kurze Gespräch austauscht, wünscht man wie immer einen schönen Tag und sagt diesmal dazu: »Merci pour votre travail pendant le festival.«

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Nur drei­ein­halb Stunden habe ich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag geschlafen. Deswegen sitze ich schon um 8:30 Uhr wieder im Kino, als ich bereits zwei Stunden wach bin, weil ich nämlich im Festi­val­pa­lais Radio gemacht habe –, auf einen Platz, wo links und rechts daneben keiner sitzt, genau in der Absicht, im Fall des Falls zu schlafen. »Dalloway« von Yann Gozlan ist ein Psycho­thriller, aber auch ein Mitter­nachts­film, insofern musste man mal abwarten, ob man in ihm schlafen kann. Aber besser, sich einen Film auszu­su­chen, indem man proaktiv die Augen zumacht, als in irgend­einem Film nicht weiter zu können und schlafen zu müssen.

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Zum Abschluss läuft im Wett­be­werb noch mal das, was man so »Große Namen« nennt. Die Brüder Dardenne und Kelly Reichardt. Ob mit ihnen auch auto­ma­tisch große Filme verbunden sind, bleibt noch die Frage.

Kelly Reichardt habe ich früher sehr gemocht. Ihre Filme »Wendy und Lucy« und Meek’s Cutoff gehören zu den besten, schönsten und femi­nis­tischten US-Filmen der Nuller-Jahre und auch noch Night Moves war 2013 schlau und witzig.

Doch danach ist Reichardt bei ihrem Versuch sich noch einmal neu zu erfinden, vom Weg abge­kommen und hat sich im Labyrinth verschwur­belter Meta­dis­kurse verirrt, die für film­wis­sen­schaft­liche Seminare taugen mögen, aber nicht für ein breiteres und sei es auch nur aus Film­kri­ti­kern bestehendes Publikum – auch wenn sie sie weiterhin nach Cannes bringen. Wie »Showing Up« und »Certain Women« ist auch »The Master­mind« ein banaler, nicht einmal lustiger Witz, der sich als Genre­spiel verkauft.

Man könnte von »Minuskino« sprechen, in dieser Geschichte eines dummen Kunsträu­bers, die den Mann einen Großteil der Laufzeit dabei begleitet, wie er sich versteckt, und nach Hilfe sucht. Ein leerer Film über innere Leere, aber ohne Lust an irgend­etwas jenseits der Destruk­tion.

Das Inter­es­san­teste an »The Master­mind« ist noch, dass die Flucht im Jahr 1970 spielt: Im Fernsehen spricht man über die Viet­nam­krise, auf den Straßen protes­tieren die Jugend­li­chen gegen Nixon, und die Polizei prügelt Demons­tranten zusammen.

»The Master­mind« hätte ich auch am ersten Tag als außer­or­dent­lich öde empfunden – jetzt erscheint bin ich überzeugt, dass es ein schlam­piger, nichts­sa­gender, und einer der lang­wei­ligsten Filme des ganzen Wett­be­werbs ist.
Das einzig Gute an diesem Film sind die alten Autos.

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Am Ende eines Festivals verliere ich wirklich die Geduld mit manchen Filmen. Aber am neuen Film der Dardenne-Brüder »Jeunes Mères« über ein Zentrum für junge Mütter und vier Insassen gibt es ganz und gar nichts auszu­setzen.

Im Jahr 2005 gewannen die Brüder Dardenne ihre zweite Goldene Palme mit »Das Kind«, in dem sie die Geschichte eines jungen Paares erzählten, das unter prekären Bedin­gungen lebte und ein Kind zur Welt brachte, das es kaum versorgen konnte. Darin sprachen die Dardennes über die Preka­rität einer Gene­ra­tion, die sich über­s­türzt den Härten des Lebens stellen musste.
»Jeunes mères« könnte eine Fort­set­zung jenes Films sein – 20 Jahre später. Die Regis­seure konzen­trieren sich diesmal nicht auf ein Paar, sondern erzählen ein Mosaik vier Geschichten. Diese sind mit der gewohnten Strenge und Präzision der Filme­ma­cher insze­niert und wechselt zwischen den paral­lelen Erzäh­lungen und den Abläufen der Sozi­al­dienste. Wie so oft im Kino der Dardenne-Brüder offenbart sich am Ende des Weges ein Funken Mensch­lich­keit, der bis dahin im Verbor­genen geschlum­mert hat.

Wir erleben auch visuell die bekannte Rezeptur des System Dardenne, die Kombi­na­tion aus Nahauf­nahmen und Problemen, einer Hand­ka­mera und groß­ar­tigen jungen Schau­spie­le­rinnen, die noch zu entdecken sind, und von den Regis­seuren mit entzü­ckender Aufmerk­sam­keit geführt werden, Haupt­fi­guren, die voll im Stress sind, und Problemen, die allzu dicht und geschmeidig inein­ander greifen.

Aber ich finde den Film trotz alldem nicht stark, sondern einfach nur solide. Die Zeit ist über die Dardenne hinweg gegangen. Jetzt sind sie alt, jetzt geben sie zum ersten Mal einem ihrer Filme ein Happy End und jetzt zitieren sie Apol­lin­aires Gedicht »Adieu« – man hat ein bisschen das Gefühl, es könnte auch das Adieu dieser beiden wichtigen Regis­seure sein.

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Die Ex-Saal­lei­terin vom Debussy, eine sehr junge Frau von viel­leicht allen­falls Mitte 30, die ich immer schon ganz großartig und souverän in ihrem Auftreten fand, und mit der ich jedes Jahr ein paar Sätze wechsle, obwohl wir uns noch nie unsere Namen gesagt haben, ist aufge­stiegen, und betreut jetzt die Premieren im Lumiere.
Auch ihr sagte ich heute »Bonsoir et au revoir!«