09.06.2011
64. Filmfestspiele Cannes 2011

»Sei Schöpfer und Zerstörer. Mach' die Nach­richten und kommen­tiere sie.«

La piel que habito
Schönling Antonio Banderas als Schönheitschirurg in La piel que habito
(Foto: Tobis Film GmbH)

Verfluchtes Festival: Almodovars Vertigo, Opium fürs Volk und der Gang-Boss im Elysee-Palast – Was unter Palmen übrigblieb,
Cannes-Nachklapp, zweite Folge

Von Rüdiger Suchsland

»It’s a cursed festival«, »das Festival ist verflucht«, meinte irgend­wann die spanische Kollegin und gute Freundin Violeta Kovacsics aus Barcelona, über das dies­jäh­rige Jahr in Cannes. Und sie meinte damit nicht etwa die Filme dieses tatsäch­lich sehr aufre­genden, inten­siven, viel­fäl­tigen Festi­val­jahr­gangs, nein, im Gegenteil. Aber die Häufung von persön­li­chen Miss­ge­schi­cken unter den Kollegen, von denen hier jeder erzählen kann, in diesem Jahr schon auffällig. Gerade am zweiten Donnerstag, als wir uns schon mit den Folgen von Lars von Triers Pres­se­kon­fe­renz herum­schlagen mussten, war so ein Tag. In der Nacht zum Freitag ist Violeta auf dem Nach­hau­seweg gestürzt und hat sich zwei Finger gebrochen. Drei Stunden Kran­ken­haus waren die Folge. Wir haben unser Telefon unter uns völlig uner­klär­li­chen Umständen verloren – im Kino. Zehn Minuten vorher hatten wir noch drauf geguckt. Und daher schon zum zweiten Mal mit dem absurden »Lost & Found«-Büro des Festivals Bekannt­schaft gemacht. »Wenn Sie wüssten, was hier alles gefunden wird«, erzählt der Mann am Schalter. Unseren Pullover haben wir wieder­be­kommen. Mit dem Telefon ist das natürlich nicht passiert.

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Wodurch sich Cannes bisher immer sehr wohltuend von anderen Festivals unter­schieden hat, war der stilvolle und vor allem rationale Umgang mit den Bericht­erstat­tern. Dies ist das einzige Festival von Rang, bei dem man nicht dafür bezahlen muss, dass man berichten darf.

In diesem Jahr begann dieser Eindruck sachte zu bröckeln: Aus uner­find­li­chen Gründen wurden hier an den letzten drei Tagen die Taschen auch beim Eingang ins Palais kontrol­liert. Vorher, sprich: In der Zeit, als ganz viele da waren, hatte man darauf verzichtet. Auf die Frage, was man suche, hieß es: »Scheren, Messer, Pistolen…« Viel schwerer wiegt, dass man erstmals in die Kinos keinerlei Getränke und Essen mitnehmen darf. Auch kein Wasser und keine Klei­nig­keiten wie Äpfel. Da man im Palais nichts kaufen kann, und es auch kaum Spon­so­ren­wasser gibt, ist so etwas auf die Dauer belastend. Entweder man muss raus und Wasser kaufen, oder man verbringt den ganzen Tag ohne Getränke. Also schmug­geln alle Getränke in ihren Taschen, und auf den Kontroll­ti­schen vor dem Eingang türmen sich Wasser­fla­schen und Scho­ko­riegel. Mit solchen Schikanen macht sich das Festival nur lächer­lich.

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Zu den depri­mie­rendsten Erfah­rungen dieser Festi­val­woche gehört die »Spiegel«-Hörigkeit der Redak­tionen, bis zu den aller­besten von ihnen. Die zeigte sich im Fall Lars von Trier. Der »Spiegel«, das ist nichts Neues, hat die Film­be­richt­erstat­tung fast aufge­geben und wartet eher auf solche Momente, wie die Pres­se­kon­fe­renz des Dänen. Am Telefon am Tag zuvor und im Angesicht der dpa-Meldung war man noch ganz gelassen gewesen. Erst als der »Spiegel« unter der Über­schrift »Eklat in Cannes« »berich­tete«, war das Thema auf einmal wichtig. Da denkt man doch: Selber schuld, wenn ihr Euch von der Konkur­renz die Themen diktieren lasst.

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La piel que habito (Die Haut, in der ich wohne) heißt der neue Film von Almodóvar – eine sehr positive Über­ra­schung. Der Film erzählt, je nach Lesart, entweder eine sich über­kreu­zende Rache­ge­schichte, oder er bietet eine moderne Variation des Fran­ken­stein­my­thos. Im Zentrum steht ein berühmter Schön­heits­chirurg – was für eine lustige Idee, den mit Schönling Antonio Banderas zu besetzen! –, dessen Frau vor ein paar Jahren bei einem schreck­li­chen Unfall verhee­rende Brand­wunden erhielt – jetzt lebt sie in einem abge­schlos­senen Areal im Privat­haus des Arztes, und wird allmäh­lich wieder herge­richtet. Dafür schreckt der Arzt Robert vor keinem Expe­ri­ment und Bruch mit ärzt­li­cher Ethik zurück: Künstlich gewach­sene Haut wird verpflanzt, Blut von Tieren ebenso verwendet, wie Schwei­ne­zellen. Von Mutation und Trans­ge­nesis ist die Rede – der schöne Doktor argu­men­tiert schlüssig: »Wir inter­ve­nieren doch in alles. Wir ändern alles durch künst­liche Eingriffe. Warum sollen wir ausge­rechnet uns selbst verschonen?«

Insze­niert ist das voller hübscher, anspie­lungs­rei­cher Details: Das Blut kommt aus Deutsch­land, der Arzt isst gern Honig und hat dazu im eigenen Haus auch eigene Bienen, sowie ein Labor voller Schaben und Käfer – da sind dann Passagen, in denen der Film minu­ten­lang an ein Cronen­berg-Werk erinnert. Wichtiger ist die Frage: Wieviel hat das Wesen, das Vera genannt wird, und das dort in edlen Räumen zwar wunder­schön anzusehen, aber traurig, selbst­mord­ge­fährdet und irgendwie »anders« vor sich hinlebt, noch mit Roberts Frau gemeinsam? Sie fragt ihn immerhin irgend­wann: »Können wir nicht leben, wie alle? Wie die ganze Welt?« – »Wir sind doch nicht wie alle.« – »Sieh es als eines Deiner Expe­ri­mente.« Sie bekommt Opium, und schreibt mit Make-Up-Stift an die Wand: »Das Opium hilft mir, zu vergessen.«

Es ist ziemlich gut, wie Almodóvar uns Zuschauer auf die falsche Fährte führt. Denn im Laufe des Films stellt sich dann heraus, dass die Eingriffe des Arztes noch viel weiter gehen, als geahnt.

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Trotzdem ist dies nicht so sehr ein Thriller über die Hybris der Wissen­schaft, sondern vor allem in Melodram auf den Spuren von Hitch­cocks Vertigo: Auch hier geht es um einen Mann, der seine Frau verloren hat, und nun eine künst­liche Frau nach seinen Vorstel­lungen gestaltet. Wie immer bei Almodóvar ist das nicht nur klug und thema­tisch äußerst reich­haltig, sondern auch überaus schön anzusehen: Offen bekennt sich der Spanier zu Einflüssen von Tizian und Louise Bourgois, dem Mode­schöpfer Gaultier und dem Genetiker Dawkins. Aber auch zu seinem Feti­schismus: Vera trägt meist einen Dress aus haut­far­benem Strumpf­ho­sen­stoff – eine zweite Haut aus Kleidern. Und immer wieder gibt es Momente, die an diesen spezi­ellen Feti­schismus mancher Pornos und Sexspiele erinnern, die um zweite Häute kreisen, von hautengen Leder- und Gummi­an­zügen über Ganz­kör­per­strumpf­hosen bis zu Pseudo-Tier­häuten, die wir auch von Catwoman und Cat People kennen.

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Völker­kunde. Vor dem Premieren-Screening des schönen Doku­men­tar­films Michel Petruc­ciani von Michael Radford wird eine Sitz-Reihe für das Filmteam frei­ge­halten. Alle Zuschauer akzep­tieren das. Außer zweien. Sie disku­tieren mit der älteren Saal­ord­nerin. Es sind, das ist am Akzent schnell zu hören, mal wieder Italiener. Es geht dabei gar nicht so sehr darum, ob sie hier die Regeln akzep­tieren oder nicht, wobei die Regeln in Cannes fast immer ziemlich erträg­lich und unbedingt rational begründet sind – Ausnahme: Die Wasser­be­schlag­nahme. Es geht eher darum, dass es, wenn auf Film­fes­ti­vals irgendwo an der falschen Stelle disku­tiert wird, es sich zu 90 Prozent um Italiener handelt, und dass die dann ihre offenbar im Übermaß vorhan­dene Streit­lust mit Vorliebe an Subal­ternen wie Saal­ord­nern auslassen, gern mit ihren tollen italie­ni­schen Mobil­te­le­fonen irgend­welche Chefs anrufen, immer lauter werden, und irgend­wann alles Maß verlieren: Die Debatte mündete dann in ein »Fucking French« des Italie­ners. Irgend­wann gab die Frau entnervt auf, und ließ die beiden in die Reihe, wo sie dann eine Vier­tel­stunde allein saßen. Jetzt kann man natürlich sagen, das sei hier alles nur typisch deutsche Itali­en­ver­ach­tung und verkappter Rassismus. Glaube ich aber nicht, ist einfach Erfahrung.

Dem Ganzen den Gipfel setzten die beiden dann auf, als sie in der Mitte der Vorfüh­rung aufstanden, und gingen – »typisch!« möchte man sagen.

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Viel schwie­riger, schrieb einst der poli­ti­sche Realist Machia­velli, als die Macht zu erringen, sei es, sie zu erhalten. Diese Erfahrung hat jetzt erst Dominique Strauss-Kahn gemacht. Unab­hängig davon ob und was er genau gemacht hat, wurde er von den Medien öffent­lich skalpiert und an einem rostigen Flei­scher­haken aufgehängt. Das demo­kra­ti­sche Prinzip der Unschulds­ver­mu­tung gilt für Politiker schon längst nicht mehr, Strauss-Kahn war als Sozialist, Jude und Franzose der gefundene Sünden­bock für die US-Medien, flankiert von der unhei­ligen Allianz zwischen europäi­schem Boulevard und Femi­nismus. Auch wenn das New Yorker Dienst­mäd­chen ihre Aussage noch heute komplett wider­rufen würde – Strauss-Kahns poli­ti­sche Karriere wäre ruiniert. Die DSK-Affaire kam für Nicholas Sarkozy auch sonst zur rechten Zeit. Denn sie über­schat­tete Premiere und Kinostart eines Films, der dem fran­zö­si­schen Staats­prä­si­denten unter anderen Umständen höchst unan­ge­nehm sein könnte.

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Es mag gut sein, dass der Nicholas Sarkozy derzeit gerade die Erfahrung macht, wie recht Machia­velli mit seiner Bemerkung über Mach­t­er­rin­gung und Mach­ter­halt hat. Ande­rer­seits war der Aufstieg, das zeigt Xavier Durrin­gers Spielfilm La conquête jetzt, schon schwer genug. In Cannes hatte der in Frank­reich mit Spannung erwartete Film außer Konkur­renz im Wett­be­werb eine Premiere. Jetzt ist er in den Kinos gestartet.

Voller spre­chender Details und mit vielen boshaften Spitzen gegen Sarkozy und seine inner­par­tei­li­chen Rivalen schildert der Film den Weg Sarkozys zur Präsi­dent­schaft wie ein Königs­drama von Shake­speare als Kampf innerhalb des gleichen Lagers. Der Film beschreibt den großen Ehrgeiz des kleinen Mannes, den sein Konkur­rent, der groß­ge­wach­sene zwischen­zeit­liche Außen und Premier­mi­nister Dominique De Villepin immer nur den »Zwerg« nennt, und bietet auch Szenen der zerbre­chenden Ehe zwischen »Sarko« und seiner Frau Cecilia, die ihm bereits insgeheim in Trennung lebend, im Wahlkampf noch als Beraterin zur Seite stand.

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Ein solcher Film wäre in Deutsch­land völlig unmöglich – schon aufgrund eines in Europa einmalig scharfen Persön­lich­keits­rechts, in dem selbst eine Figur nur dann »Kanzler« heißen darf, wenn mit Angela Merkel möglichst keine Eigen­schaft teilt. In Frank­reich kennt man derglei­chen Schutz­rechte für die Mächtigen nicht. In La conquête, der sich als von nur »inspi­riert« bezeichnet, genügt es, den Film zu Anfang als »a work of fiction« zu bezeichnen – dann tragen aber alle Betei­ligten ihren richtigen Klar-Namen, und keines dieser Portraits ist schmei­chel­haft: Sarkozys Vorgänger Jacques Chirac – »Ich mache keine Politik für die Politiker, ich mache Politik für Frank­reich« – säuft und flucht, läuft zuhause im mit Barock­mö­beln ausge­stat­teten Elysee meist in geschmack­losen roten Trai­nings­an­zügen herum, und ist ein mit allen Wassern gewa­schener, oppor­tu­nis­ti­scher Intrigant. De Villepin sieht etwas besser aus, viel­leicht aber nur, weil er den Kampf um die Präsi­dent­schaft verliert.

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Am schlech­testen aber kommt Sarkozy selbst weg: Von Ehrgeiz zerfressen, neidisch, miss­trau­isch, verlogen – Sarkozy benimmt sich und redet in diesem Film wie Little Cesar im gleich­na­migen Hollywood-Klassiker, der Boss einer Mafiagang: »I'll be ever­y­where at once. Keep them guessing. Lounch 8 projects. They'll be punch-drunk. I'll be headline minister!« … »I’m alone. I forged myself and I'll fight to the end. I know Chirac better than he knows me. He won’t catch me. He is history. I am free. I am alone and i am free. And you Dominique... you are a dead man.« Auch Dialog-Sätze aus dem Film könnten von Machia­velli stammen: »Sei Schöpfer und Zerstörer. Mach die Nach­richten und kommen­tiere sie.« Sarkozy – »Ich bin ein Ferrari.« – erscheint als einer der jede Handlung dem Macht­trieb unter­ordnet und seine poli­ti­schen Ziele wie die Hemden wechselt. Ein Konkur­rent sagt über ihn: »Es wäre falsch zu glauben, er hätte Über­zeu­gungen. Er hat nur Behaup­tungen.« Und mehr als einmal werden nach­bes­sernde Trans­for­ma­tion des poli­ti­schen Image nötig: Mal erscheint Sarkozy als zu pro-ameri­ka­nisch, mal als nicht sozial genug – alles eine Frage des Spin-Doctoring. Seine poten­ti­ellen Wähler sieht »Sarko« nicht mehr als Bürger, sondern als Konsu­menten nach deren Bedürf­nissen er sein Programm designet.

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Darin zeigt Durringer den Amts­in­haber aller­dings nur als erfolg­reichstem Reprä­sen­tanten eines poli­ti­schen Systems, das zur Problem­lö­sung zunehmend nicht mehr in der Lage ist, weil es keine Über­zeu­gungen hat, nach denen es vorgehen kann. Zugleich entfaltet der Regisseur Milieu und Rhetorik des Rechts-Popu­lismus. Sein Portrait dürfte nicht nur in Frank­reich als treffend empfunden werden.

Sarkozy ist derjenige, der das öffent­liche Bild des Poli­ti­ker­typus und das Verhältnis zwischen Politik und Medien in Frank­reich denkbar radikal verändert hat. Dies, weil er den Politiker als Star gegeben hat, weil er beschloss, auf die »Karte Trans­pa­renz« zu setzen. Gemeint war damit natürlich nicht Aufrich­tig­keit, sondern Trans­pa­renz als Ideologie, als Ablenkung vom Wesent­li­chen: Zum ersten Mal in Frank­reichs Geschichte tauchte ein Politiker in Klatsch­ma­ga­zinen auf, ließ sich beim Joggen, am Strand mit Sonnen­brille foto­gra­fieren und mit seiner Geliebten, einem Modell. Später wird er im Film einmal sagen: »This trans­pa­rency-shit binds us to reality.« Natürlich gehört zu all dem nicht minder eine Presse, die kuscht, und das böse Spiel mitspielt. Sarkozy gewann bei der Wahl 2007 80 Prozent der Rechts-Wähler, weil er so ist wie sie. Es ist Dominique de Villepin, der einmal in dem Film nicht ganz unzu­tref­fend über Sarkozy sagt: »Der Zwerg wird Frank­reich auf seine Größe herun­ter­stutzen.«

Blendend und mit sicht­barem Vergnügen spielen die Schau­spieler ihre auch in Gestik, Sprach­duktus und kleineren Verhal­ten­sticks wohl­be­kannten Figuren überaus nahe an ihren Vorbil­dern in der Wirk­lich­keit. Besonders Bernard Le Coq als Chirac und Denis Podalydes in der schwie­rigen Haupt­rolle beein­dru­cken.

So ist La conquête, ohne dass er mit großen Enthül­lungen oder neuen Einsichten aufwarten könnte, und auch wenn er gegen Ende ein wenig auf der Stelle tritt, ein Lehrstück darüber geworden, wie ein unter­halt­samer Polit­thriller im Kino aussehen kann, wie sich manche oft ernüch­ternde Einsicht über den Polit­be­trieb vermit­teln ließe. Man wünscht sich mehr solche Filme.

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»Politics – a stupid job done by intel­li­gent people.« heißt es in La conquête einmal. Dieser Film bietet nur ein Fall­bei­spiel für eine allge­meine Entwick­lung, die in allen Demo­kra­tien des Westens zu beob­achten ist: Die poli­ti­sche Debatte im eigent­li­chen Sinn des Wortes, ist verschwunden. Statt­dessen dominiert das poli­ti­sche Vakuum. Politiker haben Reden­schreiber und üben deren Texte vor öffent­li­chen Auftritten passgenau ein. Sie haben Masken­bilder und Mode­be­rater. Sie haben immer nur ein Publikum, das ihnen zujubelt, und umgekehrt Jour­na­listen, die sie kriti­sieren.

Mehr und mehr erscheint Politik – praktisch wie ästhe­tisch – als Film Noir: Ein Ort der Männer­bünde, der Macht, der von Body­guards abge­rie­gelten Männer­welten aus Beton, Stahl und Glas: der Büros, Restau­rants, Limou­sinen, der Sonnen­brillen. Eingehüllt in den Kokon eines frag­wür­digen Ehrbe­griffes und seines Schwei­ge­gelübdes, das dem Kult des Geheim­nisses dient. Tele­fon­an­rufe werden nur noch mit der Hand vor dem Mund geführt, weil Medien Lippen­leser beschäf­tigen.

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Diese abstrak­tere Seite der Poli­ti­ker­welt wird gut getroffen in Pierre Schoel­lers L’exercise de l’état, der gleich­falls in Cannes urauf­ge­führt wurde. Olivier Gourmet spielt darin Bertrand Saint-Jean, Minister für Transport in einer fiktiven fran­zö­si­schen Regierung. Saint-Jean ist ein Hoff­nungs­träger. Noch recht unberührt von der Macht ist er einer, der mit Idealen beginnt, und einen Desil­lu­sio­nie­rungs­pro­zess erlebt. Auch hier steht im Zentrum aber die reale Umwelt des zeit­genös­si­schen Poli­ti­ker­be­rufs: die Limou­sinen, die Body­guards, die Black­berrys. Die Leute hinter den Insti­tu­tionen. Die Strip­pen­zieher, die wir nie sehen. Der Film zeigt, dass poli­ti­sche Entschei­dungen von Gruppen getroffen werden. Zeigt ihre Dynamik, das unsicht­bare Wesen der Macht: Dominanz und Unter­wer­fung als Schlüs­sel­ele­mente, Demü­ti­gung als Notbehelf. Auch wenn es am Ende nur eine Person ist, der Minister, die die Entschei­dung trifft, und dafür einstehen muss.

»Wir sagen immer das Gleiche.« wundert sich der Minister selbst. »Zwei von drei Dekreten, die wir erlassen sind reiner Aktio­nismus. Sie werden vom Budget gestoppt.« Irgend­wann hat er einen schweren Auto­un­fall, bei dem sein Fahrer stirbt. Seine neu gewonnene Popu­la­rität nutzt der Präsident sofort zur Beför­de­rung: »Aber spiel ja nicht den Radikalen. Gewinn einfach die 5 Prozent zurück, die wir durch die Priva­ti­sie­rung verloren haben.«

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Bei Kaffee­trinken komme ich am Tag vor der Preis­ver­lei­hung über unter­schied­liche Ansichten zu Malick ins Gespräch mit einer älteren Dame. Sie stellt sich dann nach zehn Minuten als die Mutter der Austra­lierin Julia Leigh heraus, deren Film Sleeping Beauty hier vor zehn Tagen ganz zu Beginn des Wett­be­werbs gelaufen war, und ziemlich schlechte Kritiken bekommen hatte. »Das hat ihr nichts ausge­macht« versi­chert die Mutter, für uns war allein die Einladung in den Wett­be­werb schon ein Geschenk, das alle Erwar­tungen über­troffen hatte. Den Malick-Film fand sie »kitschig und enttäu­schend … ich habe im Kino noch nie so häufig auf die Uhr geguckt, wie bei diesem Film.« Ihr persön­li­cher Favorit war dafür Melan­cholia.

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2011 dürfte als einer der besten Wett­be­werbe der letzten Dekade in die Cannes-Geschichte eingehen: Man sah zwar viele bekannte Gesichter, doch gilt für Terrence Malick wie Lars von Trier, für die Dardennes-Brüder wie für den Spanier Pedro Almodóvar, dass sie etwas wagten, dass ihre Filme auf hohem künst­le­ri­schen Niveau Mut und Risi­ko­be­reit­schaft zeigten. Während Malick und Trier dabei auch vor den großen Mensch­heits­fragen nicht zurück­schreckten, sozusagen mit Gott persön­lich in den Ring stiegen, waren die Geschichten von Almodóvar und den Dardennes, intimer.