02.06.2011
64. Filmfestspiele Cannes 2011

Liebe, Hass und Große Gefühle

Drive
Bewegung, Überraschung, pures Gefühl: Drive von Nicolas Winding Refn
(Foto: Leonine Distribution GmbH)

Das kleine Kino der großen Wunder: Tage der Autos, Tage der Messer, zwei nahezu perfekte Filme in Cannes, und wofür Aki Kaurismäkis Film Le Havre steht – was unter Palmen übrigblieb – Ein Cannes-Nachklapp

Von Rüdiger Suchsland

In punkto Qualität war das dies­jäh­rige Festival von Cannes, das vor zehn Tagen mit der Goldenen Palme für Terrence Malick und seinen The Tree of Life zu Ende ging, ein schlechthin groß­ar­tiger Jahrgang: Die offi­zi­elle Selektion allein bot ein Spit­zen­pro­gramm. Da musste man gar nicht erst in die Paral­lel­sek­tionen der Semaine (auch super) und der Quinzaine (eher gar nicht super, aber mit ein paar Ausnahmen) auswei­chen.

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Die zwei für mich ganz subjektiv aller­besten, aller­schönsten Filme des dies­jäh­rigen Festivals liefen beide am gleichen Tag, dem zweiten Donnerstag, als das Festival bereits in die Ziel­ge­rade einbog: The Yellow Sea (aka The Murderer) vom Koreaner Na Hong-jin in der Reihe Un Certain Regard und im Wett­be­werb der dänische Film Drive von Nicolas Winding Refn, den man von den Pusher-Filmen her kennt, und viel­leicht noch mehr von dem groß­ar­tigen Valhalla Rising. Zwei nahezu perfekte Filme, weil sie das, was sie sein wollen, auf höchstem Niveau auch sind. Von den beiden ist The Yellow Sea noch ein bisschen besser, weil tiefer, viel­fäl­tiger, aber beide sind Kino at its best: Bewegung, Über­ra­schung, pures Gefühl, eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit tieferen Fragen der mensch­li­chen Existenz. Und beides sind Filme, in denen Auto eine ziemliche Rolle spielen und Messer. Denn dieser schönste Tag in diesem Jahr in Cannes, war auch der Tag der Autos und der Tag der Messer. Aber der Reihe nach...

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Erste Szene: in Blick aus einem Hoch­haus­zimmer über eine Stadt bei Nacht. Los Angeles unver­kennbar; man sieht ein Zimmer, eine Straßen­karte, im Fernsehen läuft ein Basket­ball­spiel, L.A. gegen New York, und dies, auch das es sich um ein ein Ostküs­ten­team handelt, wird noch von Bedeutung sein. Es ist gerade Halbzeit. Ein Mann, nicht genau erkennbar, aber eher jünger, ist am Telefon, er erklärt, er sei nur der Fahrer, er trage keine Pistole, er garan­tiere, dass man in fünf Minuten das Ziel erreiche, nicht länger, dann »seid ihr auf euch gestellt«, »on your own«.

Der erste Schnitt, die zweite Szene zeigt den jungen Mann in einer Auto­werk­statt, ein alter Mann, offen­kundig sein Boss, übergibt ihm ein Auto, es ist ein silber­grauer Sport­wagen aus den 80ern. Schnitt.

Dritte Szene: Der Wagen steht vor dem Gebäude, in das einge­bro­chen wird. Der Fahrer, unser Held, soviel ist schon klar sitzt am Lenkrad, er trägt Leder­hand­schuhe, ein Zahn­sto­cher steckt im Mund. Seine Lippen sind geschlossen, er atmet offenbar ruhig, scheint leicht zu lächeln. Im Hinter­grund sieht man die Einbre­cher zuerst ein äußeres Gitter knacken, dann eine Tür einbre­chen. Der Fahrer nimmt seine Armbanduhr, macht sie am Lenkrad fest, stellt fünf Minuten ein. Aus dem Off hört man wieder das Basket­ball­spiel. Es geht in seine letzten Minuten. Lauter als dies noch hört man den Poli­zei­funk: »An alle Einheiten. Einbruch in der...« Er stellt das Funkgerät neben das Lenkrad. Einer der Einbre­cher kommt zurück, schwer beladen. Der andere lässt auf sich warten. Der erste Einbre­cher ist nervös, redet mit sich selbst: »Come on, man.« Unser Held bleibt cool. Gespannte Ruhe. Der zweite Mann ist dann endlich auch im Auto. Tür zu. Aus dem Funk kommt: »In zwei Minuten sind wir da.« Der Fahrer fährt los, durch die Front­scheibe sieht man 50 Meter weiter hinten einen Poli­zei­wagen langsam ankommen. Der Fahrer parkt den Wagen schnell auf der rechten Straßen­seite, Lichter aus. Der Poli­zei­wagen fährt weiter. Im Funk ist zu hören: »All clear.«

Der Wagen fährt wieder los, eine Weile ganz normal über die Straße, auf eine Schnell­straße, über eine Brücke. Das Basket­ball­spiel geht im Radio in seine letzten Minuten. Plötzlich taucht der Kegel eines Hubschrau­ber­schein­wer­fers auf, er erfasst den Wagen. Im Poli­zei­funk die Bestä­ti­gung. Der Fahrer gibt Gas, rast über die Brücke. Im Funk das Kommando, das alle Einheiten in diese Richtung befördert. Der Wagen rast weiter, das Licht des Schein­wer­fers klebt an ihm. Hinter der Brücke macht der Wagen plötzlich eine scharfe 90-Grad-Links­kurve. Der Schein­werfer verliert ihn, sucht ihn, kreist haar­scharf am immer noch überaus schnell durch die enge Seiten­straße fahrenden, auf dem schlechten Belag hin- und herge­schüt­telten Wagen vorbei. Die Gefahr ist immer noch unmit­telbar. Dann hält der Wagen nach einer neuen unver­mit­telten Drehung unter einer Brücke, die den Schein­wer­fer­blick verstellt. In Funk hört man gleich darauf die Meldung einer »Schießerei in der So-und-so-Straße, alle Einheiten dahin...« Der Hubschrauber zieht ab.

Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, fährt flüssig im Verkehr mit. An einer Straßen­kreu­zung schaltet die Ampel auf Rot. Der Wagen hält. Auf der entge­gen­kom­menden Fahrbahn kommt langsam ein Strei­fen­wagen entgegen. Hält gleich­falls an der Ampel. Im Funk hört man, wie der Fahrer der Zentrale meldet: »Gegenüber an der Ampel hält ein Fahrzeug, auf das die Beschrei­bung passt.« Die Ampel schaltet auf Grün. Vollgas! Das erste Auto wird links überholt, dann das nächste rechts, kurz auf der Gegen­ge­raden, im Rück­spiegel ist zu sehen, dass der Poli­zei­wagen mit Blaulicht die Verfol­gung aufge­nommen hat. Aber der Flucht­wagen rast schneller durch den nächt­li­chen Straßen­ver­kehr von Downtown L.A. Im Radio: »Noch wenige Sekunden, dann hat L.A. den Sieg. … drei … zwei … eins … Sieg!!!« Plötzlich scharf rechts, in den Eingang eines Park­hauses hinein. Der Wagen rollt aus, seine Insassen verlassen ihn, mischen sich unter die aufbre­chenden Basket­ball­fans. Der Fahrer zieht eine Kape auf und die Jacke aus, darunter wird ein blaues Fanshirt des LA-Teams sichtbar, und ruhig schlen­dert er direkt an den Poli­zei­wagen vorbei, die gerade ins Parkhaus einbiegen…

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Vierte Szene: Flug­bilder über ein nächt­li­ches, in inten­siven Neon-Farben getauchtes LA. Die Titel sind Pink. Erin­ne­rungen an Gaspar Noes Enter the Void. An Michael Manns frühe Filme. An Miami Vice. Der Titel-Song läuft: »There’s something inside you/ you cannot explain/ the people look at you/ as you were still the same.« Man sieht den Fahrer wieder fahren. Blicke. Im Parkhaus. Er trägt eine helle (eigent­lich heute unmög­liche) Jacke im Retro-Design, innen schwarzes Leder, außen Gold-Beige, darauf einge­stickt am Rücken ein großer gold­gelber Skorpion. Im Parkhaus sieht man eine junge Frau, aus einem Aufzug gehen, gespielt von Carey Mulligan, mit blonden, eher kurzen Haaren. Da sieht man sie zum ersten Mal.

Die vier Szenen zusammen sind ein perfekter Auftakt. Eine Übung in Coolness, in Stil, in Ökonomie. In Nostalgie für die 80er Jahre. Genaues Handwerk; von Seiten des Fahrers wie seines Regis­seurs. Man würde sich auf diesen Fahrer unbedingt verlassen.

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Hard-Boiled-Wonder­land. Der Fahrer wird bis Ende des Films keinen Namen tragen. Er nennt sich nur Driver. Eine Kinofigur voller Aura und Geheimnis. Ein Samurai, und er wird das mehr und mehr bis zum Ende, erinnert er an Delon bei Melville. Gespielt von Ryan Gosling, der ein Darsteller ist wie Christian Bale, kühl, glatt, gesichtslos, sehr ameri­ka­nisch in seiner Aller­welts­haf­tig­keit. Er ist Stuntman und Auto­me­cha­niker, der schönen Nachbarin namens Irene, antwortet er, als sie ihn fragt: »What do you do?« – »I drive«. Als er mit ihr redet, steckt er den Zahn­sto­cher hinters Ohr. Sie hat ein Kind, ohne Mann dazu; bzw. kommt der Mann dann irgend­wann doch, aus dem Gefängnis. Zuvor fallen schöne Sätze wie dieser: »I am not doing anything this weekend. If you want a ride or something...« Das Glück ist das des Auto­fah­rens.

Ansonsten Jobs, und Menschen. Als Driver einem namens Bernie Rose vorge­stellt wird (den Albert Brooks in einem überaus uner­war­teten, wirklich oscar­reifen Auftritt spielt), will er ihm erst nicht die Hand geben, nästelt an seinen Fahrer-Hand­schuhen rum: »My hands are dirty« – »Mine as well«. Dann geben sie sich die Hand.

So lakonisch, schnell, super straight, und materiell ist der ganze Film. Es gibt einen zweiten Überfall, bei dem der Driver nur beteiligt ist, weil er Irenes frisch­ent­las­senem Mann eine zweite Chance verschaffen will. Dieser Überfall geht schreck­lich schief. Was der Driver dann tut, tut er völlig selbstlos. Innerlich kalt. Ein Samurai. Aber er fühlt für Irene. Ihr verschafft er ihr Recht auf Glück, auf Neuanfang.

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Der Film ist eine große 80er-Hommage und lebt ansonsten nicht von der im Prinzip kleinen, wenn auch feinen Story, sondern von Bildern. Etwa dem, in dem der Driver einen Zuhälter in einer Gogo-Bar zusam­men­ge­schlagen hat. Während der blutend auf dem Boden liegt, ruft er dessen Boss an. Vier fünf nackte Frauen sitzen völlig ungerührt, höchstens erstaunt drumherum. So ein Bild kennt höchstens von Abel Ferrara. Oder als Brooks einen alten Freund töten muss: ergibt ihm die Hand. Hält sie fest als er mit dem Skalpell dessen Arm aufschlitzt. »It’s done. There’s no pain. It’s over, it’s over...«

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Dabei hatte dieser zweite Donnerstag gar nicht so gut ange­fangen. Morgens hatte ich zum ersten Mal den 8.30 Uhr-Film knapp verpasst, einfach, weil der Almodóvar schon um viertel nach acht voll war, und ich etwas zu spät aus dem Haus gegangen war. Dafür habe ich dann flugs ument­schieden, und mir in der Semaine den chine­si­schen Beitrag ange­schaut: Sauna On Moon ist hübsch, aber nichts Beson­deres, und viel­leicht doch etwas abge­standen in seinen Klischees vom netten, ganz normalen Nutten­da­sein. Vergleicht man den mal mit The High Life von Zhao Dayong, der letztes Jahr hier abgelehnt wurde, kann man sich nur wundern. Denn der war um Klassen besser.

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Pech im Spiel. Oder eben mit The Yellow Sea. Der geht los mit einem Majong-Spiel. Schnell, hart schlägt das Schicksal zu. Eine kurze Hoffnung für den, den die Kamera begleitet, dann gewinnt der andere. Sein Gegner ruft aus: »Was für ein Glück ich habe.« Und Glück und Pech als Leitmotiv sind etabliert.

In vier Kapiteln erzählt der Film die Geschichte einer verlo­renen Seele. Ein Südko­reaner in China. Er ist Cab-Driver, hat Schulden: 60.000 Yuan. Geld­ein­treiber suchen ihn auf, wecken ihn: »Go make some money«. Aber es wird nichts. Wieder Pech im Spiel, Schlä­gerei, Suff, Verzweif­lung. Gu-Nam ist fertig. Und wir erleben die Geburt des Film Noir aus der Verzweif­lung.

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Schön, geschmeidig wird erzählt, das Gu-Nam jemand anbietet, seine Schulden zu zahlen. »I am Myun. Lets go eat.« In der Suppen­küche wird klar: Er soll einen in Korea umbringen. »Willst Du Dein Leben wie diese Hunde verbringen?« Er sagt zu, fährt auf einem illegalen Boot zurück. Schwache werden ins Meer gekippt. Er hat zehn Tage Zeit. Der Filmnimmt sich Zeit, uns zu zeigen, wie Gu-Nam den Tatort auskund­schaftet. Das Verbre­chen vorweg­nimmt. Er imagi­niert die Tat: Trep­pen­haus, Gitter, Fahrstuhl, sechster Stock, Licht­schranke. Dann ist es soweit. Doch plötzlich sind zwei andere Typen da, die das Opfer gleich­falls töten wollen, und alles gerät aus dem Ruder. Dann beginnt der zweite Film, eine irrwit­zige Flucht­ge­schichte, dann wird alles ein korea­ni­scher Mafia-Thriller. Plas­tik­säcke, sind wichtig, Menschen werden zu Paketen. Lakonisch, rasant. Der beste Mafia-Film, den man seit langer Zeit gesehen hat. Auch hier zahl­reiche Auto­ver­fol­gungs­jagdten, Whow-Momente! Ausschöpfen können wir diesen facet­ten­rei­chen, klugen Film jetzt nicht. Nur darauf hinweisen, dass dies der beste Film des Festivals war, und keiner versteht, warum er nicht auch im Wett­be­werb lief.

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Wer nicht hassen kann, kann auch nicht lieben. Es ist gar nicht anders zu sagen: So wie jeder auf so einem Festival seine Lieb­lings­filme hat – in meinem Fall wie gerade gesagt Nicolas Winding Refns Drive, The Yellow Sea von Na Hong-jin und Terrence Malicks The Tree of Life –, so hat jeder auch seine Hassfilme. Das sind bei mir in der Regel jene Werke, die ich als Soz-Päd-Kino empfinde, Filme, die ihr Publikum sozi­al­pä­d­ago­gisch betreuen wollen, und sich dafür ebenso vergnüg­lich grunzend in Häss­lich­keiten suhlen, wie eine Wildsau in der Schlamm­grube. Oder die sich als Wohl­fühl­kino verkleiden, also jeden Preis, vor allem jeden künst­le­ri­schen, dafür zu zahlen bereit sind, alle Zuschauer, und zwar noch den aller­letzten, mit einem guten Gefühl nach Hause zu schicken. Als ob es immer aufs gute Gefühl ankäme. Am schlimmsten sind natürlich dann jene Filme, die beides irgendwie verbinden. Mein persön­li­cher Hassfilm ist daher in diesem Jahr Aki Kauris­mäkis Le Havre, gefolgt von Paolo Sorren­tinos This Must Be the Place. Zweimal mittel­klas­siger, lahmer Arthouse-Main­stream in selten zu findender Perfek­tion. Und das einzig positive, was ich über diese Filme sagen kann, ist: Sie wecken eine gewisse, wenn auch perverse, Leiden­schaft. Daher gönne ich mir im Folgenden eine kleine Erleich­te­rung.

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Man hatte es ja fürchten müssen. Irgend­wann am letzten Festival-Sonntag breitete sich ein Gerücht aus unter den profes­sio­nellen Beob­ach­tern in Cannes: Man habe Aki Kauris­mäki zurück­ge­holt zum Festival – das deute ja wohl eindeutig darauf hin, dass der Finne am Abend einen Preis erhalten werde. Andere wussten zu erzählen, Kauris­mäkis Produ­zenten liefen »schon strahlend durch die Stadt.« Whatever that means.

Viel hatte schon in den letzten Tagen dafür gespro­chen: Großer Applaus für den Film. Einhellig waren dieje­nigen Kriti­ker­kol­legen, mit denen ich mich befreundet fühle in ihrem positiven Urteil, nur die Inten­sität variierte. Es also diesmal nicht nur jener sehr erfahrene Kollege, der glaube ich jeden Kauris­mäki-Film aus Prinzip toll findet, der ihn mochte. Und auch die anderen, weniger befreun­deten (was ja auch ein bisschen was mit Geschmack zu tun haben kann), waren äußerst angetan. Komisch. Denn als ich dann in Kauris­mäki ging, in einer Nach­hol­vor­füh­rung, weil ich am Morgen der Pres­se­vor­füh­rung etwas anderes tun musste, sah ich einen schlechten, ungemein lang­wei­ligen Film.

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Der Terror der Cuteness. Was sieht man? Schön gefilmte, häßliche Menschen, mit »origi­nellen«, also zerfurchten, faltigen Gesich­tern. Lakonisch-stur sind die Gesichter und Gesten. Marcel Marx ist Schuh­putzer, aber alle haben heute Turn­schuhe an. Böse böse Moderne, früher war alles besser. Nur einer hat schwarze Schuhe, lässt sie putzen, er hat auch deinen Koffer und Hand­schellen, an denen der befestigt ist. Dann kommen andere zerfurchte Trench­coat­träger und der Kunde ist tot. Auch diesen Tod nimmt Marcel ungerührt hin. Im Folgenden taucht der Film erst einmal ein ins Glück der kleinen Leute. Marcel kann zwar nicht beim Bäcker und Gemü­sehändler zahlen, aber er bringt alles Geld nach Hause, bekommt dafür von seiner Frau Arletty ein Lächeln und 5 Euro für einen Aperitif, den Rest des wenigen Geldes verstaut sie fein­säu­ber­lich in einer Blech­schale.

Ganz süüüüüß diese zerknüllten 5-Euro-Scheine. Und ganz süüüüüß diese Frau, wie sie ihre Not doch vor dem geliebten Mann verbirgt. Diese cuteness hier ist das Schlimmste. Zu der gehört natürlich auch das Spiel mit den Namen: Marx, klar. Arletty, aha, genau, der Zaunpfahl-Verweis also auf das Kino von Marcel Carné. Der liegt immerhin nahe, denn Carnés Filme – zum Beispiel Hassfilme für einen wie Truffaut – muss auch nicht jeder mögen. Auch sie triefen von genau der gleichen Nied­lich­keit.

Dann sieht man Arletty Zwiebeln schneiden, und trotzdem nicht weinen, und dann den Kopf auf ihre recht häss­li­chen Hände stützen. Recht öde, schon hier. Derweil trinkt Marcel seinen Aperitif gemeinsam mit Hund Laika in einer Bar namens »La Moderne«.

Kauris­mäkis Bilder sind meist statisch, allen­falls kleine Schwenks kommen vor. Kein Zoom. Halb­to­talen. Viel Schuß-Gegen­schuß. Die Welt ist eine gekün­s­telte Nost­al­gie­welt. mit Hollywood-Licht, Musik aus den 50ern, Telefonen aus Roy-Andersson-Filmen. Nur die Busse sind neu. Aber Computer und Handys gibt es nicht. Die Story entwi­ckelt sich dann über arme Flücht­linge in einem Container. Schwarz­afri­kaner, deren Gesichter als Portraits anein­an­der­ge­reiht werden, wieder in Halb­to­talen: Menschen, die aus traurigen braunen Knopf­augen traurig gucken. Kitsch-Musik dazu aus dem Off.

Derweil ist Arletty im Kran­ken­haus. Es sieht nicht gut aus. »So there is no hope.« sagt sie. Der Arzt: »miracles happen.« Sie: »not in my quarter.« Da lacht die Kriti­ker­schar. Kati Outinen spricht ein überaus holp­rigres Fran­zö­sisch. Aber sie ist ja auch Finnin. Ich kämpfe mit dem Schlaf. Ein schwarzer Junge flieht, er heißt Idrissa, kommt bei Marcel unter, der ihn dann fragt »Quo vadis Idissa?« Jetzt sind alle nett, und Marcel bekommt viel zu essen, obwohl er nicht zahlen kann. Sie sind alle so herzensgut und bieten ihr Geld an.

Es wird immer lang­wei­liger. Immer diese glot­zenden Gesichter, diese herum­ste­henden Körper. Dann Folklore, Ethno-Musik aus dem Tran­sis­tor­radio. Ein Flücht­lings­lager. Dann wieder Glotzen, Herum­stehen. Bedeu­tungs­schwanger wird ein Kafka-Buch in die Kamera gehalten, ein paar Sekunden zu lang, um nicht unbemerkt zu bleiben. Man hält es nicht aus.

Der ganze Film ist wie naive Malerei. Die Menschen lächeln nicht. Das ist wohl die angeb­liche Schönheit der armen Leute. Tristesse-Schmie­ren­theater. Natürlich geschehen am Schluss Wunder: Der Polizist ist nett. Idrissa kommt nach London. Arletty stirbt nicht. Das kleine Kino der großen Wunder.

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Kauris­mäki ist von den ganzen Regis­seuren der bekannten Cannes-Familie, jenen mit Wett­be­werbs-Abo, der einzige, der nichts, aber auch gar nichts riskiert. Der einfach immer das Gleiche macht. Das hat mit Kino nicht viel zu tun, es ist Kunst­hand­werk der Betrof­fen­heit, Nied­lich­keits­schmon­zette. Arthouse-Main­stream, der gerade dem richtigen Kino in allen Ländern die Luft abschnürt. Kauris­mäki sehen wir dauernd, aber welchem anderen finni­schen Regisseur wären wir in den letzten Jahren schon in Cannes oder Berlin oder Venedig begegnet? Warum nicht? Weil die anderen so schlecht sind, und Kauris­mäki so gut, oder weil Kauris­mäki schlicht und einfach die Gelder blockiert und die Plätze in solchen Festivals. Dafür dürfte man dann doch etwas mehr erwarten?

Aber man weiß schon jetzt, was alles wieder geschrieben werden wird über diesen Film. Wie mensch­lich er ist, und wie schön, wie rührend und wie positiv in seiner Aussage. Und man wird gewiss sein, dass der Autor dieser Zeilen ein schlechter Mensch sein muss, dass der sich all dem verwei­gert, oder schlimmer noch, dass er all das nur schreibt, um sich wichtig zu machen. Auch das ist schön daran, dass Kauris­mäki keinen Preis gewonnen hat – das diese Unter­stel­lung jetzt etwas weniger zieht.

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Old Boys Club. Inzwi­schen habe ich mich daran gewöhnt, dass mein persön­li­cher Hass­mo­graph auch ein ganz guter Detektor für die Vorher­sage der FIPRESCI-Preise ist, jeden­falls auf großen Festivals, auf denen die FIPRESCI, die inter­na­tio­nale Kritiker­or­ga­ni­sa­tion die Jurys zumeist mit über 60-Jährigen, vor allem Männern, besetzt. Da kommt dann, das zeigt die Erfahrung, selten Gutes bei heraus, und ein Verband, der sich selbst auf die Fahnen geschrieben hat, Entde­ckungen zu machen, mutige, gewagte Filme auszu­zeichnen, wirkt dann seltsam erstarrt, wie Stali­nismus in der Endphase – und gibt einem Regisseur einen Preis, der bereits 17 Spiel­filme gedreht hat – und zudem dem einzigen unter all den bekannten Regiss­seuren, der nichts Neues versucht, sondern einfach das macht, was er immer schon gemacht hat. Man würde daher gerne die Begrün­dung für diesen Preis lesen, aber die Begrün­dungen hat die FIPRESCI leider schon vor Jahren abge­schafft.

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»Ich mache Filme über Loser.« Am Abend erzählte Sara Brito aus Madrid (die den Film mag, obwohl wir sonst bei fast jedem Film einer Meinung sind), was sie vorhin erlebt hatte: Mit ihrem Kollegen Alex war sie essen – »in der ohne Frage besten Bar in Cannes, einer echten Kauris­mäki-Bar«, wie Sara mit spani­scher Passión hinzu­fügte –, da saß am Neben­tisch plötzlich Kauris­mäki. Er war also da. Ganz normal angezogen, mit knall­rotem Kopf, weil er schon seine übliche Ration Alkohol intus hatte, und trank eine Flasche Schnaps leer. Ok, offenbar wollte er sich noch umziehen, und dann auf der Bühne anständig voll­ge­tankt stehen. Sara schickte Alex hin, er sollte ihm ein paar Fragen stellen. Kauris­mäki hatte vers­tänd­li­cher­weise wenig Lust, antwor­tete trotzdem: Ein paar tech­ni­sche Dinge, dann übrigens: »Ich mache keine Filme über arme Leute. ich mache Filme über Loser. Denn ich bin selbst ein Loser.« Tolles Zitat, oder? Erst ein paar Stunden später dämmerte es uns, dass der Finne, der eben sympa­thi­scher ist, als seine Filme, damit auch gleich noch den Schlüssel zur Preis­ver­lei­hung gegeben hatte. Auch da war er nämlich ein Loser.

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Wer bei Screen­daily führt, der stets verliert. Am Ende war dann ja die Jury mal ausnahms­weise klüger, als die Kritiker, und tat das einzige richtige: Sie gab Kauris­mäki gar nichts. Und ganz umsonst waren all die vorge­nannten Gedanken und Erwä­gungen, wer denn wohl den Preis gewinnen werde... Immerhin hat sich eine andere sehr stabile Cannes-Regel wieder einmal bewahr­heitet. das fast schon eherne Gesetz: Wer den Kriti­ker­spiegel des Festival-Dailys der Zeit­schrift »Screen« anführt – in diesem Jahr Le Havre –, gewinnt nichts, jeden­falls keine Goldene Palme. Gut, wenn man sich wenigsten auf etwas verlassen kann.

Die Kritiker, die da ihre Wertungen abgeben, sind zum Teil auch zwischen 60 und 80, und zumindest einer von ihnen sitzt dann auch in der FIPRESCI-Jury. Der einzige von ihnen, der als Autor wirklich inter­es­sant ist, ist Nick James von Sight & Sound. seine Wertungen aller­dings kann ich auch seltenst nach­voll­ziehen. Aus Deutsch­land sitzt dort Jan Schulz-Ojala vom West­ber­liner Tages­spiegel.

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Geschmacklos. Eher ein Fall von Shoa-Exploita­tion war dagegen This Must Be the Place das erschüt­ternd miserable Werk vom Italiener Paolo Sorren­tino im Wett­be­werb. Sean Penn spielt dort so langsam und schlep­pend einen Ex-Rockstar namens Chayenne, der irgendwie im Kinder­sta­dium hängen­ge­blieben ist, oder 20 Jahre Drogen­miss­brauch hinter sich hat. Erwachsen wird die traurige Gestalt erst, als in New York sein alter Vater stirbt, einst jüdischer KZ-Insasse. Zeit­le­bens hatte er versucht, jenen SS-Schergen zu finden, der ihn einst in einem polni­schen Lager gequält hatte. Erschüt­tert macht sich Cheyenne auf den Weg, um diesen Plan mithilfe des berühmten Nazu­jä­gers Mordechai Midler zu erfüllen. Das gelingt zwar schließ­lich – doch Mord, KZ-Opfer und Nazijagd sind hier nur Mittel, um die Haupt­figur erwachsen werden zu lassen und einem Film irgend­eine Bedeutung anzu­schminken, der erschre­ckend nichts­sa­gend ist, und miserabel insze­niert, ohne Rhythmus und Ökonomie, und daher ganz zu recht keinen Preis erhielt, außer dem der noto­ri­schen Betrof­fen­heits­frak­tion von der ökume­ni­schen Jury.

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Liebe, Hass und Reflexion. Aber darf man sowas überhaupt sagen? Liebe und Hass... Man könnte natürlich einwenden, Film­kritik habe dochmehr mit Reflek­tion und weniger mit Hassen oder Lieben zu tun, und es seien nur Film­fes­ti­vals, die diese starken Reak­tionen ganz besonders wecken.

Und das stimmt ja auch: Film­kritik hat mit Reflexion ganz viel zu tun. Aber eben doch auch genauso viel mit Gefühlen – deren Extrem­form die Worte »Liebe« und »Hass« eher symbo­lisch markieren, denn exakt bezeichnen. Ich hätte auch von Zu/Abneigung sprechen können, aber jeder hier weiß ja, was gemeint ist.

Im Übrigen scheint mir, man sollte beides nicht allzu scharf trennen, denn Gefühle sind sehr wohl auch eine Form der Reflexion – dass ich trotzdem gern im Zweifel auf Vernunft und Argumente vertraue, und dass Gefühle das Denken nicht ersetzen, im Gegenteil es erst auslösen, dass also hier nicht dem Irra­tio­na­lismus das Wort geredet werden soll, ist geschenkt.