02.02.2023
Cinema Moralia – Folge 293

Hinterm Horizont geht's weiter…

Bis ans Ende der Nacht
Wenigstens ein Lichtblick: Christoph Hochhäuslers Bis ans Ende der Nacht
(Foto: Berlinale / Christoph Hochhäusler)

Die Zukunft des deutschen Films muss visionär gedacht werden, oder es gibt sie nicht – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 293. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»In den letzten 20 Jahren ist ein deutsches Kino entstanden, das von Anpassung, Angst und falschen kommer­zi­ellen Vorstel­lungen geprägt ist. Diesen deutschen Gremi­en­film gilt es abzu­schaffen, wenn das Kino der Zukunft sein Publikum mit inter­es­santen, span­nenden, abgrün­digen und künst­le­risch beson­deren deutschen Filmen finden möchte. ... Mehr Energie für die Kunst, weniger den verkrus­teten und über­kom­menen Struk­turen.«
Aus den »Frank­furter Posi­tionen« 2018

Film­po­litik ist heute vor allem Politik, nicht Film. Warum hat eigent­lich niemand in der ganzen Branche irgend­etwas darüber geschrieben oder es zum Thema gemacht, dass die soge­nannte Kultur­staats­mi­nis­terin im Gegensatz zu ihren Vorgän­gern im Verwal­tungsrat der FFA sitzt, und dass sie offenbar auch wirklich hingeht.

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Man muss sich nur einmal in Ruhe rein­ziehen, wer da alles drinsitzt, und wer nicht – ich hatte es schon wieder verdrängt –, um zu verstehen, warum der deutsche Film so ist, wie er ist.

Filme­ma­cher sind in der Unterzahl, selbst wenn man den Begriff wohl­wol­lend auslegt. Es dominiert die Schwer­indus­trie, Arthouse ist ein will­kom­menes Ornament, Kunst und unab­hän­gige Künstler sind so gut wie nicht vertreten.
Sie aber sollen den deutschen Film dann retten, und einmal pro Dekade in den Wett­be­werb von Cannes bringen. Der Verwal­tungsrat fliegt zum Carpet Rouge in der Business Class hinterher.

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Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen. – Menschen meiner Gene­ra­tion kennen diesen Satz. Angeblich stammt er von Helmut Schmidt. Zu dem Kanzler, der sich selbst »leitender Ange­stellter der Bundes­re­pu­blik« nannte, hätte dieser Satz jeden­falls gepasst.
Trotzdem würde man sich heute auch in der Film­po­litik einen wie Helmut Schmidt zurück­wün­schen. Einen der jeden­falls nicht um klare Worte verlegen war, der Probleme benannte und den Finger in die Wunde legte, statt wegzu­schauen. Einen der auch deswegen »Schmidt-Schnauze« hieß, weil er Dinge sagte, die unbequem sind, und weil er überhaupt Dinge sagte. Die heutige Poli­ti­ker­ge­nera­tion hat vor allem ein Desin­ter­esse und sagt nichts. Sie macht zwar soge­nannte Öffent­lich­keits­ar­beit und »kommu­ni­ziert« im Twit­ter­takt, aber hinter den vielen Worten verbirgt sich in der Regel nur das große Nichts. Nur ja nix Falsches sagen. Das gilt ganz sicher auch für die Kultur­po­li­tiker.

Aber kommen wir zurück zu Helmut Schmidt. Wie gesagt, zum Arzt sollte gehen, wer Visionen hat. Beim deutschen Film reicht aber bald kein Arzt mehr. Wenn der deutsche Film nicht jetzt bald zum Arzt geht, kommt nämlich irgend­wann der Leichen­be­statter.

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Visionen brauchen wir. Wenn die Zukunft des deutschen Films nicht visionär gedacht wird, dann wird es sie nicht geben. Und ein deutsches Kino, das Holly­woods Durch­schnitt nachäfft, regionale Schau­spiel­stars als Regie-Quer­ein­steiger feiert, um die echten nicht zum Zuge kommen zu lasen, und ab und an ein »Großes Fern­seh­spiel« auf Lein­wand­größe aufbläst, das brauchen noch nicht mal die Deutschen.

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Vor fast fünf Jahren wurden in Frankfurt die »Frank­furter Posi­tionen zur Film­po­litik« verab­schiedet. Über 100 Film­schaf­fende und Bran­chen­an­gehö­rige wirkten daran mit.
In der Folge bildete sich gleich eine Handvoll von Initia­tiven. Manche Gründung mag nur eine Frucht der allge­meinen gras­sie­renden Unruhe gewesen sein, und gewis­ser­maßen eine Vorahnung jenes Erdbebens, das dann in Form der Pandemie die ganze Kultur­branche erschüt­tern sollte. Viele aber waren ein Indiz dafür, dass im deutschen Film gar nichts mehr rund läuft, und dass neben den alten Förder­ge­setzen die alten typischen einge­fah­renen poli­ti­schen Wege, aber ebenso auch die Akteure und Insti­tu­tionen einer Runder­neue­rung bedürfen. Das geübte Hickhack der Verbände, das routi­nierte Gegen­ein­ander, manchmal aber auch das allzu ölige Mitein­ander und Inein­ander führte nur noch zu rasendem Still­stand. Nicht mehr aber zu irgend­etwas Schöp­fe­ri­schem; oder auch nur zu gutem ökono­mi­schem Überleben.
Also kam es zu Neugrün­dungen. Manche sind thema­tisch auf einen spezi­fi­schen Punkt konzen­triert, wie etwa »Film macht Schule«. Der »Haupt­ver­band Cine­philie« ist eine der wich­tigsten Neugrün­dungen; gerade auch, weil hier die verschie­denen klassisch im Gegensatz befind­li­chen Bereiche Kreative Entwick­lung, Produk­tion und Vertrieb einmal auf Augenhöhe in einer Orga­ni­sa­ti­ons­form zusam­men­ge­funden haben und der Austausch produktiv wird. Eine weitere ist die »Initia­tive Zukunft Kino + Film«, ein Zusam­men­schluss unab­hän­giger Verbände und Netzwerke, von Kino- und Film­fach­leuten. Sie versteht sich als Plattform für Austausch, Nach­fragen und Debatte, und wird für die gemein­samen Inter­essen und Ziele öffent­lich eintreten.
Zum dyna­mi­schen Verbund der IZK+F gehören unter anderem die AG Anima­ti­ons­film, AG Kurzfilm, Bundes­ver­band Regie, Crew United, Haupt­ver­band Cine­philie, Bundes­ver­band kommunale Film­ar­beit, Verband der deutschen Film­kritik, Zukunft Deutscher Film. Ein reprä­sen­ta­tiver Quer­schnitt der Film­branche. In deren Forde­rungen und Vorschläge fließen diverse Impulse ein, die von den Frank­furter Posi­tionen ausgehen.

Gemeinsam ist den Teil­neh­mern wie auch den anderen Initia­tiven, dass sie alle einen Para­dig­men­wechsel in der deutschen Film­kultur und ihren poli­ti­schen wie wirt­schaft­li­chen Rahmen­be­din­gungen fordern.

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Vor fünf Jahren wurde nach den Frank­furter Posi­tionen geschrieben: »Das Gespräch muss weiter­gehen und zu konkreten Verän­de­rungen führen.«
Es ist weiter­ge­gangen, aber es hat nicht zu konkreten Ände­rungen geführt. Eigent­lich genügt es, sich die vier (groß­ar­tigen) »Thesen zur Film­kultur«, die damals von Regisseur Edgar Reitz formu­liert wurden, noch einmal durch­zu­lesen; eigent­lich genügt es, danach noch einmal die Frank­furter Posi­tionen zur Hand zu nehmen. Dann versteht man, worum es geht, und dann muss man sich entscheiden.

»Politik ist das langsame Bohren harter Bretter.« Auch so ein Satz. Dieser Satz von Max Weber trifft unver­än­dert zu, und er trifft auch auf die deutsche Film­för­der­po­litik zu. Aber das allein ist es nicht. Politik ist auch das wider­stands­lose Bohren in Styro­por­platten und das Rennen gegen Schaum­stoff­wände. Die Kultur­staats­mi­nis­terin, nein: die soge­nannte Kultur­staats­mi­nis­terin Claudia Roth ist eine solche Kultur­staats­mi­nis­terin gewordene Schaum­stoff­wand. Sie sagt zu allem Ja und Amen, außer wenn es um Verän­de­rung geht. Sie hat immer gute Laune, außer wenn es um die Ukraine geht. Sie lacht über alles, selbst über die Filme­ma­cher und ihre durchaus nicht zum Lachen gemeinten Anliegen. Nichts ist schlimmer als das Dauer­la­chen dieser Minis­terin.

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Nach fünf Jahren ist es Zeit für eine Wieder­vor­lage und eine Weiter­ent­wick­lung der Posi­tionen und der darin arti­ku­lierten Wünsche nach Abschaf­fung des Gremi­en­films und für eine grund­le­gende Neuord­nung des Deutschen Films.

Ein erster Schritt dazu wurde jetzt unter­nommen. Unter dem Titel »Für einen Neuanfang im deutschen Film« stellt die Initia­tive jetzt ihr Konzept für eine Reform der Film­för­de­rung vor. Hier, auf der Seite des »Verband der Deutschen Film­kritik«, der zu den Unter­zeich­nern gehört, kann man es nachlesen.

Film­för­de­rung ist kompli­ziert. Darum sind es auch diese Forde­rungen, die versuchen, dieser Komple­xität Rechnung zu tragen. Der gefor­derte Neuanfang ist radikal und entschieden, aber er ist keine Revo­lu­tion. Er bewegt sich innerhalb eines Systems, das Kunst unter die Kuratel von Wirt­schaft­lich­keit und Publi­kums­er­folg stellt, und damit dem Film eine Sonder­rolle zuweist, die man fast allen anderen Künsten, die man gern staatlich alimen­tiert, nie zumuten würde.

Aber es nimmt diese wesens­fremden Elemente ernster, als es die Förder­richt­li­nien und ihre poli­ti­schen Auftrag­geber jemals taten.
Denn wenn schon Wirt­schaft­lich­keit und Publi­kums­er­folg, dann muss man aner­kennen, dass ein Film, der mit 100.000 einge­setzten Euro 10.000 Zuschauer bekommt, um ein Viel­fa­ches wirt­schaft­li­cher ist, als einer der mit 10 Millionen 100.000 Zuschauer bekommt. Zur Zeit passiert genau dies auf keiner Ebene des Förder­zirkus.

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Zusam­men­fas­send geht es in dem Papier vor allem um mehr Klarheit und Trans­pa­renz und um eine komplette Trennung der zur Zeit auf allen Ebenen unselig vermischten zwei Säulen der Film­för­de­rung: die künst­le­ri­sche und die wirt­schaft­liche.
Alle können alles bean­tragen. Da es aber rein kommer­zi­ellen Projekten schwer fallen dürfte, ihren künst­le­ri­schen Wert nach­zu­weisen und manchen künst­le­risch ambi­tio­nierten Vorhaben, ihre ökono­mi­schen Erfolgs­aus­sichten, trennen sich die Felder relativ. Zugleich bleibt niemandem ein Feld grund­sätz­lich verschlossen. Realis­ti­sche Selbstein­schät­zung und Mut werden belohnt, das »Frisieren« von Anträgen wird sinnlos. Und da die Gesamt­etats der Förderung immer zu gleichen Teilen aufge­splittet werden, werden die Chancen künst­le­risch ambi­tio­nierter Projekte verbes­sert.

Das Fernsehen bleibt bei allen Entschei­dungen außen vor, hat aber eine harte Ankaufs­ver­pflich­tung ex post.

Die Trans­pa­renz wird deutlich erweitert.

Jeder Zuschauer ist der Film­för­de­rung gleich viel wert, anstatt wie jetzt in der Refe­renz­för­de­rung Block­buster gegenüber Filmkunst zu befördern.
Auch jedes Film­fes­tival ist der Refe­renz­för­de­rung gleich viel wert, anstatt wie bis jetzt einigen wenigen altein­ge­ses­senen Festivals oder den großen von Vorges­tern (Hofer Filmtage!) grundlos einen Wett­be­werbs­vor­teil gegenüber den vielen enga­gierten neuen Playern zuzu­schus­tern.

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Man muss es lesen, man darf Anmer­kungen und Verbes­se­rungs­vor­schläge machen, uns kriti­sieren. Bitte billige Polemik nur, wenn sie launig formu­liert ist und Lust an echter Ausein­an­der­set­zung erkennen lässt. Von Beileids­be­kun­dungen bitten wir generell abzusehen.

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Ich teile bei Weitem nicht jeden Einzel­punkt des Papiers. Vor allem das Vertrauen in Jurys und andere Gremien fehlt mir, es ist schon zu oft und zu nach­haltig erschüt­tert worden. Wenn schon subjek­tive Entschei­dungen unum­gäng­lich sind, dann bitte nach dem Inten­dan­ten­prinzip, wie es in Dänemark oder beim Medi­en­board Berlin-Bran­den­burg (MBB) prak­ti­ziert wird. Dort sind Verant­wor­tungen klar zuzu­ordnen, und die Subjek­ti­vität der Entschei­dung, die es auch in Jurys gibt, wird durch totale Trans­pa­renz ausge­gli­chen. Man weiß immer, wer schuld hat.
Das Problem beim MBB – und die große Differenz zu Dänemark – ist nicht, dass eine allein entscheidet, sondern dass die Amts­zeiten nicht klar begrenzt sind. So erst entstehen in vielen Förder­insti­tu­tionen – übrigens auch bei der FFA – monar­chisch anmutende Struk­turen, despo­ti­sches Gebaren und eine Amtsdauer, die die Regie­rungs­jahre vieler abso­lu­tis­ti­scher Fürsten weit über­steigt.

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Aber die Richtung stimmt. Mit dem Konzept »Für einen Neuanfang im deutschen Film« ist eine erste Grundlage gelegt, auf der man aufbauen kann. Hinter diese Grundlage gibt es jetzt kein Zurück mehr, die weitere Diskus­sion wird versuchen, sie zu igno­rieren, aber sie wird sich auf sie beziehen müssen. Die Kultur­staats­mi­nis­terin, die sich derzeit im Minis­te­rium einge­graben hat, um dort mit ihren Refe­renten an dem lange hinaus­ge­zö­gerten, nun für die Berlinale angekün­digten film­po­li­ti­schen »Aufschlag« zu basteln, wird dessen Niveau und Klarheit erst einmal einholen müssen. Dass sie es nicht über­bieten wird, darauf sind wir bereit zu wetten.

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Nichts weniger als die Erneue­rung der Film­kultur steht jetzt auf der Agenda. Das sollte eine Kultur­staats­mi­nis­terin doch inter­es­sieren.

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Die Zukunft des deutschen Films muss visionär gedacht werden. Visionen bedeuten Entwürfe – Designs –, die mutig al fresco in die Debatte geworfen werden. Vorur­teils­frei müssen sie sein, und vorga­ben­frei. Tabus darf es nicht geben.

Gerade das Undenk­bare muss gedacht und disku­tiert werden dürfen. Zum Beispiel: Die Abschaf­fung des Kultur­fö­de­ra­lismus, die totale Trans­pa­renz aller Gremien, Quoten für europäi­sche Filme und für Filmkunst, Kunst­sub­ven­tionen statt Stand­ort­sub­ven­tion und rück­zahl­bare Darlehen, Förder­banken mit zinslosen Darlehen zur Zwischen­fi­nan­zie­rung, das Ende der Indienst­nahme von Kunst für poli­ti­sche und gesell­schaft­liche Zwecke, staat­liche Film­mu­seen und -biblio­theken in jeder Stadt, öffent­lich-recht­liche Kinos als Opern­häuser des 21. Jahr­hun­derts, Film und Medi­en­kunde als Pflicht­fach an den Schulen, die Gleich­stel­lung (ästhe­tisch wie politisch wie ökono­misch) von Kino und Film gegenüber anderen Künsten.
Aber das wäre mehr als nur radikal und entschieden. Es wäre eine Revo­lu­tion.

Offen­le­gung: Der Autor ist Mitglied im Beirat des VDFK, der das Papier hier mitge­zeichnet hat. Er arbeitet für manche, die er hier lobt, für alle anderen möchte er arbeiten.

(to be continued)