29.09.2022
Cinema Moralia – Folge 283

Paris-Rom, oder: Die Modi­fi­ka­tion

Kino Paris
Ach – die Pariser Kinos und ihre Programme...
(Foto: privat)

Nichts als Anekdoten: Filme gucken wie God(art) in Frankreich, der Cinephiliebooster oder ein ganz normaler Pariser Kinoabend... – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 283. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Zeit zerstört alles.«
- aus: »Irré­ver­sible« von Gaspar Noé

Frühere Gene­ra­tionen sahen etwas kommen. Wir sehen etwas verschwinden.

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Einmal im Leben wollte ich diese Zugfahrt gemacht haben: Paris-Rom genau so wie im Roman von Michel Butor, den ich vor bestimmt 30 Jahren, wahr­schein­lich länger her, gelesen habe, den ich seitdem nicht vergessen konnte. Man lebt ja sowieso gerne Roman­szenen und -konstel­la­tionen nach, sowie auch filmische Konstel­la­tionen.

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Da sitzt einer in einem ultra­mo­dernen Zug, und während der Zugfahrt verändert er sich und sein Leben. Genau gesagt: Er tut das eben gerade nicht. Denn als er losfährt, will er sich und sein Leben verändern, alles verändern, und als er ankommt, ist er sicher, dass er nichts verändern will. Die Fahrt, die Bewegung selbst ist das Eigent­liche. Der Zug funk­tio­niert wie das Kino. Es ist ein Zwischen­raum, ein nicht-mehr-hier und noch-nicht-dort, ein Ort, an dem man auf ganz andere Weise die Gedanken loslassen und schweifen lassen kann.

Aber das wusste ich damals noch nicht. Damals schien mir, dass es einfach die Literatur gewordene symbo­li­sche Verbin­dung zwischen zwei der schönsten Städte der Welt war und zwischen den zwei inter­es­san­testen Ländern Europas. Damals kannte ich Spanien noch nicht.

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In San Sebastián war meine Zugreise diese Woche losge­gangen; am Sonn­tag­morgen nach Ende des Film­fes­ti­vals San Sebastián von Hendaye mit dem TGV nach Paris. Wie gewohnt in Frank­reich ist alles gleich­zeitig kompli­zierter und einfacher; einfacher weil der Zug auf die Minute pünktlich fährt und ankommt, die Wagen angenehm sind und genug Platz da ist, die Schaffner freund­lich und überhaupt...; kompli­zierter weil sonntags keine Schalter aufhaben und man alles online machen muss, wie sowieso Frank­reich unsäglich digi­ta­li­siert ist. Und am besten bucht man ein paar Wochen im Voraus. Irgendwie hat es dann doch geklappt am gleichen Tag zu buchen, aber nur mit Hilfe einer netten älteren Dame am Infor­ma­ti­ons­schalter, der im Gegensatz zum Fahr­kar­ten­schalter offen hatte, und die sich nach vergeb­li­chem »geht nicht« hinter ihrem Fenster hervor­schleppte und mir sehr freund­lich – »kalm missjö« – dabei half, die nicht etwa durch ihre Sprache, sondern durch ihre Denkweise kompli­zierten Auto­ma­ten­schritte nach­zu­voll­ziehen.

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Am nächsten Tag in Paris dann ein paar Stunden inten­sivste Film­kultur à la Frank­reich und damit das Gegenteil aller deutschen: Schwer genug schon sich zu entscheiden zwischen dem Programm zwei der tollsten Programm­kinos im 6. Arron­dissment: Dem »Reflet Médicis«, das gerade eine Sirk-Retro­spek­tive zeigt, eine Schau zu Hong Sang-soo, den Film Tausend­schön­chen von Vera Chytilová, dazu natürlich die hier fast obli­ga­to­ri­sche Godard-Schau. Und vor allem A Vendredi Robinson von Mitra Farahani, den für manche schönsten Film der letzten Berlinale – eine Hommage auch aber nicht nur an Godard, der auch mit die letzten Bilder dieses Genies enthält.

Noch besser das Programm, noch schöner das Kino gleich nebenan, das legendäre »Le Champo«. Dort läuft neben einigen aktuellen und Einzel­ti­teln neben­ein­ander eine Pasolini-Reihe, eine James-Bond-Nacht, und eine Reihe zu den »Großen Regis­seuren Japans«.
Wir entschieden uns zuerst für Oshima (Nackte Jugend), dann für Ozu (Der Geschmack von grünem Tee über Reis). Vor dem Film gehen wir essen, kommen auf dem Weg an einem dritten Kino vorbei: Eine lange Schlange ringelt sich vor dem »Ciné-Club Des Ecoles«, das von oben bis unten mit Godard plaka­tiert ist, auch hier laufen zwei Dutzend seiner Filme, heute Le petit soldat. Ganz offen­sicht­lich standen all diese jungen Menschen für die Filme eines gerade verstor­benen 91-jährigen an. In Deutsch­land wäre das undenkbar. Unglaub­lich, diese Franzosen!

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Es war dann aber leider doch nicht Godard, sondern eine »Netflix Preview« von Blonde, die gezeigt wurde. Man soll die Franzosen also nicht blind verklären, aber diese drei Kino­pro­gramme allein, abzüglich Netflix, bleiben undenkbar.

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Es folgt noch ein Aperçu: Im Restau­rant schräg gegenüber an der Ecke wurden wir auf den Neben­tisch aufmerksam, wo Kartof­fel­brei überaus cremiger Konsis­tenz langsam aus 40cm Höhe aus dem Kupfer­topf direkt in den Teller gegossen wurde.
Der so bediente Gast war, jetzt sahen wir genauer hin, kein anderer als der Regisseur von »Blonde«: Andrew Dominik, den ich zwei Tage vorher noch auf der Bühne in San Sebastián gesehen hatte. Umringt von eifrigen Netflix-Anzug­trä­gern und viel­leicht noch ein paar Cine­club­bern und neben ihm der Musiker Warren Ellis, der seit 25 Jahren in Paris lebt.
Was den Abend dann aber richtig abrundete, war, dass Dominik nach dem Dessert noch Besuch bekam: Vom Regiepaar Gaspar Noé und Lucile Hadzi­ha­li­lovic.
Wenn so ein ganz normaler Pariser Kinoabend ist...

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Dass der Zustand der Film­kultur in Deutsch­land so vergleichs­weise desaströs ist, hat viel­leicht damit etwas zu tun: Wie viel Film im Film-Film gibt es? Wie viel Reflexion über das Filme­ma­chen? Wie viel Beschwörung auch des Zaubers, den Kino bedeutet? Des Glamours? Es hat alles etwas mitein­ander zu tun. Sowas kommt von sowas. Es ist nicht vonein­ander zu trennen. Wer das Medium nicht liebt, wer die Künstler nicht liebt, wer sie nur als Stell­ver­treter und Reprä­sen­tanten eigener Gelüste und Ansichten sieht, aber nicht für sich genommen, nicht in ihrem Eigenwert und ihrer sperrigen Wider­s­tän­dig­keit, der kann auch kein gutes Kino machen.

Welt vergessen; Welt spiegeln; Welt anders sehen. Darum geht es.

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Es ist mehr als suspekt, wenn vom Kino »Gesell­schaft­liche Verant­wor­tung« verlangt wird. Wie jede Kunst, sollte auch Kino nicht in Dienst genommen werden.
Wie jede Kunst ist das Kino dazu, da Gegen­rea­li­täten zu schaffen und zu vertei­digen – gegen den Main­stream. Gegen die als Schwarm­in­tel­li­genz maskierte Dummheit.

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Heute kommt aller­orten, nicht nur in der Kunst, auch in der Politik die verbrauchte Senti­men­ta­lität zurück und trium­phiert über die Rest­be­s­tände kühner Artistik.

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»Sparta ist ein heraus­ra­gender und reifer Film, der mit seinem heiklen Thema äußerst einfühlsam umgeht. Die Viennale ist überzeugt, dass Film­fes­ti­vals nicht zuletzt dazu da sind, Filme wie Sparta zu zeigen und zur Diskus­sion zu stellen.«
Aus der Pres­se­mit­tei­lung der Viennale, heute am 28. September 2022

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»Es war einmal eine Zeit, da hatten Götter in der Stadt gewohnt. Jetzt liegt Raffael im Pantheon begraben, ein Halbgott noch, ein Glücks­kind Apolls, doch wie traurig, was später sich ihm an Leich­namen gesellte, ein Kardinal verges­sener Verdienste, ein paar Könige, ihre mit Blindheit geschla­genen Generale, in der Karriere hoch­ge­diente Beamte, Gelehrte, die das Lexikon erreichten, Künstler akade­mi­scher Würden. Wen schert ihr Leben?«
- Wolfgang Koeppen, »Der Tod in Rom«

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Setbesuch in Tivoli bei Rom. Dass die Regis­seurin auf einen zukommt und einen gleich mit Hand­schlag begrüßt, ist mir in Deutsch­land selten passiert, dass es die Haupt­dar­stel­lerin genauso macht, noch weniger. Was einen sofort einnimmt, ist die Unmit­tel­bar­keit, die Direkt­heit, das Infor­melle gepaart mit großer Höflich­keit, das einem bei Italie­nern immer wieder begegnet. Ein mensch­li­ches Interesse auch Unbe­kannter für Unbe­kannte.
Später sitzen wir dann alle zusammen: Acht Italiener, Drehbuch, Regie, Kamera, Produk­tion, Darsteller, histo­ri­sche Berater. Alle reden durch­ein­ander, kame­rad­schaft­lich, soli­da­risch. Ein klas­si­sches Interview ist so unmöglich. Aber man lacht, trinkt, ist sofort Teil einer Familie. Wir reden nicht über die Wahlen, obwohl die Neofa­schisten gewonnen haben. Lampedusa werden wir jetzt nicht zitieren. Aber Italien bleibt Italien.

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In Rom ist mir Andrew Dominik bis jetzt noch nicht über den Weg gelaufen. Dafür habe ich mit Jasmine Trinca einen Wein getrunken. Das war besser.

(to be continued)