22.04.2021
Cinema Moralia – Folge 246

Das Kino in der kultu­rellen Kontakt-Krise

Arrival
Arrival: Kontakt mit dem Anderen. Könnte es auch ein Virus sein?
(Foto: Sony Pictures)

Kommt die Kino Super League? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 246. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»If any of us are to survive, to flourish, even to attempt to lead a good life, it will be a life lived with others – a live that is no life without those others. […] Whoever I am will be steadily sustained and trans­formed by my connec­tions with others, the forms of contact by which I am altered and sustained.«
Judith Butler, 2020

Die Krise des Kinos gab es schon lange vor Corona. Aber Corona droht zur Brech­stange zu werden, mit der man Hand ans Fundament des Kinos legen kann.

Im Fußball ist die europäi­sche Super-League, eine Veran­stal­tung der Reichen und noch Reicheren, vorerst geschei­tert. Im deutschen Kino aber droht sie, Realität zu werden.

Zudem sollten wir langsam zugeben: Nichts wird schnell besser werden. Wir sind noch mindes­tens ein Jahr in der Pandemie. Alles ist sehr zäh, auch im Sommer werden die Kinos nicht wirklich aufhaben.
Auf nichts kann man sich in der Krisen­si­tua­tion noch verlassen. Zudem legt die Krise die grund­sätz­li­chen Mängel des Systems offen. Denn dem Kino droht der Ausver­kauf. Kaum ein Stein kann auf dem anderen bleiben, kaum etwas ist in der jetzigen Form noch zeitgemäß.

Die Corona-Hilfen kommen nicht an. Die Auflagen machen Sorgen. Gerade beim Kino über­trumpft man sich von Behör­den­seite mit Studien, die noch eine weitere Auflage fordern und noch strenger werden wollen.

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Das Film­för­der­ge­setz ist rück­wärts­ge­wandt – da sind sich inzwi­schen alle einig. Aber was soll man ändern? Natürlich muss auch hier die Büro­kratie abgebaut werden – auch das ist eine Binsen­weis­heit geworden in jenen Corona-Zeiten, die die absurden Folgen und die grund­sätz­liche Lähmung aller Verhält­nisse bewiesen haben, den allge­meinen Mehltau der Lähmung und Verän­de­rungs­feind­lich­keit, der Risi­ko­scheu und Angst, die über unserem Land liegt.

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Umgekehrt zum Argument der »Flexi­bi­lität«. Diese Flexi­bi­lität, die jetzt gern einge­for­dert wird, ist zwei­schneidig. Flexi­bi­lität kann Freiheit meinen, Selbst­be­stim­mung und andere edle Dinge. Es kann aber auch die Chiffre werden für die Dere­gu­lie­rung, von der die Neoli­be­ralen träumen.

Es gibt keinen Grund, Angst vor den Streamern zu haben

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Genauso wenig Grund gibt es, in den Thesen, die Lars Henrik Gass zur Musea­li­sie­rung des Kinos entwi­ckelt hat, einen Angriff aufs nicht­mu­seale Kino zu sehen. Gass hat die Gründung eines, wie er es nennt, Film­mu­seums in 100 deutschen Städten skizziert – mit dem Geld, das eine einzige Elbphil­har­monie in Hamburg gekostet hat, könnte man diese 100 Gebäude errichten und noch das erste Jahres­pro­gramm ausstatten. In dem Moment, wo ich dies schreibe, werden ähnliche Geldberge – 900 Millionen für die Frank­furter Oper, eine ähnliche Summe für die Kölner Oper – mit links von Kultur-Behörden einer Großstadt gestemmt. Wohl­ge­merkt: Geld­be­träge, mit denen man nicht etwa nur die jewei­ligen Städte, sondern jeweils die ganze Republik mit Film­mu­seen zupflas­tern könnte. Wenn man nur wollte! Wenn man nur den gern in Sonn­tags­reden beschwo­renen Satz »Kultur für alle!« ernst nehmen würde.

Der Begriff Museum selbst ist für manche miss­ver­s­tänd­lich. Ich würde von Medi­en­haus sprechen, aber das sind Begriffs-Margi­na­lien.

Der zentrale Gedanke ist: Man nimmt etwas vom Markt, das sich am Markt schon lange nicht mehr bewährt. Man bekennt sich zur Idee eines Kultur­baus auch für das Kino, so wie es den Kulturbau namens Stadt­theater schon seit 250 Jahren gibt, den Kulturbau namens Oper seit über 100 Jahren. Kino kann sich am Markt nicht in jeder Hinsicht bewähren, es muss auch nicht überall wirt­schaft­lich ausge­wertet werden. Kino darf Kultur­zu­schüsse bekommen.

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Wenn über Film­för­de­rung gespro­chen wird, dann geht es auch aus den genannten Gründen vor allem um Rahmen­be­din­gungen, Soziales. Mehr und mehr geht es auch um Margi­nales, nämlich den Dreiklang Öko, Gender und Diver­sität.
Das mag alles wichtig sein. Auch wichtig. Aber es ist nicht so wichtig wie das Eigent­liche, die Essenz dessen, wovon wir reden, wenn wir vom Kino reden. Und nun Film: Kunst und Kultur.

Soziales ist wichtig, aber was da gesagt wird, trifft genauso für den Bäcker, den Metzger zu oder für VW.

Film­för­de­rung ist aber Kultur­för­de­rung. Das ist der Unter­schied zum Bäcker und zum Metzger. Es geht um Kultur, viel­leicht sogar um Kunst. Was heißt das? Was heißt Kultur­auf­trag?

Es heißt mehr, als die Gesell­schaft zu bebildern und abzu­bilden. Es heißt mehr, als Selbst­ver­pflich­tungen der Branche. Als Green­wa­shing und Brown­wa­shing und nach­hal­tiges Wirt­schaften und anderes Gedöns.

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Das Spezi­fi­sche der Film­po­litik ist, dass sie eine Kultur­po­litik ist. Zugleich wird Kultur immer als Gegensatz zu Wirt­schaft gesehen, nicht als der Wirt­schafts­faktor, der Kultur de facto ist.

Guter Kultur­för­de­rung darf es nicht darum gehen, poli­ti­sche Ideen oder bestimmte gewünschte mora­li­sche Haltungen abzu­bilden.

Vielfalt ist gut. Aber Diver­sität ist nicht nur »Gender« und »Hautfarbe« und »Herkunft«, sondern ebenso auch mora­li­sche Vielfalt, welt­an­schau­liche, poli­ti­sche Vielfalt, ästhe­ti­sche Diver­sität. Nicht Ober­flächen und Äußer­lich­keiten, nicht »Brown­wa­shing« des Cast.

In der Film­för­de­rung darf es vor allem nicht um inhalt­liche Normie­rung der Projekte gehen. Die Frage muss vielmehr sein: Wie können wir Kunst und Wider­s­tän­dig­keit stärken? Wie können wir Produk­ti­ons­pro­zesse beschleu­nigen? Wie können wir Förder-Prozesse auto­ma­ti­sieren? Also dafür sorgen, dass Produ­zenten nicht länger von Inten­dan­tinnen und Gremien abhängig sind. Denn Gremien heißt Personen. Es gibt in Gremien immer die Gefahr, dass es um Gunst­er­weise, um geschäft­liche Bezie­hungen, um Kompro­misse zwischen den einzelnen Gremi­en­mit­glie­dern geht.
Auto­ma­ti­sie­rung heißt dagegen: Der Antrag­steller weiß, wenn er die Kriterien erfüllt, dass er sichere Chancen auf Förderung hat, oder wenn er sie nicht oder nur ganz knapp erfüllt, dass seine Chancen schwinden. Wenn er keine Förderung bekommt, ist er selber schuld. Nicht ein Gremium oder eine Inten­dantin.
Auto­ma­ti­sie­rung heißt auch, dass persön­li­cher Geschmack und Geschmacks­fragen keine Rolle spielen. Denn Kunst ist weder Geschmacks­sache noch ist sie demo­kra­tisch.
Auto­ma­ti­sie­rung heißt Verläss­lich­keit, Sicher­heit, Klarheit der Prozesse. Auto­ma­ti­sie­rung bedeutet in der Regel auch Schnel­lig­keit. Auto­ma­ti­sie­rung der Förder-Prozesse bewirkt Büro­kra­tie­ver­mei­dung und -abbau.
Sie schafft Gerech­tig­keit.

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Am Donnerstag um 17 Uhr gibt es im »Forum« des SWR eine Diskus­sion zum Thema. Zusammen mit Christine Berg vom »Haupt­ver­band deutscher Film­theater« und mit Lars Henrik Gass, Chef der »Kurz­film­tage Ober­hausen« und Autor mehrerer Bücher über das Kino im Wandel durch die Heraus­for­de­rungen der Gegenwart, disku­tieren wir über die Zukunft des Kinos.

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»Nach dem Film« bzw. Tullio Richter-Hansen denkt über Kino und unsere kultu­relle Kontakt-Krise nach, und fragt »inwiefern jüngere Theorien und Kinofilme dazu beitragen können, die Corona-Pandemie als Krise des rela­tio­nalen Kontakts zu begreifen.« Es geht um exem­pla­ri­sche Spiel­filme wie Arrival, The Host, Okja und Us. Diese Auswahl lässt schon einige (die meisten?!) der Thesen ahnen. Der Kontakt ist nicht einer zwischen Menschen, sondern zwischen dem Menschen und »dem Anderen«. Darum wird hier das Andere gleich­zeitig gefürchtet und ersehnt. Nicht als Norma­lität hinge­nommen. Kontakt in der alten Norma­lität war aber nicht einer zwischen Menschen und Monstern, Menschen und Aliens, Menschen und Parasiten, Menschen und genetisch konstru­ierten Super-Tieren, sondern einer, der in gewissem Sinnn viel schwie­riger und zugleich viel einfacher ist: zwischen Menschen und Menschen.

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Zu guter Letzt noch die aktuelle Frage eines Freundes: »Welche Filme fallen euch ein, denen in den letzten Jahren Vorwürfe gemacht wurden, man könne sie nicht mehr zeigen. Man könne sie nicht mehr zeigen, weil sie alte Struk­turen bedienen, weil sie z.B. falsche Frau­en­bilder hätten. Ich suche nach Argu­men­ta­tionen, nach den Diskursen, nach der Logik von Wokeness und Identity Politics in Bezug auf Rezeption von Kultur.
Ich denke also darüber nach, ob Film eine bessere Welt zeigen (Woke-Films) oder Film uns provo­zieren, scho­ckieren und heraus­for­dern soll. Habt ihr Twitter-Threads, in denen sowas disku­tiert wurde?«

Mir fallen da natürlich ganz viele ein. Erstmal alles von Roman Polanski und von Woody Allen und alles, was von Harvey Weinstein produ­ziert wurde – weil diese Menschen als Personen bereits »non grata« sind, weil sie zum Teil tatsäch­lich, zum Teil nur angeblich etwas gemacht haben, das moralisch oder straf­recht­lich bewehrt ist, sollen die Sachen nicht mehr gezeigt werden.

Ich denke, es kann gar nicht anders sein, dass Filme uns nicht eine Welt zeigen, wie wir sie gerne hätten. Sondern Filme zeigen uns und sollen uns eine bessere Welt zeigen, indem sie uns provo­zieren scho­ckieren und heraus­for­dern. Denn dort, wo heraus­ge­for­dert und irritiert wird, beginnt überhaupt erst die bessere Welt. Nicht dort, wo normiert wird.

(to be continued)