05.03.2020
70. Berlinale 2020

Durch die Wand

Berlin Alexanderplat
Berlin Alexanderplatz: Mieze und Francis / Franz
(Foto: © Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany)

Berlinale-Rewind: Wer hätte das gedacht? Burhan Qurbanis Aktualisierung von »Berlin Alexanderplatz« ist ausgezeichnet und wird darum zum Favoriten vieler – Berlinale-Tagebuch, Folge 06

Von Rüdiger Suchsland

»Während man in den ästhe­ti­schen Teezir­keln Berlins über den herun­ter­ge­kom­menen Ritter die Nase rümpfte, fand ich, in einer kleinen Harzstadt, ein wunder­schönes Mädchen, welches von Fouqué mit entzü­ckender Begeis­te­rung sprach und errötend gestand, daß sie gern ein Jahr ihres Lebens dafür hingäbe, wenn sie nur einmal den Verfasser der ›Undine‹ küssen könnte. – Und dieses Mädchen hatte die schönsten Lippen, die ich jemals gesehen. Aber welch ein wunder­lieb­li­ches Gedicht ist die ›Undine‹! Dieses Gedicht ist selbst ein Kuß.«
Heinrich Heine: »Die Roman­ti­sche Schule«

20.02.2020 – Gleich zum Auftakt, kurz vor der Berlinale-Eröffnung hat Kultur­staats­mi­nis­terin Grütters den deutschen Film kriti­siert. Das ist natürlich nie falsch.
Man müsse selbst­kri­tisch sein, sagte die CDU-Poli­ti­kerin der Rhein-Neckar-Zeitung. Es sei noch nie so viel Geld für Film­för­de­rung ausge­geben worden wie heute. Dennoch gebe es zu wenige erfolg­reiche deutsche Filme.
Frau Grütters redet gern von Selbst­kritik. Sie meint nur nie sich selber damit.

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24.02.2020 – »Was ist das geringere Übel? ›Das Boot‹ oder ›Tatort‹?« fragt mich der zuletzt erfolg­reiche Regisseur. Natürlich »Tatort«, sage ich.

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26.02.2020 – »Da steht mein Franz und fragt sich: ›Was tun? Soll ich gehen, soll ich bleiben?‹ Als wenn ihn einer in'nen Teig geschmissen hätte und nu kriegt er das Zeug nicht los. Er möchte fort, aber es geht nicht. Franz, man hat dich rein­ge­legt.«

Das ist ein Ton im deutschen Film, wie man ihn seit vielen Jahren nicht gesehen hat: Episch, mit langem Atem und Geduld, ein Ton, der sich nicht heran­schmeisst an die Zuschauer, der auch nicht Angst hat vor ihnen, der sie nicht belehren will. Ein Ton der über sich hinaus­blickt, biblisch ist, mythisch, aber realis­tisch, und jeden­falls nie roman­tisch oder verkitscht.
Es ist expres­sio­nis­ti­sche Ton von Alfred Döblin und seinem Jahr­hun­der­t­roman »Berlin Alex­an­der­platz«. Aber es ist auch der Ton von Burhan Qurbani. Qurbani, nach seinem Debüt Shahada 2008 und einem weiteren Film nun zum zweiten Mal im Berlinale-Wett­be­werb, hat Döblins Vorlage in die Gegenwart verpflanzt, aktua­li­siert, auch verpoppt, ohne ihr aber etwas von ihrer archai­schen Kraft zu nehmen, ihrem Fremd­ar­tigen. Qurbani moder­ni­siert Döblin, aber er beraubt ihn nie seines epischen Atems, er behält die mythische Kompo­nente ebenso bei, wie die expres­sio­nis­ti­sche Sprache.

Besonders einfalls­reich und schlüssig ist dabei der Kniff, Mieze zur Erzäh­lerin zu machen, die große Liebe von Franz Biberkopf, die Hure des Babylon Berlin, die von sich selber sagt, sie sei nicht aus Zucker, sie sei aus Marmor.
Jella Haase ist in dieser doppelten Funktion der Gravi­ta­ti­ons­punkt des Films. Zusammen mit Albrecht Schuch als Reinhold, der Teufel und Gegen­spieler im Leben von Franz Biberkopf. Sein Reinhold ist ein Unhold, ein Verführer mit dem Charme des Irrsinns.

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Haupt­figur Franz heißt hier eigent­lich Francis, ein Afrikaner, der als Flücht­ling nach Berlin kam,. sich als »Sans-papiers« ohne Pass­do­ku­mente auf illegalen Baustellen verdingt, und dann von Reinhold für Drogen­deals und Schlim­meres ange­heuert wird, und in das Dunkel der Großstadt Berlin eintaucht. Aber innerlich ein guter Naivling, ein Lazarus. Gespielt vom Brasi­lianer Welvet Bungué.

Dies ist ein weiterer großer Kniff des Regis­seurs: Ein Afrikaner, ein Flücht­ling, ein Schwarzer ist Franz Biberkopf, nicht mehr ein prole­ta­ri­scher Arbeiter aus den 20er Jahren. So aktua­li­siert er seinen Stoff. So macht Quarbani aus »Berlin Alex­an­der­platz« eine Geschichte des Kampfes um Aner­ken­nung und Würde.
Er zeigt Menschen eines bunten Deutsch­land, die nicht länger gegen die Wand prallen, sondern durch sie hindurch­bre­chen.

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So wird die Geschichte von Franz zur Geschichte aus einem Neuen Deutsch­land, das so Multi-Kulti ist, wie das Berlin der zwanziger Jahre, in dem Döblins Roman spielt. Nur für die Rechts­extre­misten von heute ist das eine Freak-Show – was Qurbani ironisch aufgreift.

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Hervor­zu­heben sind Qurbanis Mitar­beiter: Ein junges Team um die »Sommer­haus«-Produ­zenten Jochen Laube und Fabian Maubach, das mit einem jungen Zugang belegt, wie frisch und unver­staubt Döblins Stoff ist: Etwa die Film­mu­si­kerin Dascha Dauen­hauer, der Kame­ra­mann Yoshi Heimrath. Und die Montage von Phillipp Thomas, die adäquat Döblins Monta­ge­technik auf die Leinwand überträgt. Eine tolle Schnitt­folge ist beispiels­weise die Szene, in der Francis und Mieze jeweils allein in ihrem Apartment umher­streifen – doch ihre Bewe­gungen so aufein­ander abge­stimmt sind, dass es ist, als wären sie zusammen im Zimmer.

So ist dies ein ganz ausge­zeich­neter Film und ein Favorit auf höchste Auszeich­nungen bei dieser Berlinale. Spätes­tens mit diesem Werk beweist Qurbani, das er einer der wich­tigsten Filme­ma­cher des aktuellen deutschen Gegen­wart­kinos ist.

Dieser Film hat einen epischen Atem. Und er erzählt vom Deutsch­land der Gegenwart. Wer hätte das gedacht?

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28.02.2020 – Viel­leicht war das sogar ein ganz typisches Berlinale Erlebnis: Zum ersten Mal war ich ins »Cubix« gefahren, das neue Berlinale-Kino, das diesmal mehr schlecht als recht das komplett geschlos­sene achtsä­lige »Cinestar«-Kino am Potsdamer Platz ersetzen musste. Dort im Cubix lief ein Film, den ich unbedingt sehen wollte: Speer Goes to Hollywood über den Naziar­chi­tekten und Rüstungs­mi­nister Hitlers.
Die sehr zuvor­kom­mende und hilfs­be­reite Pres­se­ab­tei­lung der Berlinale, bzw. das Protokoll-Büro hatte mir, nachdem alle Presse-Karten vergriffen waren, extra noch eine Karte besorgt. Ich war recht­zeitig da, aller­dings tatsäch­lich nicht zehn Minuten vorher, auch nicht fünf Minuten vorher, sondern drei Minuten. Mit mir sechs weitere Karten­in­haber. Wir standen in einer eigenen Reihe. Die Mitar­beiter des »Cubix«, wie sich auf Nachfrage heraus­stellte, allesamt Berlinale-Mitar­beiter, nicht Kino­mit­ar­beiter ließen uns warten und sagten, es dauere einen Moment, die »Saal-Chefin« sei gerade im Saal, und gucke nach, wie viele Karten bezie­hungs­weise Plätze noch frei seien. Nach fünf Minuten, also nun drei nach kam die »Saal-Chefin« tatsäch­lich und erklärte, es seien keine weiteren Plätze mehr frei. Protes­tieren half nichts, Wut und Ärger kumu­lierten und man hätte sich fast zu schlim­meren Taten und Worten hinreißen lassen, aber da war ja noch die Erziehung und andere zivi­li­sa­to­ri­sche Rest­be­s­tände davor.
Es wurden also mindes­tens sieben Karten­in­haber wegge­schickt, nur weil man berli­na­le­seits den Saal bereits vor Beginn des Scree­nings aufge­füllt hatte. Nun ist es natürlich voll­kommen richtig, einen Saal aufzu­füllen, aber viel­leicht besser nicht schon viele Minuten vor der Anfangs­zeit des Films. Und genauer als genau, also mit dem Gestus irgend­wel­cher Post­be­amter, die um Punkt 18 Uhr die Tür abschließen. In normale Kinos darf man übrigens jederzeit, wenn man eine Karte gekauft hat, später kommen. Das gehört zur tradi­tio­nellen Kino­kultur, aber zu glauben, das sei nicht längst vergessen, ist wohl zuviel verlangt,
Voll­kommen unan­ge­messen ist das auch ange­sichts der Stimmung eines Film­fes­ti­vals, wo man halt spontan und fix von Kino zu Kino hoppt.
Schließ­lich ist – apropos »Publi­kums­fes­tival« – noch zu bemerken, dass hier Menschen, die teilweise im Gegensatz zu mir sich ziemlich lange ange­stellt hatten, um überhaupt eine Karte zu kriegen und die diese auch mit 12 Euro über­durch­schnitt­lich teuer bezahlt hatten, enttäuscht wurden. Ich war aller­dings auch enttäuscht.

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Erst ein paar Tage später nach Berlinale-Schluss linderte sich das, als mir die Rechte­inhaber des Films dankens­wer­ter­weise eine Sich­tungs­mög­lich­keit verschafft haben. Merci!