02.03.2020
70. Berlinale 2020

Für eine Berlinale der Grau­sam­keit

Los conductos
Einer der Kannibalen aus »Encounters«: Camilo Restrepos »Los conductos«
(Foto: Berlinale | Camilo Restrepo)

Die Korrekturen: Verbesserung, Entspannung, Umbruch – genügen moderate Veränderungen der Berlinale? – Berlinale-Tagebuch, Folge 03

Von Rüdiger Suchsland

»Grau­sam­keiten muss eine Regierung gleich am Anfang hinter sich bringen.«
Niccolo Machia­velli

»I don›t know how the festival program­ming did it before, and frankly, I don‹t care.«
Carlo Chatrian

Die neue Berlinale sei fast die alte Berlinale, das habe ich irgendwo gelesen. So kann es wirken. Das ist aber auch genau das Problem der Berlinale-Macher: Dass man vor lauter Dingen, die gleich geblieben sind, die großen Verän­de­rungen im Unter­grund, die Rich­tungs­än­de­rungen nicht wahrnimmt, oder wahrhaben will. Und über der Haltung vermeint­li­cher Gelas­sen­heit, dem »wait and see«, kann man halt auch leicht mal einschlafen...
Wenn wir aber unter­stellen, dass die neue Berlinale-Leitung einen klaren Bruch zur Kosslick-Vergan­gen­heit ziehen will – und das kann man, wenn man ein paar Inter­views liest, oder mit ihnen selber spricht –, dann ist ihr aller­dings zu empfehlen, das auch zu tun, und zwar so, dass es selbst die stump­feren unter den Beob­ach­tern auch merken.

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Für das neube­ru­fene Berlinale-Leitungs­team Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek war das erste Jahr in der Nachfolge des Zampano-Direktors Dieter Kosslick kein leichtes: Der sowieso schon arg verspä­tete Amtszeit-Beginn im vergan­genen Juni wurde durch logis­ti­sche Miss­stände zusätz­lich belastet, die die Neuen nicht zu verant­worten hatten, nun aber ausbaden mussten: Fehlende oder defekte Kinos, ein einge­schränktes Zentrum an einem Potsdamer Platz der durch Bauar­beiten und zu drei Vierteln geschlos­sene Restau­rants mehr einer Mond­land­schaft ähnelt, als einem Ort, in der man im Namen von Marlene Dietrich und Billy Wilder das Kino feiern möchte.

Ange­sichts all dieser Vorbe­las­tungen ist Chatrian und Rissen­beek ein guter Start geglückt. Die Qualität der Filme war besser, auch wenn längst noch nicht das Niveau von Venedig oder gar Cannes erreicht ist, und es weiterhin insgesamt viel zu viele Filme gibt.
Aber zunächst einmal muss hier Schmutz­ar­beit erledigt und Beton gegossen werden, überhaupt ein Fundament gelegt, auf dem aufgebaut werden kann. Immerhin gelang es Chatrian und seinem Auswahl­team, nach Jahren wieder einige Top-Namen nach Berlin zu bringen: Einen Philippe Garrel, einen Rithy Panh, eine Kelly Reichardt hätte Kosslick schlicht und einfach nicht bekommen.

Egal was man über Carlo Chatrian zu Auswahl­kom­mis­sion sagen möchte: Zum aller­ersten Mal seit vielen Jahren gab es überhaupt eine ernst­hafte Auswahl. Zum ersten Mal gab es überhaupt so etwas wie kura­to­ri­sche Entschei­dungen und nicht die reine Willkür, den schlichten Prag­ma­tismus.

Worum es zumindest ging, und was die dies­jäh­rige Wett­be­werbs-Auswahl erreichte, das ist eine gewisse Spann­breite verschie­denster Ansätze des Kinos zu zeigen und das auf hohem Niveau. Egal wie der eigene Geschmack ausge­richtet ist: fast jeder Wett­be­werbs­gänger konnte in der dies­jäh­rigen Auswahl eine Handvoll oder sogar mehr Filme für seinen Geschmack finden.
Chatrian selbst spricht von einem Lern­pro­zess.

Hoffent­lich führt der bald zu einer stren­geren Einla­dungs­po­litik. Im Wett­be­werb sollten keine Filme laufen, die vorher in Sundance oder Telluride oder Toronto zu sehen waren. Das müsste ein Prinzip sein, eine conditio sine qua non.

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Es gab auch sonst viele Heraus­for­de­rungen für die 70 Berlinale, zu Jubiläums­feiern stand wenigen der Sinn. Schon vage warf der Corona-Virus seine Schatten voraus. Der angeb­liche Skandal um Äuße­rungen des Jury­prä­si­dent Jeremy Irons standen im Raum, hinzu kamen die ebenso eher angeb­li­chen Enthül­lungen über den früheren Festival-Chef Alfred Bauer, nach dem die Berlinale 33 Jahre lang einen ihrer Haupt­preise benannt hatte.

Das Fazit nach elf Tagen Festival ist nicht ganz eindeutig, die Tendenz aller­dings schon: Verbes­se­rung, Entspan­nung, Umbruch – das waren die wich­tigsten Schlüs­sel­worte, die ich immer wieder in Gesprächen hörte.

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Das ist alles auch bitter nötig. Denn man darf sich keine Illu­sionen machen: Die Berlinale, die unter den wich­tigsten Film­fes­ti­vals in Europa einst unbe­streitbar eines der großen Dreien war, neben Cannes und Venedig, hat nach 18 Jahren Dieter Kosslick einen großen Teil ihres Renommees verloren. Besten­falls steht die Berlinale nach Cannes und Venedig auf Platz drei, aber selbst dieser Platz ist gefährdet: Zum einen durch andere Festivals, die mindes­tens weitaus char­manter sind und mögli­cher­weise nicht weniger wichtig, wie San Sebastian und Locarno. Zum zweiten aber auch durch die neuen Player, die die gewis­ser­maßen die Hechte im Karp­fen­teich sind, sich aber um »A-Festival«-Kriterien nicht scheren, aber trotzdem dabei sind und wichtig – ob sie nun Sundance heißen oder Toronto oder Telluride oder gar Dubai und Doha.
Die Festi­valland­schaft ist zurzeit in Bewegung. Sie verwan­delt sich immer schneller und schon binnen fünf Jahren kann ein Festival absteigen oder eben aufsteigen. Man muss hier wachsam sein, man muss auch enge Kontakte zur Festi­val­branche haben und zu den Filme­ma­chern und den Welt­ver­trieben, man muss neue Entwick­lungen erkennen, aber die Spreu vom Weizen und die Mode vom Nach­hal­tigen trennen können. All das ging Dieter Kosslick ab.
18 Jahre lang regierte er die Berlinale; länger als jeder Bundes­kanzler die Bundes­re­pu­blik, länger als je ein US-Präsident die Verei­nigten Staaten. Trotzdem dauert es 17 Jahre, bis die Kritik, die unter­gründig immer simmerte, schon von den aller­ersten Kosslick-Jahren an, endlich die Öffent­lich­keit erreichte und über einzelne Stimmen der Presse – unter anderem in unserem Magazin – hinaus auch brei­ten­wirksam wurde, und in einem Protest­brief eska­lierte, den über 80 deutsche Filme­ma­cher an die formal und juris­tisch zustän­dige Kultur­staats­mi­nis­terin adres­sierten. Nun konnte sie nicht länger die Augen verschließen.

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In einem sehr infor­ma­tiven Artikel auf »Indiewire« ist diese Diagnose noch einmal zusam­men­fas­send aus US-ameri­ka­ni­scher Sicht nach­zu­lesen. Hier [https://www.indiewire.com/2020/02/berlinale-2020-analysis-carlo-chatrian-1202214435/] steht zunächst einmal unüber­sehbar, dass das Festival eine »bad repu­ta­tion« habe, also einen schlechten Ruf. Von »Jahren des Rück­schlags« ist die Rede. Es sind also nicht nur ein paar »deutsche Berlinale-Kritiker«, oder böse Blogger, die hier meckern – im Gegenteil ist es die provin­zi­elle West­ber­liner Presse, die die Berlinale, der sie in von Außen intrans­pa­renten Medi­en­part­ner­schaften verbunden ist, mit Jubel­perser-Gestus begleitet.

Die Berlinale ist auf den Hund gekommen, das ist überhaupt keine Frage. Sie ist in einem hunds­mi­se­ra­blen Zustand, und erst der Abgang des großen Zampanos machte sichtbar, dass seine krach­le­derne, gefallsüch­tige Persön­lich­keit und sein Gockel­ge­habe vor allem eine Ruinen­land­schaft verdeckt hatten.
Einige Festivals können sich mit einem durch­schnitt­li­chen Programm am Leben erhalten, weil die Leute sowieso kommen, anderen genügen hohe Ticket­ver­käufe. Für die Berlinale genügt das nicht, da mag man noch so oft von »Publi­kums­fes­tival« schwa­dro­nieren. Dieses Lieb­lings­wort der Kossklick-Zeit ist inzwi­schen zu einem geradezu ideo­lo­gi­schen Begriff geworden. Es dient vor allem dazu, zu verdecken was fehlt. Es dient dazu, sich mit dem Gestus eines Volks­tri­buns dem Publikum anzu­bie­dern, mitunter aber auch mit dem Gestus eines Gebraucht­wa­gen­händ­lers schlechte oder zumindest halb­sei­dene Ware noch irgendwie an den Mann zu bringen.

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Diese Haltung ist schwer in einem Jahr abzu­schaffen und ins Gegenteil zu verkehren. Womöglich ist das auch nicht gewollt, denn unzählige Tickets müssen verkauft werden, und entgegen den Jubel­mel­dungen sind in vielen Berlinale-Kinos Plätze frei.

343 Filme laufen 2020 bei der Berlinale. Zieht man die Kurzfilme ab, sind des immer noch 268. Rechnet man ohne Retro­spek­tive, »Classics« und »Hommage« bleiben immer noch 220, mehr als doppelt so viele wie in Cannes inklusive aller Klassiker und Kurzfilme.
Neben den 18 Wett­be­werbs­filmen (entgegen Gerüchten keines­wegs weniger als unter Kosslick) gibt es je nach Zählweise 12 bis 14 Sektionen: Berlinale Spezial; Berlinale Series; Encoun­ters; Berlinale Shorts; Panorama; Forum; Forum Expanded; Gene­ra­tion; Perspek­tive; Retro­spek­tive; Classics; Hommage

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Ein großes Problem ist das Verhältnis zur Presse – wenn es sich nicht gerade um besagte Berliner Lokal­pa­trioten handelt. Man braucht sie, aber man liebt sie nicht, und man tut insti­tu­tio­nell wenig für sie – im Gegenteil wird gern gegängelt, und wie in einer Bana­nen­re­pu­blik mit Zucker­brot und Peitsche agiert: Miss­lie­bige Bericht­erstat­tung führt zu kleinen Schikanen, oder auch mal – bei »unwich­tigen« Medien – zu Akkre­di­tie­rungs­entzug. Freund­liche Bericht­erstat­tung führt zu unauf­ge­for­derten Einla­dungen zu begehrten Vorfüh­rungen oder internen Empfängen.
Die Chefin der Pres­se­ab­tei­lung, schon seit Zeiten von Kosslick-Vorgänger de Hadeln bei der Berlinale, hat von Außen gesehen bei der Berlinale einen deutlich größeren Einfluss, als es bei anderen Festival üblich ist, wo eine solche Funktion eindeutig dienend ist. Davon ist bei der Berlinale wenig zu spüren. Nach innen führt der enorme Erfah­rungs­vor­sprung dazu, dass die neue Doppel­spitze geradezu als eine Drei­er­spitze erscheint – wenig sichtbar aber um so mächtiger thront die dritte Kraft im Hinter­grund.

Die ande­ren­orts üblichen Dienst­leis­tungen für Medi­en­ver­treter wurden bereits unter Kosslick auf ein Minimum reduziert. Es gibt keine Kataloge mehr, noch nicht einmal gegen Gebühr und auch nicht als umwelt­scho­nendes pdf – eine beispiel­lose Einschrän­kung, nicht nur, weil für viele Berlinale-Gänger, auch unter dem umwor­benen Publikum, der Katalog jahr­zehn­te­lang ein begehrtes Sammels­tück war.

Noch wichtiger: Es gibt kaum noch Pres­se­vor­füh­rungen. Nur Wett­be­werbs­filme und Shorts werden komplett gezeigt, auch die Encoun­ters nahezu komplett, jedoch parallel zum Wett­be­werb. Wie kann man eine neue Sektion einführen und sie dann derart unsichtbar machen? Von 36 Panorama-Filmen bekommen nur 13 eine Pres­se­vor­füh­rung, nur acht der 27 Gene­ra­tion-Filme, kein einziger Film aus der Retro­spek­tive – auch hier, ebenso in einem klareren Programm­flyer, sollte sich die Berlinale ein Beispiel an Cannes und den anderen europäi­schen A-Festivals nehmen.

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Noch eine Bemerkung zur neuen »Encoun­ters«-Reihe. Gerade deren Qualität und Erfolg hat einen großen Nachteil: Er kanni­ba­li­siert alle anderen Sektionen, sogar den Wett­be­werb. Denn wo, wenn nicht hier sollten die tatsäch­lich besten, mutigsten, visi­onärsten Filme laufen?

Nun aber machen sich zwei Wett­be­werbe Konkur­renz, und diese befruchtet nicht, sondern schadet. Trotzdem sollte man nicht vorschnell urteilen: Die Berlinale 2020 wird in Erin­ne­rung bleiben als ein Jahr des Übergangs, als Wande­rungen im Kosslick-Ruinen­feld. Die Hand­schrift der neuen Leiter wird man erst in ein bis zwei Jahren wirklich erkennen. Dann aller­dings muss sie auch sichtbar werden.

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Man wünscht sich daher in Zukunft den Mut zu echten, erkenn­baren Verän­de­rungen, dazu, es nicht allen recht machen zu wollen. Disrup­tion. Positive Irri­ta­tion. Revo­lu­tion statt Reform. Sonst wird alles halb­herzig bleiben.
Für eine Berlinale der Grau­sam­keit!

(to be continued)