22.02.2020
70. Berlinale 2020

Poverty Porn

kids run
Das Kind auf dem Arm
(Foto: © Falko Lachmund/Flare Film / Berlinal)

Kids Run von Barbara Ott, Perspektive Deutsches Kino

Von Sedat Aslan

Schon die ersten Minuten machen klar, dass man es hier mit einem klas­si­schen Exemplar des Subgenres zu tun hat, das in der englisch­spra­chigen Kritik polemisch unter dem Begriff »Poverty Porn« läuft: der Prot­ago­nist steht an der Wand; er ist notorisch pleite, hat drei Kinder von zwei Frauen, um die er sich nicht richtig kümmern kann; droht wegen Miet­ver­zugs aus seiner schimm­ligen Wohnung im Plat­tenbau zu fliegen; war früher mal hoff­nungs­voller Boxer, nun arbeitet er schwarz auf dem Bau.

Jannis Niewöhner spielt mit einer beein­dru­ckenden physi­schen Präsenz diesen gesell­schaft­li­chen Außen­seiter namens Andi in Kids Run, dem Debütfilm von Barbara Ott, die mit ihrem Abschluss­film Sunny 2013 von sich reden machte. Über die weitere Handlung lässt sich kaum inter­es­santes mehr vermelden: Andi hustlet sich durch sein Leben, das man getrost als verpfuscht bezeichnen kann, und versucht dabei Sonja (macht aus wenig sehr viel: Lena Tronina), seine Ex und die Mutter seines kleinsten Kindes, zurück­zu­ge­winnen. Dabei schreckt er nicht einmal vor einer Rückkehr in den Ring zurück: ein Unter­fangen, dass ihn, wie es fast schon einmal geschehen wäre, töten könnte.

Der Plot hält bis auf eine Lazarus-Szene keinerlei größere Über­ra­schungen bereit, sein Mecha­nismus ist kaum befrie­di­gend: sobald es nach Ärger riecht, gibt es dann auch gleich Ärger. Ein Beispiel: Andi bekommt irgend­wann im Film einen Job als Türsteher. Er lässt drei seiner Jungs in den Club ein und ruft ihnen, Unheil ahnend, hinterher, sie sollen keinen Ärger machen. Der Film braucht dann auch nicht mal eine Minute, bis die Jungs einem seiner Kollegen mit einer abge­bro­chenen Bier­fla­sche das Gesicht aufschlitzen. Alle vier hauen ab und landen ausge­rechnet bei Sonjas Arbeits­stelle, mit der Bitte, sie zu verste­cken, usw. – rinse, repeat. Was soll denn daran spannend oder ener­vie­rend sein?

Diese Vorher­seh­bar­keit und Monotonie wäre zu verschmerzen, wenn statt­dessen Figuren oder Atmo­sphäre über­ra­schend und/oder faszi­nie­rend genug wären, den Film zu tragen. Der Konjunktiv deutet an, dass dies nicht der Fall ist. Der Film verfolgt auf allen Ebenen eine plumpe Erzähl­stra­tegie. Insbe­son­dere die Kinder­fi­guren stehen stell­ver­tre­tend dafür, obwohl gut gecastet und geführt, werden sie rein funk­tional einge­setzt, als Reso­nanz­körper für emotio­nale Schwin­gungen gebraucht, die sich jedoch nicht einstellen mögen, bis hin ins fast schamlose Schluss­bild. Auch die Prot­ago­nisten bleiben in ihrer Zeichnung flach: Andi ist an Schlüs­sel­stellen des Films nichts weiter als ein Grobklotz, den der Zuschauer rational nicht verstehen kann, und Sonja para­phra­siert an mehreren Stellen über den gesamten Film allen Ernstes den Satz: »Ich möchte ein besseres Leben haben.« Das ist zu wenig. Vom Gehalt ist das nicht viel mehr als bei einem Kurzfilm.

Es gibt aber darüber hinaus etwas zu bemängeln: Dem Film fehlt, allen sicher­lich hehren Absichten zum Trotz, ein klar huma­nis­ti­sche Perspek­tive. Nur verein­zelt, und auch dann eben nur in Verbin­dung mit seinem Kleinkind, wird Andi zum Menschen. Wegen des Sozi­al­rea­lismus bieten sich Vergleiche etwa mit Ken Loach oder den Gebrüder Dardennes an. Wo gerade bei Loach immer die Fehler des Systems, das dahinter steckt, miter­zählt werden, wird diese Ebene in Kids Run nicht behandelt. Man ist ange­halten, die Haupt­figur selber für ihre Misere verant­wort­lich zu machen, denn sie hat scheinbar nichts gescheites gelernt, und ist darüber hinaus ein unbe­lehr­barer Sturkopf. Die Figuren müssen sich wie Stereo­type in einer sterilen Versuchs­an­ord­nung verhalten, atmen nicht, leben nicht. Es geht nur ums Ergebnis. Diese Haltung gegenüber den eigenen Figuren grenzt an Zynismus. Wie leicht hätte man ihnen ein Motiv des Träumens einräumen können, um dem zu begegnen. Folge­richtig bleibt ihnen am Ende, wie auch der Regis­seurin, nur die Flucht: und zwar die aus den künstlich ange­legten Daumen­schrauben der Geschichte.