05.09.2019
76. Filmfestspiele von Venedig 2019

In Zeiten der Hexenjagd

Ekstase
Vielfach verstümmelt: Gustav Machatýs Ekstase
(Foto: Slaviafilm (CS) Eureka Productions (US))

Mit dem Zeigen von Filmen und mäßigenden Bemerkungen kämpft Festivalchef Alberto Barbera gegen den grassierenden Hypermoralismus. Nutzen wird es wenig. Recht hat er trotzdem – Notizen aus Venedig, Folge 8

Von Rüdiger Suchsland

Vor einer Woche wurde das Film­fes­tival von Venedig eröffnet. Zwei Filme hat Festival-Direktor Alberto Barbera am ersten Tag gezeigt. Beide keines­wegs ohne Grund.
Der erste lief bereits einmal am Dienstag, dem 27.08., als Pre-Apertura: Extase von Gustav Machatý (1901-1963). Der hatte in Hollywood bei D.W. Griffith und Erich von Stroheim gelernt, bevor er in seine Geburts­stadt Prag zurück­kehrte. Extase entstand 1933 und lief im gleichen Jahr in Venedig bei der zweiten Ausgabe der Film­fest­spiele. Berühmt wurde er wegen der Nackt­szene von Hedy Lamarr, und wurde in der Folgezeit vielfach vers­tüm­melt, schließ­lich um alle Nackt­szenen bereinigt. Selbst diese Fassungen hatten mit der Zensur und der Katho­li­schen Kirche zu kämpfen.

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Der zweite Film war Irré­ver­sible – Straight Cut, oder, schöner auf Fran­zö­sisch: Inversion Intégrale. Darf man bei dem Wort »Straight« dessen Doppel­sinn eigent­lich mitdenken? Denken schon, formu­lieren nicht.

Jeden­falls ist dies die Neufas­sung des Skan­dal­films Irrever­sibel von Gaspar Noé. Den Film nochmal nach so vielen Jahren zu sehen, war ein Erlebnis.

»An Expe­ri­ment with Time« heißt das Buch, das Monica Bellucci in dem ersten Bild des Films, auf einer Wiese liegend, liest. Das Buch gibt es wirklich. Es stammt aus dem Jahr 1927 und entwi­ckelt, grob gesagt, die Theorie, dass man mit Träumen die Zukunft voraus­ahnen kann.
Noé hat ihn jetzt neu geschnitten und die einst rückwärts erzählte Handlung chro­no­lo­gisch geordnet.

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Gaspar Noé erklärt den Entschluss zur Alter­na­tiv­fas­sung folgen­der­maßen: »Why this film? Because the original was told backwards and many viewers, swamped by the anti­clock­wise structure of the editing, didn’t under­stand certain aspects of the story. Presented clockwise, ever­y­thing is clear and also darker. No dialogues have been cut, nor have any events in the story. Which is why this version is called Straight Cut. Until now, Irré­ver­sible was a deli­be­rate puzzle. Now it’s a diptych, like an old record whose B side is the less concep­tual mix of the track on side A, but this time with voices that are more audible, rendering the meanings of the words more fata­listic.
You will see. Time reveals all things.«

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Und weiter: »This new cut is another film. ... In this clockwise cut, a few passages without dialogues created lulls in the action and it is for reasons of rhythm alone, not any kind of censor­ship, that they have been removed, making this version five minutes shorter than the original, ... Putting the scenes in clockwise order makes it easier to identify with the charac­ters and under­stand the tale unfolding. The same story is no longer a tragedy, this time it is a drama that brings out the psycho­logy of the charac­ters and the mecha­nisms that lead some of them to a murderous barbarity ... While 'Irré­ver­sible' has sometimes been wrongly perceived as a „rape and revenge“ B movie, here the deadly outcome is all the more depres­sing. The film can be more easily seen as a fable on the contagion of barbarity and the command of the reptilian brain over the rational mind.«

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Die Wahl dieser beiden Filme zum Auftakt ist ein Statement. Ein kluges, klares poli­ti­sches Statement. Zweimal Filme, die mit Zensur, und weniger juris­ti­schem als mora­li­schem und puri­ta­ni­schem Reini­gungs­furor zu tun haben.
Es sind Filme, die genau das machen, was manche Menschen, leider besonders Linke und Liberale, als »Rape-Culture« und »Miss­brauch« und »Sexismus« diffa­mieren und unter Gene­ral­verbot stellen wollen.

Wenn das Festival dagegen jetzt auf diese geschickte, doch klare Art angeht, dann weil sich die Kampagnen zunehmend vom Objekt weg und zu den Veran­stal­tern hinwenden. Also gegen die Festivals. Es ist ein Akt der Selbst­ver­tei­di­gung des Festivals, der sich indirekt gegen die Anti-Polanski-Kampagne wendet, die im Vorfeld von Polanskis Wett­be­werbs­vor­füh­rung um Aufmerk­sam­keit gebuhlt hat.

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Man geht den Agenturen – inklusive dpa – in die Falle, die ihre Agen­tur­mel­dung verkaufen wollen, die sich für Filme nicht die Bohne inter­es­sieren und darum vermeint­liche Skandale, vermeint­liche poli­ti­sche Themen, die sich durch die Filme ziehen, als roten Faden nehmen und vermeint­liche Nach­läs­sig­keiten eines Festivals immer wieder durch ihre Meldungen blasen. So sugge­riert man außerdem den Lesern und Hörern, dass dieses Thema wichtig sei, dass dies – Miss­brauch, Verge­wal­ti­gung, Sexismus – überhaupt ein Thema sei, über das man (in Bezug auf Künstler) ernsthaft reden muss. Muss man aber nicht. Statt­dessen muss man über Kunst reden, muss über Schönheit reden, muss nur über Dinge reden, die sich der schnellen Verwert­bar­keit entziehen, nicht zuletzt der Verwert­bar­keit in den Medien. Man muss Wider­s­tän­dig­keit entdecken, aber im Ästhe­ti­schen.

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Polanski ist nicht in Venedig, aber er ist doch da. Was wollen die? Was soll Polanski unserer Ansicht nach jetzt eigent­lich tun, wenn er täte, was seine schnellen ober­fläch­li­chen Ankläger einfor­dern? Sich einer Justiz zu über­ant­worten, welche die gleichen Menschen, die Polanski jetzt verfolgen, eigent­lich von Grund auf verachten, und für rassis­tisch halten – zu Recht!
Es gibt wenig Irra­tio­na­leres und Dümmeres, als das Benehmen vieler Menschen im »Fall Polanski«. Überhaupt können wir auf diesem Film­fes­tival in Venedig die Rückkehr des Irra­tio­nalen beob­achten. Aber war es je weg?

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In Inter­views zieht Polanski direkte Paral­lelen zwischen der Affäre Dreyfus und der öffent­li­chen Hexenjagd gegen ihn und stellt die kühne Behaup­tung auf: »Ich bin wie Dreyfus«. Der inzwi­schen 86-Jährige Roman Polanski ist nicht in Venedig, aber er ist einer der großen Meister des Kinos des 20. Jahr­hun­derts.
Aber dies ist kein mora­li­sches Tribunal, sondern eine Mostra di Cinema, der Film muss sprechen, die Jury entscheiden und das Publikum, wenn es möchte, applau­dieren.

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Die Vorwürfe gegen Polanski meinen das Festival. Sie vermi­schen sich mit anderem: Mit #MeToo-Zeitgeist, mit dem Hang dazu, abzu­zählen, wie viele Filme »von Frauen« (gemeint ist: Von Regis­seu­rinnen) im Wett­be­werb laufen. Haupt­sache Frauen, egal wie schrottig.
Nach der Logik kann man auch Quoten beschließen für Filme der Schwarzen, der Schwulen etc.

Festival-Direktor Alberto Barbera hat darauf seine eigene Antwort. Im Interview mit Le Film Francais erklärte Barbera: »Das einzige Kriterium eines Festivals muss die Qualität eines Films sein und keine anderen Gründe. ... Ich verab­scheue die Idee der Quoten, ich finde sie belei­di­gend gegenüber den Frauen – das einzige Kriterium eines Festivals muss die Qualität eines Films sein und keine anderen Gründe.«

Zu Polanski erklärte Barbera: »Es existiert eine Hyper­sen­si­bi­lität über die Themen, die mit #MeToo zusam­men­hängen. Polanski ist einer der größten europäi­schen Regis­seure, die noch leben und aktiv sind, seine persön­li­chen Probleme mit der ameri­ka­ni­schen Justiz gehen mich nichts an. Man muss immer unter­scheiden zwischen dem Menschen und dem Künstler, die Geschichte der Kunst ist voll von Menschen, die von manchen als Krimi­nelle angesehen wurden, die aber zur gleichen Zeit Meis­ter­werke geschaffen haben, die man bis heute liebt. Das ist der Fall bei Roman Polanski. Jeder darf seine Meinung haben über das, was er gemacht hat; aber ich bin sicher, dass sein Kino bleiben wird. In einigen Jahren wird man vergessen haben, was Polanski gemacht hat, seine Filme, ja, werden immer da sein für die Gene­ra­tion der Zukunft und die zukünf­tige Gene­ra­tion, das ist das, was meiner Ansicht nach zählt.«

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Die andere Seite des Mora­lismus ist die Geschichte von Kristin Stewart, die sie diese Woche erzählte. Ihr wurde nahe­ge­legt, ihre Sexua­lität öffent­lich zu verschweigen, dann könne sie »einen Marvel-Film« bekommen.

Stewart lehnte ab: »I think I just wanted to enjoy my life. And that took prece­dence over protec­ting my life, because in protec­ting it, I was ruining it. Like what, you can’t go outside with who you're with? You can’t talk about it in an interview? I was informed by an old school mentality, which is – you want to preserve your career and your success and your produc­ti­vity, and there are people in the world who don’t like you, and they don’t like that you date girls, and they don’t like that you don’t identify as a quote unquote „lesbian“ but you also don’t identify as a quote unquote „hete­ro­se­xual“. And people like to know stuff, so what the fuck are you?«

(to be continued)