31.08.2019
76. Filmfestspiele von Venedig 2019

Ein Held unserer Zeit

J'Accuse!
Eine zeitgemäße Geschichte: Polanskis J'Accuse!

Roman Polanski modernisiert die Dreyfus-Affaire – Notizen aus Venedig, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

»I have long wanted to make a film about the Dreyfus Affair, treating it not as a costume drama but as a spy story. In this way one can show its absolute relevance to what is happening in today’s world – the age-old spectacle of the witch hunt on a minority group, security paranoia, secret military tribunals, out-of-control intel­li­gence agencies, govern­mental cover-ups and a rabid press.«
Roman Polanski, 2012

»Die Leute, die ich anklage, kenne ich nicht, ich habe sie nie gesehen, ich hege weder Groll noch Hass gegen sie. Sie sind für mich nur Erschei­nungen, Symptome der Krankheit der Gesell­schaft. Und die Handlung, die ich hier vollziehe, ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerech­tig­keit zu beschleu­nigen.
Ich habe nur eine Leiden­schaft, die des Lichtes, im Namen der Mensch­heit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein flam­mender Protest ist nur der Schrei meiner Seele.«

Emile Zola: »J'Accuse!«

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Die erwartete, von manchen – wie mir – erhoffte Provo­ka­tion unseres gras­sie­renden Puri­ta­nismus und Iden­ti­täts­fe­ti­schismus, der derzei­tigen mora­li­schen Hexenjagd in den west­li­chen Ländern, ist ausge­blieben. Natürlich ist Roman Polanskis J'accuse über die Dreyfus-Affäre, basierend auf Robert Harris' Roman »An Officer and Spy«, vor 125 Jahren, ein aktueller und sehr poli­ti­scher Film.
Aber er ist das nicht offen­kundig. Offen­kundig ist nur, dass er eine uner­zählte, aber über­fäl­lige Geschichte auf die Leinwand bringt.

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Diese Geschichte ist beschä­mend genug, wie sie ist. Polanski schildert nüchtern und klar die Fakten der Dreyfus-Affäre. Sein Film verzichtet auf alle billige Aktua­li­sie­rung, auf Sensa­tio­na­lismus, auf boshafte Witze, die sich auf die Gegenwart beziehen.
Seine Heran­ge­hens­weise ist im gewissen Sinn sehr klassisch. Der Film beginnt Anfang 1895 mit Alfred Dreyfus' öffent­li­cher Degra­die­rung und Demü­ti­gung. Danach geht es hin und her zwischen dem Ablauf der Jahre 1895-1906 und Rück­bli­cken in die Vorge­schichte, die im Herbst 1894 in die Vorwürfe gegen Dreyfus mündete. Das Volk jubelt: »Die Römer warfen die Christen den Löwen vor, wir geben Ihnen die Juden – das ist doch ein Fort­schritt.«
Polanskis Film ist ein bisschen eine Detek­tiv­ge­schichte, in der die Gewinnung von Indizien im Zentrum steht. Vor allem ist dies auch die Geschichte eines bisher unbe­kannten, geradezu geheimen Helden, des Colonel Marie-Georges Picard, von dem ich persön­lich bisher nicht wusste, der es aber immerhin später bis zum Minister gebracht hat.

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Dieser Film erinnert auch an den Kampf eines bestimmten Teils der poli­ti­schen Linken, einer poli­ti­schen Linken, die heute ganz vergessen ist: Einer poli­ti­schen Linken die wirklich mit Radi­ka­lität gegen den exis­tie­renden Staat stand, auch wenn er formal eine Demo­kratie war, und die wirklich Wider­stand geleistet hat gegen die Macht. So erinnert Polanski daran, was wirkliche Opfer im poli­ti­schen Kampf sind, was andere Leute riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesund­heit, ihre Ehre. Von solchen Posi­tionen und von Menschen wie Emile Zola oder Georges Clemen­ceau ist unsere Gegenwart weit entfernt.
In vieler Hinsicht atmet der Film trotz alledem, trotz seiner Kritik und trotz der Lässig­keit, mit der Polanski die poli­ti­schen und die gesell­schaft­li­chen Schwächen einer Massen­de­mo­kratie aufzeigt, eine gewisse Nostalgie. Nostalgie für diese Epoche mit ihren schönen Innen­räumen, den Büchern, einer Kommu­ni­ka­tion, die ganz auf Schrift und Papier basiert und voll­kommen ohne die modernen Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel auskommt. Es gibt kaum Telefon, alles ist schrift­lich, alles war in gewisser Weise orga­ni­siert, aber eben in Akten­schränken, in Akten-Behältern. In gewissem Sinn eine unschul­dige Zeit, ein analoges Zeitalter, von dem noch die Jugend Polanskis durch­tränkt war. Es ist auch eine Männer­welt. Die einzige für die Story relevante Frau wird von Polanskis Gattin gespielt, ansonsten sind Frauen tertiäres Beiwerk oder sie sind Huren. Dies ist auch »Die Welt von Gestern« wie Stefan Zweig sie nannte.

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Dies ist eine Welt unkon­trol­lierter Über­wa­chung: Der Tarnname für den Geheim­dienst heißt »Section Statis­tique«. Es gibt Verhaf­tungs­listen für den Kriegs­fall, Proskrip­ti­ons­listen, 2500 Namen stehen da drauf. Piquard initiiert neue Methoden in seinem Amt: Nicht nur Sauber­keit, sondern auch effektive Kontrolle der Über­wa­chung.
Später in einer Szene im Louvre, man steht vor Apoll, fragt ein Polizei-Detektiv, ob der aus Grie­chen­land ist? Die Antwort: Nein aus Rom. Daraufhin fragt er: Es ist also eine Fälschung? Daraufhin Picard: »Nein, eine Kopie, das ist nicht dasselbe.«
Polanski zeigt Bücher­ver­bren­nungen, Demons­tra­tionen gegen jüdische Geschäfte, anti­se­mi­ti­sche Ausschrei­tungen und Schmie­re­reien: Tod den Juden! Zugleich ist dies ein Film über die Lächer­lich­keit der Armeen und des Mili­täri­schen.

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Polanski bringt die Erin­ne­rung an eine verges­sene Zeit in die Gegenwart zurück. Darüber hinaus ist dies zwar kein sehr zeit­ge­mäßer Film, aber eine zeit­ge­mäße Geschichte: Über die Hexen­jagden der Gegenwart, von denen Polanski selbst ein Lied singen kann; über den Anti­se­mi­tismus unserer Zeit in Frank­reich wie Deutsch­land, über Über­wa­chungs­wahn­sinn, über Whist­le­b­lower.

(to be continued)