28.02.2019
Cinema Moralia – Folge 190

Wer hat uns bloß so ruiniert?

Leto
Projektionsfläche, auch für Manifeste
Foto: artechock

Lars Henrik Gass über die Inflation der Manifeste – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 190. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»In unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmög­liche das Mindeste, was man verlangen kann.«
James Baldwin

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Wir wollen ein guter oder zumindest ein besserer Mensch werden, und darum loben wir jetzt hier auch Kritiker und andere Kollegen ganz regel­mäßig. Verspro­chen!

Zum Beispiel Lars Henrik Gass, Film­wis­sen­schaftler, Leiter der Kurz­film­tage Ober­hausen, und einer der wenigen hier­zu­lande, der keine Angst vor Streit hat, und dem man nicht erklären muss, dass Polemik (altgrie­chisch für »Streit­kunst«) nicht nur eine große begriff­liche Würde hat, sondern ein sehr nütz­li­ches Instru­ment sein kann, um einer Sache zur Sicht­bar­keit zu verhelfen, und aufzu­klären, dem diffusen höflichen Herum­ge­rede zu entkommen, das unsere Diskurse prägt.

Im Film­dienst macht Gass sich jetzt in einem schön pole­mi­schen Text über die Inflation der Manifeste lustig, die im Augen­blick und bereits seit ein paar Jahren in der deutschen Filmszene auffällt.

Zugleich vertei­digt er den Sinn auch harter Angriffe – ausge­rechnet an einem Beispiel, das mittelbar das Abdanken eines anderen Festi­val­lei­ters wenn nicht bewirkte, so zumindest besie­gelte: Der Erklärung von über 80 Filme­ma­chern, zur Neube­set­zung der Berlinale-Leitung. Wurde sie, so Gass, auch in ihrer Forderung nach trans­pa­renten Verfahren, »ausge­sessen«, so war sie doch »eine in Deutsch­land beispiel­lose, das Ober­hau­sener Manifest zwar nicht an Bedeutung, aber an konsen­su­eller Leistung weit über­strah­lende, wenn auch film­po­li­tisch fragile Verei­ni­gung«. Mit dieser »kam etwas in Bewegung, das auch die stand­haf­teste poli­ti­sche Ignoranz bislang nicht mehr aus der Welt schaffen konnte«.

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Der folgende Mani­fest­boom drückt natürlich eine Hilf­lo­sig­keit aus, ein Schrei nach Gehört­wer­den­wollen. Aber Inflation bedeutet eben auch Entwer­tung. Natürlich wäre ein einziges Manifest mit echter Substanz, mit Lösungs- und Verfah­rens­vor­schlägen besser, als all die gutge­meinten Papiere, die zur Lage der Film­kritik, zur Lage der Film­ar­chive, zur Film­för­de­rung und zuletzt in Form der soge­nannten »Frank­furter Posi­tionen« zur Gesamt­si­tua­tion und Zukunft des deutschen Kinos veröf­fent­licht und auch auf »artechock« und von mir hier mit Sympathie und Aufmerk­sam­keit begleitet oder sogar verbreitet wurden.
Nur: Was hilfts? Bislang folgte das Ritual der öffent­li­chen Debatte meist dem Satz Karl Valentins: »Es ist alles gesagt; aber noch nicht von allen.«

Das zeigen gerade die »Frank­furter Posi­tionen«, die auf einem gut vorbe­rei­teten Symposium des »Lichter«-Filmfests entstanden, bei dem sowohl Gass wie ich selber mitge­ar­beitet und -disku­tiert haben. Die »Frank­furter Posi­tionen« litten vor allem darunter, dass ein Teil ihrer Verfasser – durchaus Menschen mit Rang und Namen – ihren Namen nicht öffent­lich sehen wollten, dass der Aufschlag also längst nicht so vehement und politisch war, wie er hätte sein können.
Trotzdem hatten sie Wirkung. Und sei es nur die, dass gleich mehrere Direk­toren oder Sekti­ons­leiter deutscher Film­fes­ti­vals sich bemüßigt fühlten, auch ihren Senf dazu zu geben oder »etwas zu den ›Frank­furter Posi­tionen‹ zu machen«. – Da hatte man offenbar einen Nerv gekitzelt und anderen Festivals die Schau gestohlen.
Denn natürlich waren die „Frank­furter Posi­tionen“ jenseits von allem anderen auch eine perfekte Selbst-Marketing-Aktion des »Lichter«-Filmfests. Egal, ob man das nun am Main beab­sich­tigt hatte – plötzlich sprach jeder von »Lichter«, wusste, was das Festival war, und noch auf der Berlinale balgten sich der krisen­ge­schüt­telte Regie­ver­band und »Pro Quote«, die überall dabei sein möchten, um eine Veran­stal­tung »zu Frankfurt«.

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Um das Kino zu retten, müssen wir uns vom Mora­lismus verab­schieden und wieder lernen zu streiten. Sie wie ich den Text von Lars Henrik Gass verstehe, klagt er über den Zustand einer Filmszene, der sowohl jede Streit­kultur und Wert­schät­zung für Ausein­an­der­set­zung fehlt, als auch jeder Sinn für Politik.

Gass schreibt: »Zum histo­ri­schen Stand der Kino­kultur müssen wir uns in Deutsch­land regel­mäßig von außen unter­richten lassen, etwa von Alexander Horwath, der daran erinnerte, dass Kino mehr ist als der Film­streifen, den eine gutge­meinte Initia­tive ›in Gefahr‹ sieht und durch die Digi­ta­li­sie­rung gerettet sehen will.
Aus konser­va­to­ri­scher Sicht ist das nach­voll­ziehbar, film­po­li­tisch aber längst auf der Main­stream-Agenda der Kultur­staats­mi­nis­terin, die daraus einen Master­plan zur Rettung der Nation machte. Es handelt sich hier nicht um die Rettung von Kine­ma­to­grafie und Film­ge­schichte (nicht-deutsche Produk­tionen in deutschen Film­ar­chiven sind per defi­ni­tionem ausge­schlossen), nicht um die Bewahrung der medialen Praxis ›Kino‹, sondern um die Ertüch­ti­gung deutscher Spiel­filme für eine erneute Kino­aus­wer­tung: ein Geschenk an die deutsche Film­wirt­schaft als Teil einer streng natio­nalen Vorstel­lung ›kultu­reller Identität‹, so der Wortlaut der Kultur­staats­mi­nis­terin.«

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Die deutsche Film­kritik und ihr Zustand haben an dieser Situation wesent­li­chen Anteil. Sie fordert nicht ein, sondern versucht sympa­thisch wie folgenlos all jene freund­lich zu begleiten, die »es nötig haben« und ihren Anteil an einer »Film­kultur« zu leisten, die man sich nicht ernsthaft wünschen kann, und die auch nur in Sonn­tags­reden der Funk­ti­onäre vorkommt.

Begriffe wie Kultur und Identität sind in diesem Zusam­men­hang geradezu regressiv.

Wenn der Begriff überhaupt Sinn macht, dann heißt Kultur Inno­va­tion und Avant­garde, es heißt Infra­ge­stel­lung, Irri­ta­tion, und die Haltung der Über­ra­schung, nicht Hege und Pflege des Beste­henden. Gute Film­kritik taucht an uner­war­teten Stellen auf und schließt uner­war­tete Allianzen.

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An einer Stelle möchte ich wider­spre­chen: »Untrüg­liche Kenn­zei­chen des regres­siven Zugs im Umgang mit dem Kino« schreibt Gass, »ist die Über­blen­dung der sozialen Frage durch Ästhetik, von Kritik durch Bewun­de­rung, von Denken durch Werte, von Qualität durch Natio­na­lismus, sowie die iden­ti­fi­ka­to­ri­sche und triba­lis­ti­sche Projek­tion auf das Kino, von dem man medi­en­ge­schicht­lich im Rückblick zumindest behaupten kann, dass es einen neuar­tigen Zugang zu gesell­schaft­li­cher Wirk­lich­keit geschaffen hat, der jetzt gerade aus dem Blick gerät.«
Dass in der Kritik die Bewun­de­rung und Liebe und Vertei­di­gung von allem und jedem, dass unaus­ge­spro­chene Kampf­gruppen und Allianzen die kritische Distanz längst verdrängt haben, die Neugier, das genaue Hinsehen, die Lust an der Dissidenz und am Streiten um der Sache – des Kinos! – willen, das ließ sich zuletzt während der Berlinale präzis beob­achten: Nament­lich in den allzu erwart­baren Partei­namen für manche Filme­ma­cher, im Bashen der anderen, im Welpen­schutz für die Jungen und in der Fixierung auf den Wett­be­werb.

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Beob­achten ließ sich da auch plumpe Poli­ti­sie­rung: Die Reduktion auf Themen­filme und Inhal­tismus der Kritik. Es ist hier nicht die soziale Frage, die durch Ästhetik über­blendet wird, sondern eine gleich­zei­tige Poli­ti­sie­rung aller Ästhetik und kunst­hand­werk­liche Orna­men­tie­rung poli­ti­scher Haltungen und Felder.

Nicht Ästhe­ti­sie­rung ist zutiefst (spieß-)bürger­lich, sondern die Angst vor ihr, und der Verdacht gegen sie, der auch ein Verdacht gegen Schönheit als solche ist und auf den Gemein­platz hinaus­läuft, dass eine Frau, je besser sie aussieht, um so dümmer und/oder charak­ter­loser sein muss.

Es gibt, das habe ich an dieser Stelle erst vor kurzem geschrieben, auch ästhe­ti­sche Diver­sität. Für sie fehlt in Deutsch­land aller Sinn. Es gibt in den deutschen Diskursen aber vor allem ein ästhe­ti­sches Defizit, eine Gering­s­chät­zung, der eine Über­schät­zung von Moral, Werten, Anstand und guten Sitten, entspricht, wie die Mora­li­sie­rung des Polti­schen.

Gegen solche Mora­li­sie­rung hätte eine Film­kritik, die ihren Namen verdient, zual­ler­erst zu kämpfen. Sie hätte darum das Ästhe­ti­sche und das Poli­ti­sche in seinem jewei­ligen Eigenwert zu vertei­digen. Anders als durch mehr Streit wird das nicht gehen.

(to be continued)