72. Filmfestspiele Cannes 2019
Faux-thenticity |
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Soghaft dargestellt: Kris (Amber Harvard) | ||
(Foto: Bert Marcus Film / Invisible Pictures) |
Von Sedat Aslan
Ein Lichtstrahl fällt auf das Haar der 14-jährigen Kris, als sie aus ihrem kleinen Häuschen in einer verlassen wirkenden Kolonie am Rande von Houston, Texas in den ungepflegten Garten schreitet. Eine tote Henne liegt im Gras, um die lauter Mücken kreisen. Der geflügelmeuchelnde Übeltäter ist eine streunende Dogge, derer sich Kris angenommen hat, und die Henne stammt aus dem kleinen Stall ihres Nachbarn Abe, der ein ehemaliger Profi-Bullenreiter ist. Dieser ist verständlicherweise nicht besonders erfreut darüber. Nach anfänglichem Missmut bahnt sich zwischen beiden jedoch eine ungewöhnliche Freundschaft an.
Die texanische Regisseurin Annie Silverstein hat bereits gute Erfahrungen in Cannes gesammelt: Mit ihrem Kurzfilm Skunk gewann sie 2014 den Preis der Cinéfondation, wodurch automatisch auch ihr erster Langfilm in der offiziellen Auswahl landet. Nun ist also ihr Debüt Bull in der Sektion »Un Certain Regard« zu sehen. Die Geschichte um ein schwer zähmbares Mädchen, das gerne Bullenreiterin wäre, und ihren kauzigen Mentor streift auf den ersten Blick mehr American-Indie-Konventionen, als sich aufzählen ließen, sowohl inhaltlich als auch formal. Kris' dysfunktionale Familie sei hierfür stellvertretend erwähnt: die Mutter sitzt im Gefängnis, der Vater ist nicht präsent, daher kümmert sich die zusehends überforderte Großmutter um Kris und die kleine Schwester. Abes Backstory klingt ebenso vertraut, im Zuge seiner Alkohol- und Medikamenten-Abhängigkeit hat er jeden Menschen um sich herum abgestoßen, er ist wie ein alter einsamer Bulle, der unbeirrt seinem Untergang entgegen zu traben scheint. Daraus formiert sich ein Sog, der beide Protagonisten aufeinander zu bewegt, weil sie einander zu benötigen scheinen, und dies macht neugierig darauf, was mit ihnen passieren wird.
Ein außergewöhnlicher Cast und die vielen kleinen und feinen Beobachtungen tragen ihren Teil dazu bei, dass sich all dies dann sehr gut anlässt. Mit zunehmender Laufzeit wird jedoch immer unklarer, was die Regisseurin eigentlich erzählen möchte, weil sie zu viele Felder streift – Slice-of-Life, Coming-of-Age, Aufsteiger-Märchen, Milieustudie, Familiendrama, Sportfilm. Es stellt sich zudem die Frage, wie sich die Wahl ihrer Stilmittel dazu verhält. Ein entscheidendes Stichwort hierfür ist »Faux-thenticity« – trotz aller Authentizität suggerierender Stilmittel, auf deren ganzer Klaviatur hier gespielt wird, hat man nie den Eindruck, auch nur annähernd einen Einblick in reale Schicksale zu erhalten, weil sie nicht kohärent eingesetzt und zu durchschaubar sind. Die technisch hervorragende Kamera von Shabier Kirchner ist hierfür zentral, sie zeichnet die bittere Realität viel schöner als sie ist, müht sich dabei aber daran ab, diesem mit pseudorealistischem Dauerwackeln entgegenzusteuern.
Die angesprochene Unentschlossenheit auf der Plotebene führt dazu, dass die Geschichte im letzten Drittel zusehends versandet, bevor auch nur einer der emotional wichtigen Handlungsstränge zu Genüge erzählt wurde. Es entsteht der Eindruck, dass die Regisseurin bei ihrem Erstling zwischen einem plotlastigen und stärker atmosphärischen Ansatz hin- und herpendelt, als wolle sie sich nicht ganz auf eine der beiden Welten einlassen, dabei aber aus den Augen verliert, was sie mit Bull eigentlich sagen will. Dennoch ist der Film über weite Strecken eine gute Bühne für ihr inszenatorisches Talent und gibt zur Hoffnung Anlass, dass schon im nächsten Werk eine genuine Stimme zu vernehmen ist.