18.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Faux-then­ti­city

»Bull« von annie Silverstein
Soghaft dargestellt: Kris (Amber Harvard)
(Foto: Bert Marcus Film / Invisible Pictures)

Das Debüt der Texanerin Annie Silverstein, Bull, ist atmosphärisch, am Ende dann jedoch um Realismus zu sehr bemüht

Von Sedat Aslan

Ein Licht­strahl fällt auf das Haar der 14-jährigen Kris, als sie aus ihrem kleinen Häuschen in einer verlassen wirkenden Kolonie am Rande von Houston, Texas in den unge­pflegten Garten schreitet. Eine tote Henne liegt im Gras, um die lauter Mücken kreisen. Der geflü­gel­meu­chelnde Übeltäter ist eine streu­nende Dogge, derer sich Kris ange­nommen hat, und die Henne stammt aus dem kleinen Stall ihres Nachbarn Abe, der ein ehema­liger Profi-Bullen­reiter ist. Dieser ist vers­tänd­li­cher­weise nicht besonders erfreut darüber. Nach anfäng­li­chem Missmut bahnt sich zwischen beiden jedoch eine unge­wöhn­liche Freund­schaft an.

Die texa­ni­sche Regis­seurin Annie Silver­stein hat bereits gute Erfah­rungen in Cannes gesammelt: Mit ihrem Kurzfilm Skunk gewann sie 2014 den Preis der Ciné­fon­da­tion, wodurch auto­ma­tisch auch ihr erster Langfilm in der offi­zi­ellen Auswahl landet. Nun ist also ihr Debüt Bull in der Sektion »Un Certain Regard« zu sehen. Die Geschichte um ein schwer zähmbares Mädchen, das gerne Bullen­rei­terin wäre, und ihren kauzigen Mentor streift auf den ersten Blick mehr American-Indie-Konven­tionen, als sich aufzählen ließen, sowohl inhalt­lich als auch formal. Kris' dysfunk­tio­nale Familie sei hierfür stell­ver­tre­tend erwähnt: die Mutter sitzt im Gefängnis, der Vater ist nicht präsent, daher kümmert sich die zusehends über­for­derte Groß­mutter um Kris und die kleine Schwester. Abes Backstory klingt ebenso vertraut, im Zuge seiner Alkohol- und Medi­ka­menten-Abhän­gig­keit hat er jeden Menschen um sich herum abge­stoßen, er ist wie ein alter einsamer Bulle, der unbeirrt seinem Untergang entgegen zu traben scheint. Daraus formiert sich ein Sog, der beide Prot­ago­nisten aufein­ander zu bewegt, weil sie einander zu benötigen scheinen, und dies macht neugierig darauf, was mit ihnen passieren wird.

Ein außer­ge­wöhn­li­cher Cast und die vielen kleinen und feinen Beob­ach­tungen tragen ihren Teil dazu bei, dass sich all dies dann sehr gut anlässt. Mit zuneh­mender Laufzeit wird jedoch immer unklarer, was die Regis­seurin eigent­lich erzählen möchte, weil sie zu viele Felder streift – Slice-of-Life, Coming-of-Age, Aufsteiger-Märchen, Milieu­studie, Fami­li­en­drama, Sportfilm. Es stellt sich zudem die Frage, wie sich die Wahl ihrer Stil­mittel dazu verhält. Ein entschei­dendes Stichwort hierfür ist »Faux-then­ti­city« – trotz aller Authen­ti­zität sugge­rie­render Stil­mittel, auf deren ganzer Klaviatur hier gespielt wird, hat man nie den Eindruck, auch nur annähernd einen Einblick in reale Schick­sale zu erhalten, weil sie nicht kohärent einge­setzt und zu durch­schaubar sind. Die technisch hervor­ra­gende Kamera von Shabier Kirchner ist hierfür zentral, sie zeichnet die bittere Realität viel schöner als sie ist, müht sich dabei aber daran ab, diesem mit pseu­do­rea­lis­ti­schem Dauer­wa­ckeln entge­gen­zu­steuern.

Die ange­spro­chene Unent­schlos­sen­heit auf der Plotebene führt dazu, dass die Geschichte im letzten Drittel zusehends versandet, bevor auch nur einer der emotional wichtigen Hand­lungs­stränge zu Genüge erzählt wurde. Es entsteht der Eindruck, dass die Regis­seurin bei ihrem Erstling zwischen einem plot­las­tigen und stärker atmo­sphäri­schen Ansatz hin- und herpen­delt, als wolle sie sich nicht ganz auf eine der beiden Welten einlassen, dabei aber aus den Augen verliert, was sie mit Bull eigent­lich sagen will. Dennoch ist der Film über weite Strecken eine gute Bühne für ihr insze­na­to­ri­sches Talent und gibt zur Hoffnung Anlass, dass schon im nächsten Werk eine genuine Stimme zu vernehmen ist.