17.02.2019
69. Berlinale 2019

Das Ende des Spek­ta­kels

Synonymes
Ach ja: Der Goldene Bär ging an Nadav Lapid für »Synonymes«...
(Foto: Grandfilm)

No more One-Man-Show: Der Israeli Nadav Lapid gewinnt die Déjà-vu-Berlinale, das Festival selbst braucht nichts weniger als eine Revolution – Berlinale-Tagebuch, Folge 11

Von Rüdiger Suchsland

»Laut genug spricht ohne Purpur, ohne Teppich schon – der Ruf: und, 'nicht im Glücke stolz zu seyn', war stets der Götter­gaben größte.«
Aischylos

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Die Kunst des Kinos ist die Kunst der Balance zwischen Vernunft und Gefühl. Es ist die Kunst, das Sentiment ebenso zu vermeiden, wie Akade­mismus.

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Die deutsche Regis­seurin Nora Fing­scheidt gewann am Samstag bei der Berlinale den »Alfred-Bauer-Preis«, benannt nach dem ersten Berlinale-Leiter – ja, es gab tatsäch­lich eine Berlinale vor Dieter Kosslick –, der nicht nur der Preis ist für einen Film »der neue Perspek­tiven eröffnet«, sondern auch mit 50.000 Euro dotiert – und damit viel wichtiger, als womöglich sogar der Goldene Bär.
Ihr Film System­sprenger, der den Wett­be­werb vor neun Tagen eröffnet hatte, ist ein Film, der nicht perfekt ist, der aber jene Energie besitzt, die das Kino so dringend nötig hat, um gegen den Angriff der Strea­ming­dienste auf die große Leinwand zu bestehen.

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Es war die Déjà-vu-Berlinale – das Programm wirkte vor allem wie ein Klas­sen­treffen aus 18 Jahren Kosslick-Berlinale.

Insgesamt bot der Wett­be­werb ein Potpourri der Misera­bi­lität und Ödnis: Schwer erzieh­bare Kinder, depres­sive Mütter, mordende Männer, dazu Miss­brauch, Mafia und ein bisschen Mongolei-Exotismus – und mitten drin in all dem Unglück ein paar gute Menschen.
Was hingegen völlig fehlte, jeden­falls im Wett­be­werb, das war Rasanz, war Humor, und neue inter­es­sante Bild­spra­chen. Irgendwie geht es vielen Filmen um etwas, aber oft sind die Filme­ma­cher nicht in der Lage eine Form dafür zu finden, die Zuschauer auch motiviert, sich auf die Filme einzu­lassen, sie überhaupt anzu­schauen.

Kino ist aber zuerst solche Form, und dann erst Inhalt.

Darum war der Regie­preis für Angela Schanelec und ihren überaus spröden Film Ich war zuhause, aber... sehr ange­messen: Ein Film, der auf Inhalt fast verzichtet, aber eine ganz eigen­wil­lige Form- und Bild­sprache hat, die in ihrer Sper­rig­keit eben haften bleibt – ein Film, der im Zuschauer weiter­lebt.

Manche glaubten, in ihrem Gesicht zu lesen, dass Schanelec offenbar mehr erwartet hatte, und eher Enttäu­schung über die Jury statt Freude über den Regie­preis domi­nierte. Ich bin mir da nicht so sicher und würde Scha­nelecs arg kühle Reaktion eher ihrem Tempe­ra­ment und einer gewissen Verun­si­che­rung zuschreiben.

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Die Filme­ma­cher der »Berliner Schule« zitieren und prak­ti­zieren gern jenen abge­dro­schenen Spruch von John Ford, Botschaften solle man mit der Post verschi­cken.
Analog dazu könnte man formu­lieren: Wer zusam­men­hang­lose Bilder zeigen will, sollte ein Foto­studio eröffnen.
Als Fotoroman funk­tio­niert »Ich war zuhause, aber...« wirklich gut: Die hyste­risch erzählte Geschichte einer hyste­ri­schen Frau hat melo­dra­ma­ti­sches Potential, das am Ende aber nie ausge­nutzt wird. Als Film funk­tio­niert er überaus selten. Der Regie­preis war perfekt für einen Film, der fort­wäh­rend »Ich Ich Ich« sagt.

Stilis­tisch liegen Ich war zuhause, aber... verquaste, altmo­di­sche und altba­ckene Konzepte zugrunde: Kino, das nur für Festivals gemacht ist und sich vor allem aus der Negation definiert.

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Nora Fing­scheidt ist die Zukunft des Kinos. Angela Schanelec ist dessen Vergan­gen­heit.

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Die Abschluss­feier vom Samstag bedeutet eine Zäsur: Denn sie machte auch deutlich: In den letzten 18 Jahren hat sich die Berlinale in einen großen Show-Betrieb verwan­delt.
Aller­dings ein Show­be­trieb mit wenigen echten Stars und nur einem Allein­un­ter­halter, dem Direktor. Bestimmt hat auch das Fernsehen mit seinen Zwang zur Perso­na­li­sie­rung und Verein­fa­chung und allge­meinen Tendenz zur Infan­ti­li­sie­rung dazu beigetragen, dass die Berlinale so ist, wie sie ist.

Dieses Modell ist aber ebenso an sein Ende gekommen, wie die Idee eines Film­fes­ti­vals, das immer größer wird, und das vermeint­lich demo­kra­tisch auf Masse statt Klasse setzt. 400 Filme können gar nicht alle erst­klassig sein, erst recht nicht, wenn man weiß, dass die besten und die wich­tigsten Filme des Jahres in der Regel in Cannes und Venedig laufen und das dort zudem nur je rund 100 Filme gezeigt werden. Während in Cannes und Venedig also Verknap­pung dazu führt, den einzelnen Film um so sicht­barer zu machen, herrscht in Berlin Film­in­fla­tion.
Ein einzelner Berlinale-Film ist nichts wert.

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Man konnte schon länger das Paradox fest­stellen, dass ein Direktor, der öffent­lich lieber über sein regel­mäßiges Fasten redet, als über Filme, gleich­zeitig das von ihm verant­wor­tete Festival immer weiter aufbläht und mästet – bis zu dem Punkt, an dem wie in den letzten Jahren die Einkäufer und die inter­na­tio­nale Presse wegbleiben.

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»Einen Film macht man nicht für sich allein.« erklärte die 90-jährige fran­zö­si­sche Regis­seurin Agnès Varda in Berlin zu ihrem Film. Das gilt erst recht für ein Film­fes­tival.
Aber hinter der von der Berlinale-Pres­se­ab­tei­lung verbrei­teten Formel vom »Mister Berlinale« steckt ja die abso­lu­tis­ti­sche Anmaßung, dass der einzelne Mann größer sei als die Insti­tu­tion.

Das Ganze ist größer als der Einzelne – das hat man in der selbst­be­sof­fenen Berlinale-Blase vergessen.

Wie ein Sonnen­könig à la Ludwig XIV. hat Kosslick mit jeder Geste, mit jedem Wort ausge­drückt: »Die Berlinale bin ich!«
Aber bald nach Ludwig XIV. kam wie wir wissen – die Revo­lu­tion. Genau das ist es, was die Berlinale jetzt braucht.

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Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek, das neue Führungsduo, sind keine Show­master. Und das – wie man in Berlin gern sagt – ist auch gut so.

Hinter ihren mitunter auch schon etwas ange­staubtem Äußeren ist die Berlinale nämlich eine Baustelle. Sie muss sich neu erfinden, und den neuen Leiter ist zuzu­trauen, dass sie das können.

Denn wie das Kino insgesamt, so ist auch die Film­fes­ti­valland­schaft im Wandel. Die Berlinale hat ganz viel unaus­ge­schöpftes Potential und Cannes und Venedig sind keines­wegs so unein­holbar, wie manche glauben.

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Es ist schon lächer­lich, wenn die Berliner Lokal­presse bereits jetzt panisch vermerkt, die Berlinale würde ja im kommenden Jahr nach der Oscar-Verlei­hung statt­finden, und müsse womöglich auf den Dezember vorver­legt werden »damit die ameri­ka­ni­schen Stars weiter kommen«. Welche Stars denn, liebe Kollegen?
Welche ameri­ka­ni­schen Stars waren denn in diesem Jahr auf der Berlinale zu Gast?

Damit die Stars kommen, muss man sich nicht nach den Oscar richten, sondern ein Festival machen, das derart attraktiv ist, dass die Stars kommen wollen. So wie sie nach Cannes und Venedig kommen, und auch nach San Sebastian und Locarno.
Und da man die Spree nie mit dem Mittel­meer verwech­seln wird, muss man mit anderen Attrak­tionen punkten: Zum Beispiel der Weltstadt Berlin, um die immer noch ein globaler Hype wabert, und die gleich­zeitig ein Ort der Kunst- und Thea­ter­szene ist, eine attrak­tive Hips­ter­me­tro­pole und ein Ort der Boheme und ihrer alter­na­tiven Lebens­ent­würfe.
Im Übrigen sind »die ameri­ka­ni­schen Stars«, wenn sie denn so wichtig sind in den 80er und 90er Jahren sehr wohl im kalten unat­trak­tiven Februar nach Berlin gekommen.

Beispiele gefällig?

»Das waren andere Zeiten« wird dann gerne erwidert. Glaube ich nicht. Ich glaube, es war ein anderes Programm und eine bessere Berlinale. Aber selbst wenn auch das Argument zutreffen sollte: Muss man es sich deshalb im satu­rierten Fata­lismus bequem machen?
Dann muss man eben dafür sorgen, dass es wieder andere Zeiten werden, und viel­leicht bei der Berlinale damit anfangen.

Ein anderes Programm und eine bessere Berlinale sind also möglich. Dafür braucht man in Berlin aller­dings etwas mehr Opti­mismus, und weniger Fata­lismus, etwas mehr geistige Beweg­lich­keit und weniger Bequem­lich­keit.

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Einer Zufalls­be­geg­nung mit dem char­manten Ferdinand von Schirach verdanke ich die Infor­ma­tion, dass der erste Rote Teppich bei Aischylos vorkommt. In den »Atriden« lässt Klytaim­nestra ihrem Gatten Agamemnon, bei seiner Rückkehr aus Troja, einen roten Teppich ausbreiten, damit seine Füße den Boden nicht berühren. Aus damaliger Sicht war die Farbe Rot den Göttern vorbe­halten und so weigerte sich Agamemnon zunächst, auf ihm zu gehen. Als sie ihn dann doch dazu überreden konnten, zog er zumindest seine Schuhe aus, um die Götter nicht noch mehr zu erzürnen. Aller­dings – so erzählt es die Tragödie um Agamemnon, führte ihn der rote Teppich direkt zur Tür des Hauses, in dem er wenig später einen blutigen Tod sterben sollte. Damit ist noch ein weiteres Bild mit dem roten Teppich verknüpft, nämlich das des Opfer-Lammes, auf dem Weg zur Schlacht­bank. So haben sich bestimmt auch einige der Film­stern­chen und Filme­ma­cher gefühlt, wenn sie auf der Berlinale – auch noch bergab – in Richtung Premiere liefen.

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Beijing Bicycle hieß 2001 ein Berlinale-Wett­be­werbs­film aus China. Es war Dieter Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln, der den Film einge­laden und so den Filme­ma­cher entdeckt hatte: Wang Xiaoshuai.
Wangs neuer Film Farewell my Son gewann zwei Preise. Er beginnt mit der Geschichte zweier Familien. Die zwei Söhne sind gleichalt, sogar am selben Tag geboren. Einer stirbt dann, und so beginnt ein Gesell­schafts­drama über das moderne China, ein Film über Ein-Kind-Politik.
Das Leben der Menschen lässt sich nicht trennen von der Politik um sie herum – hier ergibt es wirklich Sinn, von der Verbin­dung des Privaten mit dem Poli­ti­schen zu reden.
Und plötzlich gab es ein einziges Mal im Wett­be­werb der letzten Woche allge­meine Begeis­te­rung. Plötzlich sprang der Funke über...

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Ach ja: Der Goldene Bär ging an Nadav Lapid für Synonymes. Die Geschichte eines jungen Mannes, der sein Land Israel verlässt, um in Frank­reich zu leben, der dort die Sprache und Kultur lernt, Inte­gra­ti­ons­kurse besucht, und fast eine Art »Über­fran­zose« wird, ist eine Art umge­drehter Heimat­film. Er erzählt von dem, was im 21. Jahr­hun­dert fast schon Normal­zu­stand ist; Von einer Enthei­ma­tung, den Schwie­rig­keiten an einem neuen Land, einer neuen Kultur je anzu­kommen und dem Zustand der Zwischen-Existenz zwischen mehreren Kulturen.
Nadav Lapid wurde nicht von der Berlinale entdeckt. Erste Lorbeeren erntete er 2011 auf dem Festival von Locarno mit dem Film – kuratiert unter Carlo Chatrians Vorg änger Oliver Père.

(to be continued)