75. Filmfestspiele von Venedig 2018
»Fuck class struggle!«; »Fuck the police!«; »Justice now!« |
![]() |
|
Portrait des Erwachsenwerdens in Zeiten der Revolution: Deslembro von Flavia Castro | ||
(Foto: Flauk Filmes) |
»Lasst mich bloß in Frieden mit eurer grässlichen Realität! Was heißt das schon, die Realität? Die einen sehen schwarz, die anderen blau, die Mehrheit sieht ohne Verstand. … Das Bemühen um Wirklichkeitstreue zeigt, wie tief wir heute gesunken sind; und wenn wir so weitermachen, wird die Kunst zu irgendeinem Schmarren … Besser Überschwang als Geschmack, besser eine Wüste als ein Trottoir, und lieber ein Wilder als ein Frisör!«
Frédéric in: Gustave Flaubert: »L’Éducation sentimentale«
+ + +
Der bereits erwähnte neue Festival-Trailer ödet zunehmend an. Die Bilder sind nicht nur als Verweise falsch, ihre Flächigkeit ist auch einfach hässlich und erinnert an die Ästhetik eines Computerprogramms, nicht an Kino. Und die Musik erinnert an die von »Downtown Abbey«. Hm…
+ + +
»Fuck the police!«; »Justice now!« – in dem italienischen Dokumentarfilm What You Gonna Do When the World’s on Fire? von Roberto Minervini werden Schwarze in den US-amerikanischen Südstaaten portraitiert. Ein sehr schön in prachtvoll sattem Schwarzweiß photographierter Film. Er zeigt die entrechtete Lage der Schwarzen der USA. Aber er lässt mich seltsam kalt, ich
habe das Gefühl, das alles schon tausendmal gesehen zu haben, zu kennen und hier keinen Überraschungen oder neuen Aspekten zu begegnen. Vielleicht war ich auch nicht in der richtigen geistigen Verfassung, nachdem ich davor die ersten beiden Folgen der Elena-Ferrante-Serie »L’amica geniale« gesehen hatte.
Aber wenn ich im Film die örtlichen Black Panther sehe, wie sie am Straßenrand stehen und »Black power! Black power!« rufen, habe ich gemischte Gefühle. Spontan möchte ich
mitrufen. Aber geht das überhaupt? Kann ein Weißer für Black Power sein? Darf er mitmachen?
Dann fällt mir ein, dass Spike Lee in seinem neuen Film, ohne beides gleichzusetzen, gezeigt hat, dass »Black Power« genauso blöde ist wie »White Power!«
Was denke ich wirklich darüber?
Ich weiß es nicht, bin mit dem Film noch nicht fertig, aber mich stört etwas an Minervinis Film. Und das ist nicht nur die Tatsache, dass mir alles unerhört gestellt und gestaltet vorkommt, unecht. Wie haben
der – weiße, italienische – Regisseur und sein Team in der Community gedreht?
+ + +
Die späten 70er Jahre stehen im Zentrum eines weiteren, hervorragenden Films, der in der »Orizzonti«-Reihe läuft: Deslembro (übersetzt noch mehr »Ent-innerung« als Vergessen – und hier nach einem Gedicht von Fernando Pessoa zitiert) heißt das Debüt der Brasilianerin Flavia Castro. Coming of age in times of the revolution. Castros autobiografisch gefärbter Film erzählt von Joana, einer Tochter politischer Emigranten. Sie wächst in Paris auf. Aber als
sie vierzehn ist, kehrt die Familie nach Brasilien zurück – da setzt der Film ein. Die Kinder – Joana, genannt Jo, hat zwei Brüder – fühlen sich fremd und vermissen Europa. Das stellt die Regisseurin geschickt dar, indem sich hier drei Sprachen vermischen und überlagern: Die Kinder sprechen miteinander Französisch, mit der Mutter ein Gemisch aus Portugiesisch und Französisch, mit dem Vater außerdem noch Spanisch – er stammt aus Chile. Das ist alles überaus
natürlich und selbstverständlich beiläufig präsentiert, genau wie die Zeit um 1982, die nur durch den Walkman und das Aussehen der Kleidung markiert wird.
Mit der Zeit erst versteht man als Zuschauer die tatsächlichen Verhältnisse: Jo ist die Tochter der Mutter, ihr biologischer Vater ist tot, Paco ist der Sohn des Vaters, hat aber eine andere Mutter, die in Chile blieb. Leon, von den Eltern gern »mein kleiner Trotzki« genannt, ist das Kind von beiden.
Auch erst im Rückblick
fiel mir auf, dass die drei zentralen Bücher, die im Film zitiert werden – Flauberts »Éducation sentimentale«, Pessoas Gedichte und Cortázars »Rayuela« – ebenfalls je einer der Sprachen des Films entsprechen.
+ + +
In Rio angekommen, vergräbt sich Jo zunächst in ihre Bücher. Ein gemeinsamer Sonntagsausflug in den Dschungel führt hier wieder sehr geschickt und beiläufig das eigentliche zentrale Thema des Films ein. Als sie sich wegen eines Platzregens unter einem Felsen unterstellen, fragt Jo die Mutter: »Waren wir schonmal hier?«
Im Folgenden mischen sich die Nachrichten endloser »wichtiger« Meetings mit Sandinisten oder den Untergrundkämpfern der chilenischen MIR mit Gartenpartys
der Revolutionäre. Während man am Pool Whiskey trinkt und aus dem Off die Internationale als Kinderlied zu hören ist, sehen wir Jo, die sich von den übrigen absondert und an eine Mauer gelehnt lieber Flauberts »Éducation sentimentale« liest. Und zwar diese Stelle: »Es war wie eine Erscheinung: Sie saß mitten auf einer Bank, ganz allein; oder wenigstens konnte er, von dem Anblick geblendet, niemand weiter unterscheiden. In dem Augenblick, als er vorüberging, hob sie den Kopf;
unwillkürlich verbeugte er sich; und nachdem er sich in einiger Entfernung an derselben Seite niedergelassen hatte, betrachtete er sie.«
Auftritt Ernesto. Der Sohn anderer Militanter surft, singt und flirtet lieber und betont schnell, dass er nicht nach Ernesto »Ché« Guevara benannt sei. Er wird zu Jos Love-Interest und bleibt eine hübsche Nebenfigur
Auf der gleichen Party kommt noch ein ehemaliger Kamerad des Vaters zu Jo, erzählt ihr vom Vater und enthüllt en passant, dass
dieser nicht im Gefängnis starb – wie die Mutter immer behauptet hatte.
+ + +
Im Folgenden nähert sich Jo vor allem ihrer neuen Großmutter an, der Mutter des toten Vaters, die sie bis dahin nie gesehen hat. Die Großmutter erzählt viel, raucht, mag Pink Floyd. Zögernd forscht Jo dem Schicksal ihres leiblichen Vaters nach, der von der Diktatur gefangen und gefoltert wurde. Aber was geschah dann?
Immer wieder tauchen Erinnerungsbilder vor ihrem inneren Auge auf, werden vom Film dann visualisiert. Echte Erinnerungen vermischen sich mit Vagem und
Phantasiertem. Kann Jo den Erinnerungen trauen? Ihrem kleinen Bruder sagt Jo zwar einmal: »Leon, when we grow up, we forget things«, macht sich diesen Satz aber selber nicht zu eigen.
Was allmählich herauskommt: Joana hat Schuldgefühle, denn sie bildet sich ein, am Verschwinden ihres Vaters mit schuld zu sein. Deslembro ist autobiographisch, vorher hat die Regisseurin (Jahrgang 1965) eine Doku über ihren Vater gemacht, der ein Militanter war. Deslembro macht das historische und politische Reale auf originelle Art zu seinem Gegenstand und mischt dabei einen dokumentarischen Realismus mit exzellenter Inszenierung der Kinderdarsteller und künstlerischer Ambition. Castros hervorragender Film über die Frage, wie Erinnerung funktioniert, ist klug wie sinnlich, eine Meditation über das Wesen des Erinnerns. Und ein Portrait des Erwachsenwerdens in Zeiten der Revolution.
+ + +
Dazu gehören auch die moralischen Vorhaltungen der Kinder, die man nicht teilen muss, um sie zu verstehen. Die Kinder sind fed up mit der Revolution, sagen den Eltern »Fuck the revolution«, »Fuck class struggle!«
Aber auch Jos Mutter will nicht wirklich akzeptieren, als der Stiefvater verkündet, dass er in den Untergrund in sein Heimatland Chile (noch unter dem faschistischen Diktator Augusto Pinochet) gehen will: »Du wirst sterben«, sagt sie ihm. »Es gibt keine andere
Option«, antwortet er. Sie: »Es gibt immer eine andere Option.«
+ + +
Wer diesen Film sieht, und in etwa im Alter der Regisseurin/der Hauptfigur ist, dürfte sich zwangsläufig fragen: »Was würde meine Mutter sagen? Anstelle der Mutter und mehr noch der Großmutter-Figur. Und was würde sie tun? In der Zeit des deutschen Herbstes zumindest gab es ja in Westdeutschland auch Eltern, die sinngemäß sagten: ›Wenn mein Kind so etwas tun würde (wie die RAF), dann hätte ich keine Tochter mehr.‹
Es sind die Mütterfiguren, die in diesen vielen
Filmen über Frauen, mit mehreren weiblichen Hauptfiguren, vor allem in Frage gestellt werden.«
+ + +
Eine interessante Programmierung, die beiden Highlights der ersten vier Tage – Roma von Alfonso Cuarón und Yorgos Lanthimos The Favourite – direkt hinter den Reinfällen des ersten Tages zu programmieren, allerdings nicht so smart, wie Marco Müller es gemacht hätte, dessen Programmierung zwar thematische oder stilistische Brücken schlug und ein kreatives Durcheinander schuf, in dem die Filme sich gegenseitig befruchteten.
(to be continued)