03.09.2018
75. Filmfestspiele von Venedig 2018

»Fuck class struggle!«; »Fuck the police!«; »Justice now!«

Deslembro von Flavia Castro
Portrait des Erwachsenwerdens in Zeiten der Revolution: Deslembro von Flavia Castro
(Foto: Flauk Filmes)

Kann ein Weißer für Black Power sein? Coming of Age in Zeiten der Revolution – Notizen aus Venedig, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Lasst mich bloß in Frieden mit eurer gräss­li­chen Realität! Was heißt das schon, die Realität? Die einen sehen schwarz, die anderen blau, die Mehrheit sieht ohne Verstand. … Das Bemühen um Wirk­lich­keits­treue zeigt, wie tief wir heute gesunken sind; und wenn wir so weiter­ma­chen, wird die Kunst zu irgend­einem Schmarren … Besser Über­schwang als Geschmack, besser eine Wüste als ein Trottoir, und lieber ein Wilder als ein Frisör!«
Frédéric in: Gustave Flaubert: »L’Éducation senti­men­tale«

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Der bereits erwähnte neue Festival-Trailer ödet zunehmend an. Die Bilder sind nicht nur als Verweise falsch, ihre Flächig­keit ist auch einfach hässlich und erinnert an die Ästhetik eines Compu­ter­pro­gramms, nicht an Kino. Und die Musik erinnert an die von »Downtown Abbey«. Hm…

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»Fuck the police!«; »Justice now!« – in dem italie­ni­schen Doku­men­tar­film What You Gonna Do When the World’s on Fire? von Roberto Minervini werden Schwarze in den US-ameri­ka­ni­schen Südstaaten portrai­tiert. Ein sehr schön in pracht­voll sattem Schwarz­weiß photo­gra­phierter Film. Er zeigt die entrech­tete Lage der Schwarzen der USA. Aber er lässt mich seltsam kalt, ich habe das Gefühl, das alles schon tausendmal gesehen zu haben, zu kennen und hier keinen Über­ra­schungen oder neuen Aspekten zu begegnen. Viel­leicht war ich auch nicht in der richtigen geistigen Verfas­sung, nachdem ich davor die ersten beiden Folgen der Elena-Ferrante-Serie »L’amica geniale« gesehen hatte.
Aber wenn ich im Film die örtlichen Black Panther sehe, wie sie am Straßen­rand stehen und »Black power! Black power!« rufen, habe ich gemischte Gefühle. Spontan möchte ich mitrufen. Aber geht das überhaupt? Kann ein Weißer für Black Power sein? Darf er mitmachen?
Dann fällt mir ein, dass Spike Lee in seinem neuen Film, ohne beides gleich­zu­setzen, gezeigt hat, dass »Black Power« genauso blöde ist wie »White Power!«
Was denke ich wirklich darüber?
Ich weiß es nicht, bin mit dem Film noch nicht fertig, aber mich stört etwas an Miner­vinis Film. Und das ist nicht nur die Tatsache, dass mir alles unerhört gestellt und gestaltet vorkommt, unecht. Wie haben der – weiße, italie­ni­sche – Regisseur und sein Team in der Community gedreht?

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Die späten 70er Jahre stehen im Zentrum eines weiteren, hervor­ra­genden Films, der in der »Orizzonti«-Reihe läuft: Deslembro (übersetzt noch mehr »Ent-innerung« als Vergessen – und hier nach einem Gedicht von Fernando Pessoa zitiert) heißt das Debüt der Brasi­lia­nerin Flavia Castro. Coming of age in times of the revo­lu­tion. Castros auto­bio­gra­fisch gefärbter Film erzählt von Joana, einer Tochter poli­ti­scher Emigranten. Sie wächst in Paris auf. Aber als sie vierzehn ist, kehrt die Familie nach Brasilien zurück – da setzt der Film ein. Die Kinder – Joana, genannt Jo, hat zwei Brüder – fühlen sich fremd und vermissen Europa. Das stellt die Regis­seurin geschickt dar, indem sich hier drei Sprachen vermi­schen und über­la­gern: Die Kinder sprechen mitein­ander Fran­zö­sisch, mit der Mutter ein Gemisch aus Portu­gie­sisch und Fran­zö­sisch, mit dem Vater außerdem noch Spanisch – er stammt aus Chile. Das ist alles überaus natürlich und selbst­ver­s­tänd­lich beiläufig präsen­tiert, genau wie die Zeit um 1982, die nur durch den Walkman und das Aussehen der Kleidung markiert wird.
Mit der Zeit erst versteht man als Zuschauer die tatsäch­li­chen Verhält­nisse: Jo ist die Tochter der Mutter, ihr biolo­gi­scher Vater ist tot, Paco ist der Sohn des Vaters, hat aber eine andere Mutter, die in Chile blieb. Leon, von den Eltern gern »mein kleiner Trotzki« genannt, ist das Kind von beiden.
Auch erst im Rückblick fiel mir auf, dass die drei zentralen Bücher, die im Film zitiert werden – Flauberts »Éducation senti­men­tale«, Pessoas Gedichte und Cortázars »Rayuela« – ebenfalls je einer der Sprachen des Films entspre­chen.

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In Rio ange­kommen, vergräbt sich Jo zunächst in ihre Bücher. Ein gemein­samer Sonn­tags­aus­flug in den Dschungel führt hier wieder sehr geschickt und beiläufig das eigent­liche zentrale Thema des Films ein. Als sie sich wegen eines Platz­re­gens unter einem Felsen unter­stellen, fragt Jo die Mutter: »Waren wir schonmal hier?«
Im Folgenden mischen sich die Nach­richten endloser »wichtiger« Meetings mit Sandi­nisten oder den Unter­grund­kämp­fern der chile­ni­schen MIR mit Garten­partys der Revo­lu­ti­onäre. Während man am Pool Whiskey trinkt und aus dem Off die Inter­na­tio­nale als Kinder­lied zu hören ist, sehen wir Jo, die sich von den übrigen absondert und an eine Mauer gelehnt lieber Flauberts »Éducation senti­men­tale« liest. Und zwar diese Stelle: »Es war wie eine Erschei­nung: Sie saß mitten auf einer Bank, ganz allein; oder wenigs­tens konnte er, von dem Anblick geblendet, niemand weiter unter­scheiden. In dem Augen­blick, als er vorü­ber­ging, hob sie den Kopf; unwill­kür­lich verbeugte er sich; und nachdem er sich in einiger Entfer­nung an derselben Seite nieder­ge­lassen hatte, betrach­tete er sie.«
Auftritt Ernesto. Der Sohn anderer Mili­tanter surft, singt und flirtet lieber und betont schnell, dass er nicht nach Ernesto »Ché« Guevara benannt sei. Er wird zu Jos Love-Interest und bleibt eine hübsche Neben­figur
Auf der gleichen Party kommt noch ein ehema­liger Kamerad des Vaters zu Jo, erzählt ihr vom Vater und enthüllt en passant, dass dieser nicht im Gefängnis starb – wie die Mutter immer behauptet hatte.

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Im Folgenden nähert sich Jo vor allem ihrer neuen Groß­mutter an, der Mutter des toten Vaters, die sie bis dahin nie gesehen hat. Die Groß­mutter erzählt viel, raucht, mag Pink Floyd. Zögernd forscht Jo dem Schicksal ihres leib­li­chen Vaters nach, der von der Diktatur gefangen und gefoltert wurde. Aber was geschah dann?
Immer wieder tauchen Erin­ne­rungs­bilder vor ihrem inneren Auge auf, werden vom Film dann visua­li­siert. Echte Erin­ne­rungen vermi­schen sich mit Vagem und Phan­ta­siertem. Kann Jo den Erin­ne­rungen trauen? Ihrem kleinen Bruder sagt Jo zwar einmal: »Leon, when we grow up, we forget things«, macht sich diesen Satz aber selber nicht zu eigen.
Was allmäh­lich heraus­kommt: Joana hat Schuld­ge­fühle, denn sie bildet sich ein, am Verschwinden ihres Vaters mit schuld zu sein. Deslembro ist auto­bio­gra­phisch, vorher hat die Regis­seurin (Jahrgang 1965) eine Doku über ihren Vater gemacht, der ein Mili­tanter war. Deslembro macht das histo­ri­sche und poli­ti­sche Reale auf origi­nelle Art zu seinem Gegen­stand und mischt dabei einen doku­men­ta­ri­schen Realismus mit exzel­lenter Insze­nie­rung der Kinder­dar­steller und künst­le­ri­scher Ambition. Castros hervor­ra­gender Film über die Frage, wie Erin­ne­rung funk­tio­niert, ist klug wie sinnlich, eine Medi­ta­tion über das Wesen des Erinnerns. Und ein Portrait des Erwach­sen­wer­dens in Zeiten der Revo­lu­tion.

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Dazu gehören auch die mora­li­schen Vorhal­tungen der Kinder, die man nicht teilen muss, um sie zu verstehen. Die Kinder sind fed up mit der Revo­lu­tion, sagen den Eltern »Fuck the revo­lu­tion«, »Fuck class struggle!«
Aber auch Jos Mutter will nicht wirklich akzep­tieren, als der Stief­vater verkündet, dass er in den Unter­grund in sein Heimat­land Chile (noch unter dem faschis­ti­schen Diktator Augusto Pinochet) gehen will: »Du wirst sterben«, sagt sie ihm. »Es gibt keine andere Option«, antwortet er. Sie: »Es gibt immer eine andere Option.«

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Wer diesen Film sieht, und in etwa im Alter der Regis­seurin/der Haupt­figur ist, dürfte sich zwangs­läufig fragen: »Was würde meine Mutter sagen? Anstelle der Mutter und mehr noch der Groß­mutter-Figur. Und was würde sie tun? In der Zeit des deutschen Herbstes zumindest gab es ja in West­deutsch­land auch Eltern, die sinngemäß sagten: ›Wenn mein Kind so etwas tun würde (wie die RAF), dann hätte ich keine Tochter mehr.‹
Es sind die Mütter­fi­guren, die in diesen vielen Filmen über Frauen, mit mehreren weib­li­chen Haupt­fi­guren, vor allem in Frage gestellt werden.«

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Eine inter­es­sante Program­mie­rung, die beiden High­lights der ersten vier Tage – Roma von Alfonso Cuarón und Yorgos Lanthimos The Favourite – direkt hinter den Rein­fällen des ersten Tages zu program­mieren, aller­dings nicht so smart, wie Marco Müller es gemacht hätte, dessen Program­mie­rung zwar thema­ti­sche oder stilis­ti­sche Brücken schlug und ein kreatives Durch­ein­ander schuf, in dem die Filme sich gegen­seitig befruch­teten.

(to be continued)