08.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Konser­va­tive Revo­lu­tion gegen die Popu­listen des Publikums

Der Leopard
Cannes 2018 auf den Spuren von Viscontis Der Leopard von 1963...

Das beste Festival der Welt – heute Abend werden die Filmfestspiele von Cannes eröffnet. Sie belegen die Gegenwart einer Tradition; Cannes-Notizen, 1. Folge – von Rüdiger Suchsland

Von Rüdiger Suchsland

»Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist.«
Tommaso di Lampedusa: »Der Leopard«

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Endlich! Endlich geht es los, das schönste und vor allem beste Film­fes­tival der Welt: Der Rote Teppich vor dem Festival-Palais am Strand der Côte d’Azur ist bereits ausge­rollt, und zur Melodie des »Karneval der Tiere« vom fran­zö­si­schen Kompo­nisten Camille Saint-Saens, die seit vielen Jahren jede Film­vor­stel­lung im Festival von Cannes einleitet, werden heute Abend die 71. Film­fest­spiele von Cannes eröffnet – und dieser riesen­große Kino­kar­neval wird für knapp zwei Wochen den Nabel der Filmwelt bilden.
Und das Film­fes­tival zeigt Mut: Cannes verändert in diesem Jahr vieles, und erfindet sich neu. Gut so! Vor allem für das Kino.

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Eröffnet wird mit Todos los Saben, dem neuen Film des irani­schen Autoren­fil­mers Asghar Farhadi, und dies ist gleich ein mehr­fa­ches, auch kultur-poli­ti­sches Statement: Farhadi kann in seiner Heimat unter der Zensur des Mullah-Regimes keine Filme machen, zumindest nicht die, die er machen will. Darum arbeitet er im Exil. Und dieses Exil, persön­lich, aber auch kulturell in Form seiner heutigen Produk­ti­ons­firma liegt seit Jahren einmal mehr in Paris und nicht in Berlin. Obwohl Farhadi zur deutschen Haupt­stadt sogar einen besonders engen persön­li­chen Bezug hat: Vor acht Jahren gewann er hier auf der Berlinale für sein Schei­dungs­drama A Sepa­ra­tion den Goldenen Bären. Doch seitdem zeigte er alle seine weiteren Filme in Cannes.
Die Deutschen haben auch sonst viele gute Gründe, in den nächsten 14 Tagen aufmerksam nach Cannes zu blicken.

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»Wie ist das deutsche Kino vertreten?« wird zum Auftakt von Cannes immer gern gefragt. Nun – mit zwei Altmeis­tern des »Jungen Deutschen Films«: Marga­rethe von Trotta und Wim Wenders. Beide beschäf­tigen sich mit »großen Männern«... Mit dem Papst und mit Ingmar Bergman. Und beide gehen, wenn sie können, offenbar auch am liebsten an die Croisette.
Hier, wo noch immer das Erbe der Nouvelle Vague, der fran­zö­si­schen Neuen Welle, die immer noch auch über Frank­reich hinaus das Maß aller Dinge im Autoren­kino bildet, lebendig ist, kann man sehen, wie man ältere Filme­ma­cher und Tradi­tionen pflegt und inte­griert, ohne das Neue zu verraten. So läuft auch der neue Film des weit über 80-jährigen Jean-Luc Godard an den nächsten Tagen im Wett­be­werb. Damit erinnert man auch an die wildeste aller Festi­val­aus­gaben vor genau 50 Jahren: In Paris tobte im Mai 1968 der Gene­ral­streik, De Gaulle hatte das Land bereits verlassen, und unter dem Straßen-Pflaster lockte die Revo­lu­tion. Aber Godard und seine Regis­seurs­freunde waren nach Cannes gekommen und riefen am Strand die Film-Revolte aus:
Das Ergebnis war die Gründung der Quinzaine, der unab­hän­gigsten von den vier Festival-Sektionen. Auch an ‘68 wird gedacht.

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Trotz aller Tradi­ti­ons­pflege kämpft das Festival gerade einen heftigen Kampf um die Zukunft des Kinos. Und wo andere in alten Ritualen verharren, versuchen die Franzosen, sich selbst neu zu erfinden.
Man hat das Programm verjüngt versucht die Online-Presse, die zunehmend die Macht über­nommen hat, in die Schranken zu weisen. Nicht die Medien, sondern die Filme und Filme­ma­cher seien die Haupt­sache, argu­men­tiert Festi­val­di­rektor Thierry Fremaux sehr klar. Die Filme, das heißt das Kino.

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So posi­tio­niert sich das wich­tigste Film­fes­tival der Welt, noch mehr als in der Vergan­gen­heit als Bollwerk der Vertei­di­gung des Kinos gegen den gras­sie­renden Film-Popu­lismus und den Angriff der Streaming-Dienste, des Internets und all jener, die behaupten, das Film gleich Film sei und das Kinos nichts Beson­deres.
Es gab Streit mit dem Online-Dienst Netflix, nicht weil Cannes Netflix nicht mag, sondern weil Netflix seine Filme dem Kino voren­thält, und exklusiv haben will. Netflix hat dem Kino offen den Kampf angesagt, es sieht in den dunklen Sälen mit großer Leinwand, ausge­feilter Tonanlage und perfekter Projek­tion keinen Partner, sondern einen Feind.
Als Start­rampe und Werbe-Plattform wollen die Ameri­kaner den steu­er­fi­nan­zierten roten Cannes-Teppich aber gern ausnutzen.
Diesem faulen Deal hat sich Cannes jetzt verwei­gert, und verkündet: Filme, die keinen Kinostart haben, würden vom Wett­be­werb in Zukunft ausge­schlossen. Denn ein Film­fes­tival aber ist Freund des Kinos.
Ob das Kalkül aufgeht, ist noch unklar: Denn auf lange Sicht war Cannes immer ein Festival der Film-Autoren.
Hier müssen weiterhin die Besten der Besten laufen.

Wenn aber bedeu­tende Regis­seure mit Netflix arbeiten wollen – kann und will man sich ihnen dann auf Dauer verwei­gern? Der Ausgang dieser Schlacht ist offen. Die Debatte darüber wird aber nur eine unter vielen sein, die die kommenden zwei Festi­val­wo­chen prägt.

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»Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist.« – dieser Satz ist berühmt. Er stammt aus dem Roman »Der Leopard«, dessen Verfil­mung durch Luchino Visconti den Satz noch bekannter machte.
Auch die Verant­wort­li­chen der Film­fest­spiele von Cannes, wo Viscontis Film 1963 seine Welt­pre­miere erlebte und die Goldene Palme gewann, haben sich den Satz offen­sicht­lich zu Herzen genommen. Denn Cannes unter­nimmt gerade nichts Anderes, als den Versuch, sich und das Autoren­kino zu verändern und neu aufzu­stellen – bei laufendem Betrieb, denn in unseren schnell­le­bigen Zeiten, kann sich selbst Cannes keine Auszeit leisten, keine Findungs­phase erlauben, in der sich in Ruhe bestimmen ließe, was Sinn und Funktion eines Film­fes­ti­vals im 21. Jahr­hun­dert sein könnte.

Genau darum aber geht es. Darum, dem Kino, und jenen Filmen, die nur dort, nur auf der großen Leinwand und in der Gemein­sam­keit vieler Menschen im dunklen Saal ihre volle Wirkung entfalten, seinen Platz und diese Wirkung zu sichern.

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Mit seiner entschie­denen, kämp­fe­ri­schen Haltung, stellt Cannes die Grund­satz­frage: Was ist Sinn und Funktion eines Film­fes­ti­vals im 21. Jahr­hun­dert?.
Und wo kann der Platz des Kinos liegen, in einer Zukunft, in der man nach dem »Visual Turn« Filme immer und überall sehen kann, auch jenseits des ursprüng­li­chen Abspiel­orts für Filme?

Gegen die Demagogen der Effizienz, gegen die Funda­men­ta­listen der »Neuen Medien«, gegen die Popu­listen des Publikums, die nicht etwa »dem Volk nicht aufs Maul schauen«, sondern nach dem Mund reden, und die Ressen­ti­ments der intel­lek­tuell down­ge­gra­deten Leser- und Zuschau­er­schaft bedienen.
Das Film­fes­tival von Cannes erfindet sich neu – eine konser­va­tive Revo­lu­tion. Wieder einmal geht Cannes mutig voran und beweist so, dass nur hier der Nabel der Filmwelt liegt.

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Wenn das Festival dann Pfingsten de Preise verkündet, und mit Terry Gilliams Don Quixote-Film zu Ende geht, dann feiert man damit auch die herrliche (und übrigens ökono­misch sehr einträg­liche) Macht der Phantasie: Auch Filme­ma­cher kämpfen gegen Wind­mühlen, und wir sehen ihnen dabei gerne zu.

(to be continued)