68. Berlinale 2018
Wirklichkeiten im (Rück-)Spiegel |
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»Weimarer Kino – neu gesehen« heißt die diesjährige historische Retrospektive, hier ein bezaubendes Kleinod der Neuen Sachlichkeit: Gerhard Lamprechts Die Unehelichen. | ||
(Foto: Gerhard-Lamprecht-Film Produktion GmbH) |
Ein Sommer auf dem Land. Essen und Trinken, Kochen und Ausspannen im Garten, aber auch die Anspannung unausgelebter Wünsche, verdrängter Konflikte.
Aleksandra Odic, Regie-Studentin an der Berliner DFFB, erkundet in ihrem mittellangen Film mit dem Titel »Chinesische Mauer« das Bosnien von heute, 20 Jahre nach dem Bürger-Krieg.
Dort herrscht viel Stillstand: Aus der Perspektive eines achtjährigen Mädchens, das zu Besuch bei Verwandten ist, blickt die Regisseurin auf drei
junge Frauen, und ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe. Besonders eine Tante, die rebellische Künstlerin der Familie, hat er der kleinen Nichte angetan.
Ein ausgezeichneter, auch reif inszenierter Film, der weit über den oft begrenzten Horizont üblicher deutscher Studentenfilme hinausragt.
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Überhaupt zeigt die in diesem Jahr besonders interessante Auswahl der Sektion deutscher Perspektive, dass das Fremde, ein ungewohnter Schauplatz, oder eine andere Ästhetik, aber auch ein nichtdeutscher kultureller Hintergrund unbedingt befruchtend auf das deutsche Kino wirken.
Das Kino selbst ist schließlich seinen Wesen nach heterogen, vielfältig und widersprüchlich.
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Davon erzählt »Whatever Happens Next« von Julian Pörksen. En Mann Mitte Vierzig lässt eines Tages alles zurück. Aber ist dieser Aufbruch, der ein Abbruch ist auch der Beginn neuer Freiheit? Der freundliche Taugenichts schlägt suich als schnorrer und Eindringling durch und landet irgendwann in Polen, wo er sich neu verliebt. Pörksens Film ist ein tragi-komischer Streifzug durch unsere Gesellschaft, die von schönen wie dubiosen Charakteren bevölkert ist.
Es sind auch Geschichten einer
Initiation, die einem hier begegnen, wie »Rå«, der bildgewaltige Film über Jäger, Waldgeister und nordische Mythen, den Regisseurin Sophia Bösch in Schweden gedreht hat,
Archaische anmutendes Kino, das an die Frühzeit des Mediums erinnert. Schließlich »Die Defekte Katze« von Susan Gordanshekan – ein Film über Blind Dates und arrangierte Partner unter Iranern, der Persien und Deutschland verbindet. Bei allem guten Willen erzählt die Regusseurin auch eine Komödie des
Scheiterns.
Pegah Ferydoni und Constantin von Jascheroff spielen zwei Hauptrollen in diesem bezaubernden Film, der nicht nur in seinem Titel offen an »Das Merkwürdige Kätzchen« erinnert, einen der großen Berlinale-Hits vor einigen Jahren
Die Perspektive wird manchmal als Ghetto innerhalb der Berlinale abgetan. Zu Unrecht. Gesucht wird in allen Filmen ein neuer Realismus, eine Darstellung der Wirklichkeit, die weder weltflüchtig ist, noch plump abbildend. Und das ist interessant. Vor allem junge Frauen sitzen in den diesjährigen Filmen auf dem Regisseursstuhl – und das hat nichts mit der Me Too-Debatte oder einer einseitigen Auswahl nach oberflächlichen politischen Kriterien zu tun. Sondern es ist einfach Ausdruck einer veränderten Wirklichkeit
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Vor 90 oder 100 Jahren war dagegen noch klar: Männer machen Filme. Frauen machen bestenfalls eine schöne Figur. Trotzdem war auch das Kino der Weimarer Republik Ausdruck eines Aufbruchs und einer neuen Generation.
Das Kino war damals noch viel jünger, innovativer und wagemutiger als heute
»Weimarer Kino – neu gesehen« heißt die diesjährige historische Retrospektive. Sie widmet sich dem Filmschaffen der Weimarer Republik, die vor hundert Jahren, im November 1918 nach
der geglückten Revolution gegen das reaktionäre preußische Kaiserreich gegründet wurde, und mit allerlei verstaubten Konventionen Schluß machte. Das Kino, allemal das neue Medium jener Jahre, spiegelte diese umfassende Modernisierung der Gesellschaft.
Im Fokus der diesjährigen Retrospektive stehen vor allem die weniger bekannten Filme und Regisseure des Weimarer Kinos.
Zum Beispiel Gerhard Lamprecht. Sein Film Die Unehelichen von 1925 ist ein bezaubendes Kleinod der Neuen Sachlichkeit. Oder Brüder von Werner Hochbaum – ein Film über einen Hafenarbeiterstreik in Hamburg.
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Auch der reichhaltig illustrierte Begleitband zur Retrospektive (»Weimarer Kino – neu gesehen«, herausgegeben von Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother, Annika Schaefer; 252 Seiten, Bertz + Fischer Verlag, 29,- Euro) lohnt: Sieben Essays beschäftigen sich darin mit unterschiedlichen Aspekten dieser besten Zeit des deutschen Kinos. Mit dem Motiv des Kriegsheimkehrers, mit historischen Stoffen, Exotik und Experiment, aber auch mit Themen, die sie mit dem jungen deutschen Film verbinden Zensur und Skandal, der Darstellung von Arbeit und Muße.
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Bei der Perspektive Deutsches Kino gibt es übrigens auch mehrere öffentliche »Reden über Film – Vorauseilender Gehorsam? Eine Generation befragt sich selbst« lautet der Titel.
Man darf gespannt sein, ob die jungen Filmemacher auch etwas mit alten deutschen Filmen anfangen können. Lernen könnten sie davon eine Menge.