02.09.2017
74. Filmfestspiele von Venedig 2017

Die Poesie der Droh­nen­bilder

This Is Congo von Daniel McCabe
Ein Film, der tief reingeht, nicht an der Oberfläche bleibt, nicht moralisiert – This Is Congo
(Foto: Dogwoof)

Selfie mit Flüchtlingskind: Mit Ai Weiwei in der Business Class des Krisenjetset und mit Daniel McCabe am offenen Herz der Finsternis – Notizen aus Venedig, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Ever­y­thing what is happening, has been done before.«
aus This is Congo

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Sanft gleiten sie dahin, zoomen heran, zoomen weg, fliegen wie in Vogel. Manchmal guckt man direkt hinunter in die Tiefe und einmal gibt sich Ai Weiwei ganz besondere Mühe. Da blickt er wieder einmal von weit oben auf ein Flücht­lings­lager, es ist bestimmt schon das drei­und­zwan­zigste in diesem Film, und von dort oben sieht das alles auch sehr schön und pittoresk aus, gerade auch die Menschen, die wie kleine Läuse flink umher­krab­beln, wie Ameisen auf ihren Straßen einem höheren Willen zu gehorchen scheinen, und dann, plötzlich stürzt sich die Kamera in die Tiefe wie ein Sturz­kampf­bomber, das Bild wird vom Zeit­raffer noch beschleu­nigt und die Menschen, die in einer Wegkreu­zung des Lagers sich eben noch zusam­men­ge­knäult haben, treten gleich­mäßig ein paar Schritte in alle Rich­tungen zurück, bilden einen Kreis, ehrfürchtig das erwartend, was da wie ein Sendbote Gottes bei ihnen landet. Vom Himmel hoch, da kommt sie her, die Kamera, die Kunst des Ai Weiwei.

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Eine schöne Insze­nie­rung. Dieser Film ist voll von solchen Insze­nie­rungen. Das ist für Doku­men­tar­filme neuerer Zeit auch nichts Unge­wöhn­li­ches. Ich habe mich aber schon immer gefragt, wo eigent­lich die mora­li­sche Grenze verläuft, ab die Insze­nie­rung einer Realität etwas Anrüchiges, Verbo­tenes hat. Denn was uns irgend­welche Kuns­theo­re­tiker und Film­wis­sen­schaftler und andere auch immer mit klugen Argu­menten über die Gemacht­heit und Insze­nie­rung des Doku­men­ta­ri­schen erzählen mögen – einst­weilen unter­scheiden wir ja noch (und mir scheint, mit sehr guten Gründen) zwischen Doku­men­tar­film und Spielfilm. Der Sinn dieser Unter­schei­dung besteht im unter­schied­li­chen Vertrag mit dem Zuschauer: Der Spielfilm zeigt etwas Ausge­dachtes, wie sehr dies auch immer auf Realem basieren mag. Ein Doku­men­tar­film behauptet, letzt­end­lich etwas Reales zu zeigen, und dies allen­falls zu inter­pre­tieren, mit was für Tricks und Insze­nie­rungs­gesten auch immer, aber nicht zu verfäl­schen. Auch Ai Weiwei bean­sprucht diesen Vertrag einzu­halten. Die Frage ist, ob seine Kunst die Absicht nicht trotzdem verrät?

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Ai Weiwei hat also einen Film gedreht. Seinen aller­ersten, der den mehr­deu­tigen Titel Human Flow trägt, und in recht allge­meiner Form von der heutigen Flücht­lings­si­tua­tion handelt. Von Ai Weiwei wissen wir vor allem, dass er Chinese ist, Künstler und ein Dissident, der offenbar schon mehrmals in China verhaftet wurde, und der seit einiger Zeit in Berlin lebt. In Berlin-Mitte sieht man ihn manchmal mit seinem kleinen Sohn herum­laufen oder Selfies mit Touristen machen.
Weil Ai Weiwei inzwi­schen so bekannt ist, dass er von Touristen um Selfies gebeten wird, hat er auch keine Probleme gehabt, in Deutsch­land und anderen Ländern genug Geld aufzu­treiben, um einen Film zu drehen, für den er mit sechs Kame­ramän­nern (und anschei­nend vielen Drohnen) durch die ganze Welt gereist ist, sogar nach Afrika, wo dann ungefähr 2 Minuten und 20 Sekunden seines Films spielen, weil Ai Weiwei zu Afrika offenbar auch nicht mehr einfällt, als den aller­meisten von uns.
Für das Geld gibt es dann auch Fotos mit den Förder­che­finnen und Fern­seh­re­dak­teuren, Selfies sind das aber nur in Ausnah­me­fällen.

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Die unbe­streit­baren Plus­punkte von Human Flow sind, dass der Film uns endlich einmal etwas Ruhe zu Beob­ach­tung gibt, uns hingucken und etwas selbst entdecken lässt. Natürlich haben wir schon viele Flücht­linge, Flücht­lings­boote und Flücht­lings­camps in den Nach­richten gesehen. Aber die Nach­richten funk­tio­nieren ja auch im Fernsehen gar nicht mehr durch Bilder. Sie sind zuge­textet, genau gesagt wird eigent­lich umgekehrt ein Hörtext, und zwar ein schlech­terer Radiotext, bebildert. Zudem muss alles immer ganz schnell gehen: Das Fernsehen lässt uns gar keine Zeit, uns einmal auf ein Bild einzu­lassen. Das ist hier immer mal wieder anders, obwohl die viele Bilder Ai Weiwei’s sehr bekannt und gewöhn­lich bleiben, und schon tausendmal gesehen wurden.
Was dem Chinesen auch gelungen ist: Sein Film gibt uns zumindest mal eine Ahnung von der Dimension des Themas. Das hat zwar manchmal etwas Depri­mie­rendes, etwas Aufwüh­lendes und Akti­vie­rendes aber auch. Ein gutes Gefühl.
Schließ­lich ist auch positiv zu vermerken: Die Insze­nie­rung vieler Szenen ist so offen­sicht­lich, dass dem aufmerk­samen Betrachter gar keine Zweifel bleiben können.

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Meine Lieb­lings­szenen, von der mit dem Droh­nen­sturz­flug abgesehen, sind Folgende: Eine Flücht­lings­frau erzählt ihr Leid an einem Tisch sitzend und mit dem Rücken zur Kamera. Sie will nicht ihr Gesicht zeigen. Irgend­wann ist sie von Verzweif­lung über­wäl­tigt, kann nicht mehr sprechen, muss weinen und sich schließ­lich sogar übergeben. Ai Weiwei tritt irgend­wann, während die Kamera weiter­läuft, in das Bild hinein, und tröstet sie. Dann kommt von rechts der Assistent, geht durchs Bild und reißt von einer großen Papier­rolle Taschen­tücher ab. Er gibt sie nicht der Frau, sondern seinem Meister, der sie wiederum der Frau gibt. Das wieder­holt sich mehrmals.
Die zweite Szene: In dem Abschnitt über den Gaza­streifen filmt der Künstler acht Freun­dinnen, die gerade mit der Schule fertig sind, und sehr selbst­be­wusst, sehr frech und witzig von ihrer Lage und dem Leben in Gaza erzählen, hat mindes­tens eines der Mädchen das Buch Ai Weiweis über Warhol in der Hand. Ist das nun Zufall? Man mag es nicht glauben. Wenn es aber eine Insze­nie­rung ist, ist es nicht nur eine ziemlich eitle Selbst­in­sze­nie­rung, die der Regisseur besser gelassen hätte, sondern auch ein Kniff, der so verrä­te­risch ist wie genial, und zwar genial, weil er verrä­te­risch ist. Denn damit würde Ai Weiwei immerhin uns alle direkt darauf hinweisen, dass das, was er tut unau­then­tisch und aus zweiter Hand ist
Die dritte Lieb­lings­szene: Auf einem Flücht­lings­schiff macht Ai Weiwei Selfies mit einem Flücht­lings­kind, und lässt sich dabei filmen.

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Solche Szenen enthüllen den größten Malus des Films: Die unsäg­liche Selbst­in­sze­nie­rung des Künstlers, aber auch seine mangelnde Selbst­re­fle­xion. Offenbar ist ihm gar nicht bewusst, dass es ein bisschen obszön ist, wenn hier ein hoch­pri­vi­le­gierter Künstler sich den Luxus gönnt zwischen Flücht­lings­brenn­punkten hin und her zu jetten, und dann die Flücht­linge als Kulisse benutzt, vor denen er selber immer wieder auftritt, Flücht­lings­köpfe strei­chelt, Tränen tupft, und ein ums andere Mal murmelt: »You are a good man« – wir rätselten hinterher nur, ob dieser Satz dreimal im Film fällt, fünfmal, oder mindes­tens siebenmal.
Inter­es­sant auch, dass all dies niemand heraus­ge­schnitten hat. So wie auch die vielen Assis­tenten, die im Film immer servil um den Meister herum­schar­wen­zeln.
Dazu sind die Bilder viel zu schön, viel zu lackiert, alles hält uns wohlig auf Distanz, nichts scho­ckiert, bedrängt, hallt unan­ge­nehm nach. Ein Film, den man gut konsu­mieren kann.
Außerdem geht es Ai Weiwei viel zu viel darum, wie »wir«, wie »Europa« auf das Elend reagiert. Da verlässt der Film den Zeige­gestus und mora­li­siert. Ich finde das Verhalten Europas auch falsch, aber dann hätte er einen anderen Film drehen müssen, dann hätte er ernsthaft nach »unseren« Hand­lungs­op­tionen fragen müssen.

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Der Abschnitt über Gaza ist eigent­lich der inter­es­san­teste, konzen­trier­teste. Wenn in Gaza plötzlich der Strom ausgeht, scheidet das Ai Weiwei ein paarmal hinter­ein­ander. Und wenn er auch ausführ­lich die Rettung eines Tigers aus Gaza gezeigt wird (geht es noch schräger? Was hat der Tiger da überhaupt zu suchen?), dann soll uns das wohl über den absurden Kontrast zwischen Aufwand für ein Tier und dem Nicht­auf­wand für die Menschen nach­denken lassen. Es gibt aller­dings auch nur einen Tiger im Gaza­streifen.

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»Der Tiefpunkt bisher« findet eine öster­rei­chi­sche Kollegin. »It was a shame« sagt Nil Kural aus der Türkei. Es ist inzwi­schen ein Genre: Künstler aus nicht filmi­schen Künsten machen einen Film über irgend­etwas wahn­sinnig Poli­ti­sches, oder über ein Krisen­ge­biet. Und es hat selten richtig überzeugt.

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Wer sich jetzt ärgert, dass ich »Flücht­ling« schreibe, dem möchte ich sagen: »Geflüch­tete« ist ein dummes Wort für alle diese Menschen. Denn nicht alle von ihnen sind geflüchtet. Manche wurden vertrieben. Ein viel besseres Wort, aber mit dem falschen poli­ti­schen Zungen­schlag. Manche sind immer noch auf der Flucht, also eher »Flüch­tende«, als geflüchtet. Vor allem aber: »Flücht­ling« bezeichnet keinen Zustand. Das Wort meint einen Rechts­status nach der UN-Flücht­lings­kon­ven­tion. Und auf Englisch kann man »geflüchtet« eh nicht sagen.

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Direkt nach dem Film lief noch ein Doku­men­tar­film, This is Congo, und das war ein weiteres verrä­te­ri­sches Ereignis, diesmal aller­dings verrä­te­risch für das bour­geoise Kultur­pu­blikum bei so einem Festival und für viele Kriti­ker­kol­legen: Denn während zum Kunst-Hipster Ai Weiwei die Festi­val­be­su­cher in Scharen pilgern, das Kino picke­pa­cke­voll ist, kommen zu einem Doku­men­tar­film über den Kongo, der nicht von einem Star des Kultur­be­triebs gemacht wurde nur 100 bis 150 Leute. Man kann jetzt wie Nil Kural sagen, das sei »vom Festival schlecht program­miert«. Ich fand es eher eine groß­ar­tige Zusam­men­stel­lung, weil sich hier einmal mehr – wie Schrader und Friedkin – zwei Filme gegen­seitig kommen­tieren.

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Daniel McCabes Doku­men­tar­film ist ganz das Gegenteil von Human Flow. Ein Film, der tief reingeht, nicht an der Ober­fläche bleibt, nicht mora­li­siert, nicht Messages formu­liert: wir in Europa. Dieser Film erzählt vom Kongo, nicht von »Europa und dem Kongo«. Dieser Film zeigt auch den Dreck, die Häss­lich­keit der Verhält­nisse, nicht so lackierte Bilder, an denen alles abperlt. Der Film ist nahe dran, »embedded« im besten Sinn.

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»Im Congo geboren zu sein ist das Paradies – wenn es nach Gott ginge. Denn der Congo hat alles... Im Congo geboren zu sein, ist die Hölle, weil die Menschen Krieg machen.« Es spricht: Mamadou, Colonel der Natio­nalen Armee des Congo. Nach dem Krieg will er ein Stück Land bear­beiten. Erst einmal sehen wir aus erstaun­li­cher Nähe und mit kracherner Laut­stärke Stalin­or­geln ihre Salven abschießen, Flücht­lings­kinder apathisch Deckung suchend. Dann ein Vulkan­aus­bruch – es sind mitunter super-schöne Bilder, die This is Congo zeigt.
Dann spricht »Kasongo«, ein Fake-Name für einen hohen Offizier, der anonym bleiben möchte. Er wird zum Histo­riker und Analy­tiker des immer­wäh­renden Konflikts im Kongo, vor allem des jüngsten kongo­le­si­schen Bürger­kriegs, den der Film aus mehreren Perspek­tiven beschreiben will. Aller­dings bleibt der Film den Rebellen ferner, als den Regie­rungs­truppen.
Kasongo beschreibt seine Offi­ziers­kol­legen mit »no patriotic sense, desor­ga­nized, poorly paid«, er erinnert an Präsident Kabilas Wahl 2001. 50 »armed groups« gebe es, über »400 tribes«.
Der Feind ist »M 23« eine Offi­ziers­re­bel­lion. »Ruanda and Uganda are backing M 23«. Auch deren »acting leader« Makunga kommt zu Wort, so wie Bewohner eines Flücht­lings­camps mit 60.000 Menschen. Einer führt seit Jahren eine Nähma­schine mit sich – sein wich­tigstes Gut, das eine ganze Familie ernährt.
In 2, 3 histo­ri­schen Abschnitten erzählt Kasongo im Lauf des Films, dass der Kongo immer ein Brenn­punkt war, wie die Araber aus Zanzibar Sklaven fingen, was die Belgier trieben. Er erinnert an die Kongo-Krise, an Lumumba und Mobuto. »Ever­y­thing what is happening has been done before.«
Der Kongo ist so reich. Er lieferte den USA das Uran für Hiroshima

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Zur entschei­denden Story unter mehreren wird die des Colonel Mamadou. Einmal wird seine Familie gezeigt: Wohlstand und neurei­ches Estab­lish­ment in Afrika. Aber so können dort Kinder eben auch aufwachsen. Immer wieder wird Mamadou inter­viewt: Ein kluger, junger Mann, ein seltenes Beispiel für kongo­le­si­schen Patrio­tismus, ein Idealist, der in seiner Begeis­te­rung und mit seinem ständigen breiten Grinsen manchmal wirkt, wie ein Sekten­an­hänger, zugleich ein harter Anführer, aber auch mutig, oft in der vorderen Linie. Das zeigt der Film, der erstaun­liche, selten zu sehende, und faszi­nie­rende Bilder des Krieges liefert. Keine gott­glei­chen Vogel­per­spek­tiven, sondern Schüt­zen­graben- und Ziel­fern­rohrein­stel­lungen, ohne Überblick, mit mehreren Kameras gefilmt, Krieg von unten und von vorne, laut, chaotisch, unsicher...
Mamadou siegt in seinem Feldzug gegen die M 23 in der Gegend von Goma, im Osten des Landes. Die Tage danach zeigen die Begeis­te­rung der Bevöl­ke­rung für Mamadou, sein Charisma, sie zeigen seine neidi­schen Vorge­setzten, die die Leistung des Colonels ständig zu rela­ti­vieren suchen.
Kurz darauf dann stirbt Mamadou, als Opfer eines Mord­an­schlags, der offenbar aus den eigenen Truppen heraus verübt wurde.

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Noch einmal Kasongo: »He was brave, special, engaged, so popular, because he was a couragous leader in the fight. But he wanted to be a star. this was his only weakness. in fact it was a big weakness.«

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Während das Das Kongo Tribunal Milo Raus gewis­ser­maßen eine Außen­an­sicht liefert, bietet This is Congo eine Innen­an­sicht bis zum Embedded-sein – aber ohne einsei­tige Partei­namen. Daniel McCabe zeigt einen Kongo, in dem es zwar Einmi­schung aus dem Ausland gibt, in dem aber »der Westen« und »der Kolo­nia­lismus« keines­wegs an allem alleine schuld sind, schon gar nicht nach Ansicht der Kongo­lesen. Er zeigt einen Kongo, der der Renais­sance mit ihren Condot­tiere ähnelt. »Aut Cesar, aut nihil.«

(to be continued)