Kinos in München – Werkstattkino
»Filmmuseum für Dreck« |
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Eingang in den Underground, Einstieg zur Avantgarde |
Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat München
Filme werden fürs Kino gemacht, hieß es mal in einer Kampagne. Weil dies im Zeitalter von DVD und erhöhten Kinomieten mehr denn je keine Selbstverständlichkeit mehr ist, stellen wir hier besondere Kinos in München vor, die unbedingt einen Besuch wert sind.
Von Dunja Bialas
Das Münchner Werkstattkino ist legendär. Wegen seines Programms. Wegen der Art, wie es geführt wird. Legendär ist es heute vor allem auch, weil es es überhaupt noch gibt. Wie in einer Oase im geldigen München liegt das Werkstattkino in einem idyllischen Hinterhof der gentrifizierten Fraunhoferstraße, mit Apfelbäumen, Kinderfahrrädern, einer Bank, auf der man sich niederlassen kann, und einer Badewanne, die noch verpackt und an die Wand gelehnt auf ihre Bestimmung wartet. Im Hinterhaus ist auch eine Druckerei angesiedelt und die »Kulisse«, mit dem Theater im Fraunhofer und einem urgemütlichen holzgetäfelten Gastraum, der früher einmal, damals hieß es noch »Jägerstüberl«, vom Werkstattkino bewirtschaftet wurde, als man anfing mit dem Kinomachen im Keller.
Das war vor genau vierzig Jahren.
Am 3. April 1976 nahm das Werkstattkino seinen regulären Spielbetrieb auf. Vorausgegangen waren zwei Jahre, in denen man mit Kino und Programm experimentierte. Elf Freunde hatten 1974 das Kino gegründet, es war ein regelrechter »Flohzirkus«, der da am Werk war, bevor man zwei Mal täglich vorführte, erinnert sich Erich »Waco« Wagner, Mitbegründer des Kinos. Er war dabei, als 1974 Rainer »Thilo« Pongratz die Idee hatte, in der nur selten genutzten Kegelbahn unter der Fraunhofer Gaststätte eine Kino-Werkstatt einzurichten, in der auch Filme entstehen sollten. Nach den zwei Gründerjahren, in denen nur sporadisch Filme liefen, sprangen die meisten wieder ab. Man konnte sich nicht wirklich darauf einigen, welche Art von Filmen gezeigt werden sollte, und dann hatte man auch gesehen: Kinomachen ist Arbeit. Mit der man aber kein Geld verdienen wollte, so viel stand fest. Die antikommerzielle Haltung verband sich mit kreativ-politischem Denken. Das hat sich im Kern bis heute gehalten. »Entwicklungshilfe seit 1976« heißt es so auch auf dem Handzettel für das Jubiläumsprogramm: Filme zeigen, die woanders nicht zu sehen sind. Und die deutlich anders sind, als es die konventionellen Sehgewohnheiten tolerieren, Filme, die das Kino neu vermessen, es aufbrechen. In seinen vierzig Jahren hat das Werkstattkino die deutsche Film- und Kinolandschaft verändert, so viel wird deutlich in dem Gespräch, das ich an einem Nachmittag mit den Betreibern im dunklen Foyerraum des Kinos führe. Ein seltener Moment, sie alle zusammen zu erleben, und jeder bringt seine eigene Kino-Geschichte mit.
Eine Viererbande führt heute das Werkstattkino im Kollektiv, Waco Wagner ist immer noch dabei. Er spricht ein sehr schönes Münchnerisch, genau so wie Wolfi Bihlmeir, der seit 1979 sein Leben ganz dem Werkstattkino verschrieben hat. Nach ihm kamen Doris »Dolly« Kuhn, heute auch Filmkritikerin, und als letzter Bernd Brehmer, damals Filmvorführer, der heute als Programmer bei Festivals in Wien oder Basel gefragt ist und außerdem selbst das UNDERDOX-Festival gegründet hat (zusammen mit der Autorin dieses Portraits). Alle vier verbindet eine große cineastische Leidenschaft und die Überzeugung, dass es wichtig ist, andere an den Filmen teilhaben zu lassen, die man für sich entdeckt hat. Er sei kurz vor dem Abitur gestanden, erzählt Wolfi, als ihn Waco gefragt habe, ob er nicht im Werkstattkino einsteigen wolle. »Ich habe dann im Kino angefangen und das Abi sein lassen.« Er wurde aber später in einer Festschrift seiner Schule neben Thomas Kuchenreuther, Kinobetreiber an der Münchner Freiheit, lobend als »toller Abgänger« erwähnt, erzählt er. Wolfi kam aus der Münchner Punk-Bewegung »Freizeit 81« und brachte die Punk-Rocker mit ins Werkstattkino. Er war eine Zeitlang in Zürich gewesen, hat gesehen, »wie es da abgegangen ist« und sich gesagt: »So was muss man in München auch machen. Und das hab ich dann auch geschafft.« Mitgebracht ins Kino hat er Filme wie Züri brennt oder britische Punkrockfilme, das Programm politisierte sich schlagartig.
Dies wurde von anderer Seite mit einem cineastischen und unpolitischen »Gegenprogramm« ausgeglichen: mit Anthony-Mann-Western und anderen Genrefilmen, eine Eigenheit des Werkstattkinos, sich nicht festschreiben zu lassen. »Für uns war es immer wichtig, Genre-Kino, Western, Science-Fiction, Horror, zu zeigen, weil es das im Filmmuseum so gut wie gar nicht gab«, erläutert Waco. Das Filmmuseum wird in der Viererbande stets als Referenzgröße genannt, Waco, Wolfi, Bernd und zahlreiche andere zwischenzeitliche Mitstreiter kamen vom Filmmuseum ins Werkstattkino, die am St.-Jakobs-Platz Kartenabreißer oder Filmvorführer gewesen waren. »Filmmuseum für Dreck« nennt nicht nur deshalb Dolly gerne ihr Kino, mit einer Lust auf Pointierung und Bereitschaft, die Dinge beim Namen zu nennen. Dolly, ebenfalls bei »Freizeit 81« aktiv, stieg ins Kino ein, als ihre Punker-Kollegen »wegen unseren illegalen Freizeitaktivitäten«, wie es Wolfi formuliert, in den Knast einfuhren und Waco als einziger Vorführer übrig blieb.
Bernd hatte sich neben seiner Tätigkeit als Kartenabreißer und Filmvorführer im Münchner Filmmuseum und in der Theatiner Filmkunst bei Marlies Kirchner für die Arbeit im Werkstattkino auch dadurch empfohlen, dass er schon private Erfahrungen mit einem selbstgebauten »Kellerkino« im Wohnhaus seiner Eltern gesammelt hatte. 1995 kam er ins Werkstattkino-Kollektiv. Es stießen auch immer wieder Künstler und Freunde dazu, die nur vorübergehend blieben: Gisela Eberspächer stabilisierte ab 1977 den neuen Spielbetrieb mit zwei Vorstellungen, Filmaktivist Konrad Lutz war damals ebenfalls dabei. Anatol Nitschke, den man heute als Produzent und Chef von X-Verleih kennt, kam wie Wolfi aus der Punk-Szene, zeigte u.a. eine komplette Cronenberg-Retro und ging ein paar Jahre später wieder, weil er eigene Kinopläne hatte. Zum Freundes- und Sympathisantenkreis des Kinos zählten außerdem noch Florian Süßmayr und Romuald Karmakar. Axel Recht war fast zehn Jahre dabei, und seit etlichen Jahren verstärkt nun Thomas Stottele das Werkstattkino-Team.
Ohne sich eine feste Struktur oder gar ein festes Gehalt zu geben, ist das Werkstattkino-Kollektiv ein »Kollektiv von Einzelkämpfern«, wie Bernd es formuliert. Waco sagt: »Hier kann jeder machen, was er will.« Anders als in anderen Kollektiven gibt es keine Programmabsprachen, nur einen großen Wandkalender, in dem sich jeder Zeiträume für ein Programm reserviert, das er selbst verantwortet. Es ist ein Kollektiv des Vertrauens und der Toleranz gegenüber abweichenden Geschmäckern, in dessen Programm die meist bahnbrechende Reihen wichtig sind, weniger einzelne Filme. Bei allem Einzelkämpfer-Dasein hat man dennoch den Eindruck, dass sich keiner mit seinem Programm profilieren möchte. Die Entdeckung und der Spaß am Zeigen stehen im Werkstattkino im Vordergrund. Daraus ergibt sich wie von selbst Kino-Avantgarde, mit »Entlegenem & Verwegenem«, wie das Programm der leider vergangenen, legendären Salons übertitelt war, mit Kurzfilmen aus dem kinoeigenen Archiv, eine Mischung aus Dokumentarfilmen, FWU-Unterrichts-Filmen, Experimentellem und 20er-Jahre-Stummfilm-Pornos. Hin und wieder kommt auch der 8mm-Projektor zum Einsatz. Zum Beispiel in den Super-8-Viewer-Digest-Kompressionen amerikanischer Katastrophenfilme, die zuletzt eine Nacht lang in der launigen Sommerkino-Reihe »Dolly & Bernd zeigen…« liefen.
»Hier arbeiten die Besten« hieß es selbstbewusst auf einem Graffiti, das auf die Außenwand des Kinos gesprüht war, zusammen mit einem Anarcho-A. Hier arbeiten die Besten, mit anarchischer Lust an der Sache, und mit »State of the Art« im Rahmen des Möglichen. Die Vorführkopien werden professionell geprüft, der Zustand der Archiv-Kopien genau vermerkt, der 35mm-Projektor ist sorgfältig gewartet und es gibt zwei (halbwegs) funktionstüchtige 16mm-Projektoren. Bislang hat man es geschafft, dem kostspieligen DCP-Diktat der Industrie zu entkommen. Die meisten Verleiher akzeptieren den Beam von Blu-Ray; im 46-Plätze-Saal ist eine gute Projektionsqualität gewährleistet. Die Leinwand ist zwei auf dreieinhalb Meter und existiert im eigentlichen Sinn nicht: projiziert wird auf die nackte Wand, es wird aber sorgfältig von Hand abgekascht, um Bildtiefe zu gewährleisten.
Das Werkstattkino liebäugelt dennoch wenig mit Veränderung und ist sich so über vierzig Jahre im Charakter treu geblieben. Vieles blieb, wie es schon immer war, und zwar im besten Sinne: analog. Die charakteristischen A4-Handzettel, die in der Stadt im cineastischen Bermudadreieck von Filmmuseum, Theatiner und Werkstattkino ausliegen, gibt es seit vierzig Jahren. Der wacklige, wenn auch filigrane Kassier-Tisch ist schon immer da, die rote Handkasse, in der die zuerst 5 DM, dann 5 Euro Eintrittsgeld geworfen werden, ebenfalls. Und man schaffte es bei der jüngsten Renovierung des Hinterhauses zwar nicht, die Graffiti am hinteren Eingang zu erhalten, durchgesetzt werden konnte aber, dass der Eingangsbereich wieder im leuchtenden Rot gestrichen wurde. Zur analogen Existenz gehört irgendwie auch die handverlesene Auswahl an mehr oder minder unbekannten Experimental-Bieren, die man sich an der Kasse direkt aus dem Kasten holt.
Das große Glück des Kinos ist, dass sich in den vierzig Jahren auch die Pachtverhältnisse nicht änderten. Vermieter ist wie zu Beginn Josef »Beppi« Bachmair, der kurz vor der Werkstattkino-Gründung das Fraunhofer übernahm und wie die Kinomacher Visionen hatte. Nur die Zeit um 1982, als der spätere Hallenmogul Wolfgang Nöth Geschäftsführer des Fraunhofer war, wurde bedrohlich. Nöth wollte dem Kino kündigen, weil er der Ansicht war, dass man die Räumlichkeiten besser nutzen könne. Er scheiterte jedoch am Widerstand im Viertel, der unvorteilhaften Presse-Berichterstattung und am Einsatz des Kulturreferats. Entnervt verließ er das Fraunhofer, um kurz darauf mit der Theaterfabrik seine Karriere zu starten. Nöths Geist wurde allerdings Jahrzehnte später dem Filmcasino am Odeonsplatz zum Verhängnis, als das Kino einem Ableger-Club der 089-Bar weichen musste.
Auch mit geringen Mitteln, dank geringer Miete und Gehaltsverzicht bei gleichzeitiger Professionalität und einem unbestechlichen Filmgeschmack, konnte das Kino zu dem werden, was es heute ist: ein Kino, das sich durch sein Programm einen legendären Ruf über die Stadtgrenzen hinaus erworben hat.
Kennzeichen des Werkstattkinos ist prinzipielle Kompromisslosigkeit und die Weigerung, sich festlegen zu wollen. Daher finden sich neben Experimentellem und Gernre-Kino
auch immer wieder echte Kassenschlager ein, wie vor drei Jahren der Dokumentarfilm Searching for Sugar Man. Das kann über Zeiten der Kino-Flaute hinwegretten, die immer wieder kommen. Tod Brownings Freaks oder Herbert Bibermanns Das Salz der Erde (1954) über den Streik
mexikanischer Minenarbeiter waren Dauerbrenner der Anfangszeit. Die Spätvorstellungen waren auch immer voll, erinnert sich Waco, »da waren wirklich d’Leit da, es war erstaunlich oft ausverkauft«. Erst ab den 80er/90er Jahren habe sich das verändert. »Wir haben immer mal wieder vom Kulturreferat für Reihen Geld zugeschoben bekommen, irgendwie haben wir es immer wieder geschafft«, – »und das gilt für heute genauso«, ergänzt Dolly. »Wenn die Lage schlecht ist, sagt
keiner: Du, es rentiert sich nicht, ich höre jetzt auf.« Not macht bisweilen erfinderisch, am Anfang gab es Kinopartys, die Geld in die Kasse spülen sollten. Heute ist das kinoeigene Archiv ein wichtiges Standbein, zumal in Zeiten, in denen es immer schwieriger wird, Filme zu finden, für die man früher lediglich die Verleihkataloge aufschlagen musste. 16- und 35mm heißt die Formel, auf der die relevanten Filme der »Filmgeschichte von unten« gebannt sind – kaum einer wird sie
je digital restaurieren.
Auch in den Anfangszeiten wurden immer wieder wenig begehrte Filme gespielt. Es war nicht das Ziel des Kinos, beliebt zu sein. Man zeigte, was man selbst für wichtig hielt, ohne auf den etablierten Publikumsgeschmack zu achten. So waren die Experimentalfilm-Donnerstage, die von Beginn an stattfanden, eine echte Herausforderung. Zwar hängte Waco selbstgemalte Plakate in der Kunstakademie und der HFF aus, »aber das war natürlich vergebliche Liebesmüh'«. Es gelang auch nicht, das Münchner Independent Film Center von Karlheinz Hein, Bruder des Avantgarde-Filmemachers Wilhelm Hein, zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. Dennoch liefen die einschlägigen Werke von Stan Brakhage, Gregory Markopoulos, Kurt Kren (der eine Zeit lang auch in München wohnte), den Wiener Aktionisten und Andy Warhol, die dem Werkstattkino den Ruf als Experimentalfilmkino einbrachten. Aus der Sicht von Wolfi wiederum, der politische Filme spielte, war es ein Politkino, er programmierte aber auch viel Splatter, Dolly und Bernd die Klassiker von unten, Genre-Kino, Exploitation, Trash.
Vor allem gab es aber natürlich den großen Zulauf, gerade in den Anfangsjahren, weil das Werkstattkino Filme zeigte, die sonst nirgendwo zu sehen waren und auch nicht oder nur sehr schwer auf – damals – VHS erhältlich waren. Die Programmmischung gab es von Anfang an, und sie war in der Kinolandschaft einmalig. Die erste Vorführung des Kannibalen-Horrors The Texas Chain Saw Massacre als Super8-Kopie war 1976, 1977 gab es eine große Roger-Corman-Reihe. The Last House on the Left von 1972 (im Verleih als Mondo brutale), Teenage-Exploitation-Horror und Debütfilm von Wes Craven war auch im Programm, gegen den Widerstand von Konrad Lutz, der sich weigerte »so einen Scheißdreck vorzuführen«. Im Lexikon des Internationalen Films wird der Film als »widerliche Brutalitätenshow« geführt. Derartige Adelungen werden seitdem gerne auf dem Programmzettel abgedruckt. Ausgestiegen ist Lutz dann tatsächlich aus moralischen Bedenken, als der Film des Pornoproduzenten Richard Rimmel Snuff gezeigt wurde. Der Spiegel befand damals: »eine vernichtende und bisher eindringlichste und deprimierendste Darstellung der deutschen Porno-Industrie.«
Zum Kinomachen gehört es auch, Entdeckungen zu machen: Don Siegel, Walter Hill, David Cronenberg, John Carpenter, Atom Egoyan, heute geläufige Namen, wurden vom Werkstattkino auch deshalb gewürdigt, »weil es das Filmmuseum nicht machte«, so Waco. Man besetzte eine leere Nische und folgte eher den Kuchenreuther-Kinos, die in den 70er Jahren Genre-Reihen, zum Western oder Polizeifilm, zeigten. Die Entdeckungen gaben sie dann an die Zuschauer weiter, die sich mit den Kinomachern weiterbildeten und erfahren durften, »was Kino sein kann«. Dolly spricht in diesem Zusammenhang von Filmen auch als »Lehrbeispielen« – die Filmgeschichte zeigt sich unerschöpflich, wenn man beginnt, tiefer in der Materie zu graben. Das wusste auch die Filmkritik zu schätzen. Frieda Grafe erwähnte das Programm regelmäßig in ihren »Filmtips«, und das Werkstattkino war ab den späten 80er Jahren fest in der Cineasten-Szene etabliert, auch Filmmuseums-Leiter Enno Patalas erweiterte hier seinen Horizont.
Das Werkstattkino hat neben seiner Pionierarbeit für den Film immer auch wieder für Skandale gesorgt, weil Filme von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurden. »Das Verbot hing meist mit Sex und Gewalt zusammen«, so Dolly, »aber es gab auch politische Fälle.« Wie die Fotomontage aus Maschinenpistole und Innenminister Zimmermann, mit der ein Programm der Anfangszeit in Zusammenarbeit mit der Roten Hilfe beworben wurde, »und dann haben sie sich gewundert, dass der Handzettel beschlagnahmt wird«. Waco nennt auch eine »kindische Idee«, dass ein Handzettel ans Erzbischöfliche Ordinariat geschickt wurde. Prompt kam der Staatsanwalt und beschlagnahmte den entsprechenden Film in der Reihe »Sexualität im Film«. Das war 1978, und der Film hieß Vase de noces. In ihm gibt es Sex mit einer echten Sau zu sehen, und der Vorwurf lautete auf »harte Pornografie« – haltlos, wie der Richter urteilte. Der einst beschlagnahmte Film lief zuletzt vor wenigen Monaten auf der Viennale-Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums. Eine Verhandlung gab es auch zu Nekromantik 2 von Jörg Buttgereit. »Das gesamte Gericht musste sich diesen Film anschauen. Und der Richter stellte fest: Nekromantik 2 ist nicht Pornografie.« So ging damals Wahrheitsfindung.
Was aber heißt es, ein Kino aus Leidenschaft zu machen? Und wie fand man die verborgenen Filme? »Filme wurden Teil unseres Lebens«, sagt Dolly. »Man las sich durch die einschlägige Literatur und kam in Kontakt mit Leuten, die mit Film zu tun hatten.« »Film as Subversive Art« von Amos Vogel war »Dauerlektüre«, erinnert sie sich, »es gab den Vorsatz, alles zu zeigen, was Vogel erwähnt.« Man hatte den »Film Comment« abonniert, u.a. wegen seiner Serie »Guilty Pleasures«, mit Beiträgen des Filmkritikers Roger Ebert und Martin Scorsese, und man las Michael Weldons »Psychotronic Video«. Zum langjährigen Freund wurde der amerikanische Filmsammler und Kurator Jack Stevenson, den Waco 1986 über die gemeinsame Vorliebe der »true crime«-Geschichten und dem »Crew«, »Death Magazine« und »Pandemonium« kennenlernte.
Viele Filmemacher stellten ihre Werke persönlich im Kino vor, und so entwickelte sich mit der Zeit ein engmaschiges internationales Kino- und Filmemacher-Netz. Teilweise wurden die Filmemacher auch zu guten Freunden, eine Trennung gibt es da manchmal gar nicht mehr. »Die Vermischung von Kino und Leben ist, was das Werkstattkino auszeichnet, wir waren alle befreundet. Dadurch kam der nächste rein«, erzählt Dolly. Der »nächste«, das ist der nächste Interims- oder bleibende Vorführer, der nächste Filmemacher, das nächste Kino einer anderen Stadt, um sich über Filme auszutauschen. Die Zeit Mitte der 80er Jahre, als die Punker aus dem Knast zurückkamen, wurde zu einer intensiven produktiven Phase unter Freunden. Hier entstanden, auf Super-8, Filme im Kino- und Freundeskreis. Vielleicht war man dem Gründungsgedanken damals am nächsten, als Filme wie Morgen (1984, von Doris Kuhn), Einsame Cowboys (1984, von Anatol Nitschke mit Romuald Karmakar, Rainald Goetz, Florian Süßmayr, Rupert Klostermeier), Seemannsbraut (1984, von Erich von Wagner, wie Waco im Credit heißt) und Couch (1985, von Anatol Nitschke mit Florian Süßmayr, Andrea Hagen, Doris Kuhn, Wolfgang Flatz, Hans Schifferle und Roland Kothlow) entstanden. Eine Zeitschrift wollte man machen, »X-Film«, die aber niemals erschien. Anatol Nitschke hat den Namen dann wiederverwertet, als er seinen Verleih gründete. Romuald Karmakar wurde Filmemacher, Hans Schifferle und Dolly Kuhn widmeten sich der Filmkritik: Das Werkstattkino war Kaderschmiede für eine ganze Generation von Filmkritikern, Kinomachern, Cineasten. Heute steht es in regem Austausch mit den wichtigen Häusern und Filmclubs von Frankfurt, Köln, Nürnberg, Hannover oder Berlin, schickt die raren und hochbegehrten 35- oder 16mm-Kopien aus seinem Archiv an die Pariser Cinémathèque oder das Österreichische Filmmuseum und bestückt immer wieder Festival-Retrospektiven. Es hat die Kinolandschaft verändert, hierzulande und international. Das ist mehr, als ein Kino sich erträumen kann.
Literatur zur Geschichte der Münchner Kinos:
– »Für ein Zehnerl ins Paradies – Münchner Kinogeschichte 1896 bis 1945«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 247 Seiten, 59 Euro
– »Neue Paradiese für Kinosüchtige – Münchner Kinogeschichte 1945 bis 2007«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 368 Seiten, 42 Euro
– »Das Münchner Film- und Kinobuch – Die Biographie
der Filmstadt München«, hg. v. Eberhard Hauff, Edition Achteinhalb, 1988, 303 Seiten, antiquarisch
– »Hollywood in Neuhausen«, Band 1: Glanz und Niedergang der Kinos im Münchner Westen, hg. Geschichtswerkstatt Neuhausen, antiquarisch
– »Hollywood in Neuhausen«, Band 2: Die Stummfilmzeit aus der Sicht eines Münchner Stadtteils, hg. Geschichtswerkstatt Neuhausen, antiquarisch
– »Nie bedeutend ...aber immer noch da – Das Arena – 100 Jahre Kino
in der Hans-Sachs-Straße 7«, von Winfried Sembdner, hg. v. Arena Filmtheater BetriebsGmbH, jezza! Verlag, 96 Seiten, 10 Euro