Cinema Moralia – Folge 133
Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien! |
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Lilith Stangenberg in Wild als »einsame, tapfere, junge Frau...« |
»Tried again, failed again,
no matter.
Try again, fail again,
fail better.«
Samuel Beckett»April is the cruellest month.«
T.S. Eliot
Anflug auf Bologna, über die Reisfelder der grünen Po-Ebene, zum ersten Mal in Bologna nach dem Tod von Eco, der als Theoretiker der Kunst (auch des Films) wohl doch von vielen unterschätzt wurde. In den Buchhandlungen überall Bücher von ihm. Ich verbringe nur gut zwei Stunden in Bologna, immerhin genug, um eine Sugo Bolognese zu essen, und denke wie beim letzten Mal, dass dies eine der schönsten Städte Italiens ist.
Eigentlich geht es weiter nach Südtirol: Das Filmfestival Bozen
zeigt unseren Film »Von Caligari zu Hitler«, und am Freitag gebe ich an der Dokumentarfilmschule »Zelig« eine »Masterclass« über meine Methode des Filmemachens, über deutsche Filmgeschichte und meinen Umgang mit ihr und über die Aktualität der Weimarer Republik.
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Das Festival ist sympathisch und hat viele deutsche Besucher. Und die Stadt ist sehr schön. Wunderschöne große alte Bürgerhäuser. Alle sind hier auf dem Fahrrad. Ein großartiger Ort, wo einem ein Mönch im Vorbeigehen »Mahlzeit« zuruft. Wie Bozen wohl ausgesehen haben mag im 19. Jahrhundert, als es noch keine Touristen gab?
Ein bisschen wirkt es hier wie in Locarno, ein bisschen sieht es aus, wie in Österreich, am Ende aber bin ich in Italien. »Sie picken sich von allen Ländern
das Beste heraus« meint Markus am Frühstückstisch. Und es entsteht die Frage: Ist dies das neue Westberlin? Anstelle der Mauer haben sie die Alpen, die werden trotz Klimawandel nicht so leicht einstürzen.
Dass wir am Ende in Italien sind, sieht man an den Mädchen auf der Straße: Diese Handbewegungen der Mädchen und Frauen beim Telefonieren, wie sie nur die Italienerinnen beherrschen. Jeder Moment ist Auftritt, die Straße die Bühne.
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Schmählicherweise hatte das ZDF Jan Böhmermanns »Schmähkritik« als erste zensiert, und sie gleich nach der Sendung aus der Mediathek gelöscht. Die Entscheidung stammt von ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler – Namenswitze wären hier jetzt wirklich fehl am Platz! –, da das Gedicht nicht den Ansprüchen, die der Sender an die Qualität von Satiresendungen stelle, entspreche.
Jetzt regt sich intern massive Kritik an Himmlers Entscheidung. Mitarbeiter des ZDF haben
einen Protest gegen die Löschung formuliert:
Sie fordern, dass Böhmermanns satirisches Gedicht wieder in die Mediathek geladen wird. Laut »Spiegel Online« ließ der Redakteursausschuss über die Hauspost einen Brief in allen Büros der ZDF-Zentrale in Mainz verteilen. In dem Schreiben heißt es angeblich: »Wir würden es begrüßen, wenn die 'Schmähkritik' vom Giftschrank wieder in Mediathek gestellt wird. Als Dokument der Zeitgeschichte.« Weiter heißt es, dass der Sender einen
großartigen Erfolg errungen habe: »Eine ZDF-Sendung erregt Regierungschefs und ersetzt ein juristisches Proseminar. Programmauftrag erfüllt«, schreibt das Gremium in dem Brief.
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»Das Recht auf Meinungs- und Kunstfreiheit ist auch eines auf Satirefreiheit« sagt Serdar Somuncu bei »Anne Will«. Somuncu hat zwar etwas merkwürdige Ansichten über Erdogan, und sollze vielleicht mal wieder das Land seiner Väter besuchen, aber er ist einer der Wenigen, die klar erklären können, worum es in diesem ganzen Böhmermann-Tsunami geht. Die Schmähkritik ist »gute Satire, denn sie deckt etwas auf«.
Durch die Metakommunikation, die Debatte und eine Erregungswelle
ohne Vorbild, bekommt Böhmermann nachträglich recht.
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In der Türkei übrigens sind 1800 Menschen wegen Beleidigung des Präsidenten angeklagt, unter anderem ein 13-jähriger Schüler.
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Wer auch seine Solidarität mit Böhmermann ausdrücken will, kann hier die entsprechende Petition unterschreiben, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, Freiheitsrechte auch gegenüber dem Ausland deutlicher zu artikulieren.
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Das liebe Publikum: von einem Radiohörer, der offenbar ein Gespräch mit mir über Wild gehört hatte, bekam ich heute eine Mail. Er schreibt mir recht kryptisch: »Im Rahmen dieser Kritik sagten Sie über Wölfe sinngemäß den Satz 'möglicherweise können sie ja denken'. Ich würde Ihnen dringend raten, über diesen Satz nochmal sehr intensiv nachzudenken – so weit Sie denken
können…«
Meine Antwort: »danke für ihre Mail! Klarerweise sagt man – Sie vielleicht nicht, aber ich – in einem Live-Gespräch auch mal einen Satz, den man, hätte man vorher darüber nachdenken können, so nicht gesagt hätte.
Für den von Ihnen angemerkten Satz, gilt das für mich aber auch nach kurzem Nachdenken nicht.
Darum wäre ich dankbar, wenn sie mir auf die Sprünge helfen könnten: Finden Sie jetzt, dass der Satz problematisch ist, weil ja eh klar ist, dass
Wölfe denken können? Oder finden Sie es umgekehrt Unsinn, den Wölfen so etwas wie Denken zuzugestehen? Beides könnte man aus Ihrer Mail herauslesen. Ich glaube, dass es eben stark darauf ankommt, was genau man unter ›Denken‹ versteht. Ich habe mit dem Wort das gemeint, was Philosophen und manche Hirnforscher als Reflektieren bezeichnen: Also Freiheit und eine Ich-Vorstellung verbunden mit der Möglichkeit zu sich selbst in Distanz zu treten und das Gegenüber als ein
›anderes Ich wie ich‹ zu verstehen. Da bin ich bei Wölfen eher skeptisch, aber ganz ausschließen kann ich es nicht, denn ich bin ja kein Wolfsforscher.«
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Das Presseheft zu Wild ist mal ein extrem tolles Presseheft geworden. Wenn es auch ganz schön viele Schreib- und Kommafehler enthält. Fast so viel wie hier im »Cinema Moralia«.
Darin sagt Regisseurin Nicolette Krebitz über ihr persönliches Thema: »Das Menschsein in unserer Gesellschaft, das Hinterfragen der Geschlechterrollen und den Kampf trotzdem Liebe zu finden. Ich habe
außerdem das Gefühl, dass sich meine Erzählweise von der vorherrschenden Erzählweise unterscheidet.« Damit hat sie unbedingt recht. Weil sich ihr Film stilistisch unterscheidet, weil er pulsiert, wo in Deutschland so enorm viel Starre vorherrscht.
Er unterscheidet sich von der vorherrschenden Erzählweise, weil sie eine Frau ist. Was Krebitz aber zu glauben scheint: »Ich glaube, dass ich eine FilmemacherIN bin, klar auf mein Geschlecht bezogen, und eine weibliche Sichtweise und
einen weiblichen Erzählrhythmus habe. Auch wenn es mir aus feministischen Gesichtspunkten nicht unbedingt gefällt, das zu sagen.«
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Krebitz spricht auch über der Postproduktion: »Ich möchte fast sagen, das war die Phase, die mich am meistern gefordert hat. Da traf ich auf Leute, die die gemeinsame Erfahrung der langen Vorbereitung und des Drehens nicht gemacht hatten und die ständig versucht haben, etwas anderes aus dem bestehenden Material zu machen. Das war natürlich schrecklich, weil eigentlich alles schon genauso war, wie ich es haben wollte. Ich musste höllisch aufpassen, jede Form von Fremddeutung zu
vermeiden. Ich hatte das Gefühl, jeder wollte mir den Gefallen tun, und den Film doch wieder in eine Richtung bringen, die einem vertraut und bekannt ist. Die Angst etwas neues auszuprobieren war wirklich spürbar.«
Man kann es sich leider nur zu gut vorstellen. All die Berater und Bedenkenträger.
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Man merkt Wild an, dass der Film ein kompromisslos persönlicher ist, dass nicht viele Köche mitgerührt haben.
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Es gibt im Presseheft auch ein Interview mit Lilith Stangenberg, das ich noch spannender fand. Denn von Nicolette Krebitz weiß ich, dass sie klug und toll ist, das Stangenberg-Interview aber hat meine Sicht auf diese Schauspielerin nochmal revidiert, nachdem das schon der Film geschafft hatte. In »Die Lügen der Sieger« hatte ich sie nicht sehr interessant gefunden, eher für eines der Probleme des Films gehalten.
Hier nun sagt sie über den Wolf: »Irre war, dass der Wolf eine
derartige Magie auf mich ausgeübt hat, wie ich sie noch bei keinem anderen Tier gespürt habe. Diese gelben Augen und der Blick, als wüsste er etwas über mich, was ich selbst gar nicht weiß. Er hatte für mich eine Aura des Unwiderstehlichen. ... Das Tolle an dem Wolf ist, wenn ich nicht direkt war oder wenn ich einen Zweifel hatte und in der Körperlichkeit uneindeutig, verkrampft war, hat er sofort angefangen, mir zu misstrauen. Dann hat es beim Drehen auch nicht mehr gut geklappt.
Deshalb hat er mich eigentlich immer zu einem ganz wahrhaftigen, offenen, ganz frontalen Spiel gezwungen. Das fand ich so besonders. Da hat er mir ein riesiges Geschenk gemacht, dass keine Hintertüren mehr offen waren. Ich musste mich ihm öffnen.«
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Über das Kino: »Das Erregende am Kino ist doch gerade, dass manchmal eine Hand auf der Fensterscheibe mehr erzählt als der größte und kräftigste Gesichtsausdruck.«
Hoffentlich lesen das viele!
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Und dann noch Sachen wie dies: »Meine Figur ist eine einsame, tapfere junge Frau, die sich in Beziehungen bewegt, die abgekühlt sind. Es sind keine richtigen Verhältnisse da, alles ist kalt und leer. Ihr Großvater stirbt, und sie ist die Einzige, die sich dafür interessiert. Eltern gibt es gar nicht, die Schwester zieht weg. Und im Beruf ist sie vollkommen unterfordert. Als dann diese Begegnung mit dem Wolf passiert, riecht sie plötzlich, was Leben bedeuten kann, so würde ich es
beschreiben. Sie begibt sich in eine lebensgefährliche Situation, als sie das Raubtier in die Wohnung holt. Im übertragenen Sinn hat mir die Figur gezeigt, wie man ausbrechen kann aus einem Leben, in dem Werte wie Sicherheit, langes gesundes Leben, Vorsorge, Bausparen und so weiter vorherrschen – man muss sich ja nur umgucken in unserer europäischen Gesellschaft.
Diese Person hat die Sehnsucht auszubrechen, sich wie eine Bombe ins eigene Leben zu werfen, sich freiwillig in
einen lebensbedrohlichen Ausnahmezustand zu begeben, Auge in Auge mit einem Raubtier. Diese Sehnsucht kann ich ganz gut nachvollziehen. Gleichzeitig habe ich diese Radikalität nicht in meinem Leben. Aber das macht die Figur so unwiderstehlich, eben weil sie diese Entscheidung trifft auszubrechen, die Karten neu zu mischen, ihre Umgebung genau so zu definieren. Es gibt nicht viele Menschen in meinem Umfeld, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Die sind ganz rar, aber immer
furchtbar attraktiv. Das war die Rolle für mich ebenfalls von Anfang an. Da ist jemand, die trifft eine Entscheidung.«
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Diese Anmerkungen, so hochinteressant sie sind, sind nicht unproblematisch, genau wie Nicolette Krebitz in vielen Interviews geführtes Plädoyer für Gefahr. Hier mal stichwortartig ein paar Gedanken: Auch wenn ich zu wissen glaube, was Krebitz meint, weiß ich nicht, ob wir im Ernst ungezähmte Menschen und ungezähmte Freiheit wollen.
Wovon handelt Wild? Vom Nicht-Identischen. Von
Freiheit. Das Nicht-Identische in ihrem Sinn ist nicht das Gespaltene, Shizoide, sondern das Offene.
Freiheit – was heißt das? Hegel unterscheidet negative und positive Freiheit. Negative Freiheit ist die »Freiheit von«, positive Freiheit die »Freiheit zu«. Die eine ist die Voraussetzung der Anderen. Negative Freiheit ist also sehr wohl ohne positive, positive Freiheit aber nicht ohne negative denkbar.
Wild entwirft eine Utopie – selten genug im Gegenwartskino. Ist das Utopische das Andere, oder ist es das Bessere? Nach Joachim C. Fest, dem Erzkonservativen, der ein bedenkenswertes, aber auch zu kritisierendes Buch über »Das Ende der Utopie« geschrieben hat: Das Perfekte. Das in Totalitarismus umschlägt, weil es auf Perfektion zielt, weil Perfektion ein totalitärer Gedanke ist.
Auch ein Ausnahmezustand? Ist die
Sehnsucht nach dem Utopischen, die sich in Filmen wie »Wild« artikuliert (in der Inszenierung der Regisseurin, aber auch in ihrer Hauptfigur) die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand?
Carl Schmitts Formel »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« ist aufs Politische und Fragen des Verfassungsrechts gemünzt. Lässt sie sich auch privatisieren und gewissermaßen existentialistisch verstehen: Ein Mensch ist, wer sich frei-setzen kann?
Diese Sehnsucht, erst
recht ihre Erfüllung, ist ein Tabu. Ist also heute das Utopische selbst ein Tabu? Ja, zumindest für das Bionade-Bürgertum und sein Leben in Vorsorge. (Das Wort Vorsorge – also eigentlich Vor-Sorge – verrät es. Man sorgt sich schon, bevor es nötig ist. Also eigentlich unnötig. Vor-nötig sozusagen.). Ania in »Wild« ist aber nicht bürgerlich, das muss man dann aber schon dazu sagen, sie ist kleinbürgerlich.
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Und sie mögen uns doch: Cannes hat sein Lineup verraten. Nach zwölf Jahren, von Wim Wenders, der kaum zählt, mal abgesehen, ist Maren Ade nun mit Toni Erdmann die erste Deutsche im Wettbewerb von Cannes. Cool! Herzlicher Glückwunsch!
Außer Ade sind unter den 20 Filmen im Wettbewerb: 4 Franzosen, die Dardennes aus Belgien und der Francokanadier Xavier Dolan, also insgesamt 6 Filme in
französischer Sprache, 5 Filme auf Englisch, aber nur zwei aus den USA. Zwei Rumänen. Und Pedro Almodóvar, über den es heftige Spekulationen gegeben hatte, nachdem er bereits vor einer Woche in den »Panama Papers« aufgetaucht war.
Mich persönlich freut und interessiert erstmal am meisten der neue Film von Olivier Assayas: Personal Shopper ist ein in der Pariser Modewelt angesiedelter
Mysterythriller. Mit dabei wie in »The Clouds of Sils-Maria«: Kristen Stewart, Lars Eidinger und Nora von Waldstätten. Super!
Dann noch die neuen Filme von Paul Verhoeven (endlich!), Park Chan-wook und von Brillante Mendoza. Kann nur gut werden.
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Im »Un Certain Regard« laufen bis auf Kore-eda Hirokazu diesmal keine große Namen. Die Japaner werden eh enttäuscht sein. Die Latinos auch. Und die Türken, die fest mit der Teilnahme von Semih Kaplanoglu gerechnet hatten. Aber möglicherweise hat ihm dessen öffentliche Erdogan-Freundschaft in Cannes geschadet.
Out of Competition: Spielberg, Jodie Fosters Regiearbeit, und Shane Black.
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Zynismus sei die falsche Reaktion auf die Panama-Papers, schreibt Nils Markwardt im »Freitag«, das nehme ich auch mal persönlich als kleine Rüge für meine kessen (Vielleicht zu kessen? Obwohl: nein doch nicht) Formulierungen letzte Woche. Sehr zu Recht verweist Markwardt auf die besondere Diskurskultur der Demokratie: »Sie braucht die Unterscheidung von Glauben und Wissen, von Vermutungen und Fakten. Wenn die Differenz zwischen gefühlter und empirischer Wahrheit für viele
unerheblich geworden ist – weil ja eh irgendwie klar sei, dass 'die da oben' sich schamlos bereichern –, hat die Demokratie ein Problem. Öffentliche Meinungsbildung braucht nämlich ... nachvollziehbare Debatten.« Ob allerdings wirklich eine so wahnsinnige Rechnerleistung dahintersteckt, wie der Autor vermutet, das möchte ich gern offenlassen. In erster Linie war da ein Whistleblower, und dessen Liste wurde dann von den Redaktionen ausgeschmückt.
Meine
Kritik galt einmal dieser Medien- und Selbstvermarktungsmaschinerie, zum anderen an Empörung und Moralisierung der öffentlichen Debatte. Es geht um Politik, also um Gesetze und deren Durchsetzung, nicht um Werte, die dann im Idealfall Gesetze und Durchsetzung überflüssig machen. Es geht nicht darum, Menschen moralisch zu therapieren und öffentliche Beichten und Bußaktionen von ihnen zu verlangen, sondern darum sie zu bestrafen. Schon der Begriff des Steuersünders führt in
die Irre – Sünde gibt es nur für Gläubige. Und es geht natürlich um Maßverhältnisse.
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Sie schrecken vor nichts zurück! Ein neuer Gipfel des Remake-Wahnsinns der offenbar ideenmäßig ausgedörrten Hollywood-Studios ist Paramounts Ansinnen, Masamune Shirows Kult-Manga Ghost in the Shell mit Schauspielern zu verfilmen. Und zwar mit Scarlett Johansson, Takeshi Kitano, Juliette Binoche, Michael Pitt und anderen. Hört sich das für alle Liebhaber des Films genauso grauenhaft an, wie für mich?
(To be continued)