20.02.2014
64. Berlinale 2014

Von Caligari zu Kosslick

Black Coal, Thin Ice
Berlinale-Gewinner
Black Coal, Thin Ice
(Foto: Fortissimo Films)

Ein Festival auf dünnem Eis: Ein Überraschungssieger beendet eine Berlinale mit manchem Licht und viel Schatten

Von Rüdiger Suchsland

Am meisten über­rascht war ganz offen­kundig der Regisseur selbst: Als Jury­prä­si­dent James Shamus am Sams­tag­abend verkün­dete, wer den Goldenen Bär gewonnen hatte und Diao Yinan, Regisseur und Dreh­buch­autor von Black Coal, Thin Ice auf die Bühne bat, schaute der sich ungläubig um, als wolle er fragen: »Bin ich gemeint? Oder hat er den falschen Zettel aus der Tasche gezogen?« Und noch als er auf der Bühne stand, schüt­telte er den Kopf und die Stimme zitterte fassungslos: »Das ist eine große Ehre für ganz China.« Dieser Preis war die größte Über­ra­schung an einem Abend, dessen Verlauf manche stirn­run­zelnd zur Kenntnis nahmen. Denn die größten Favoriten unter den Besuchern waren entweder mit Silbernen Bären gut aber nicht heraus­ra­gend bedient – wie Richard Linklater (Regiebär für Boyhood) oder der Deutsche Dietrich Brüg­ge­mann (Dreh­buch­preis gemeinsam mit seiner Schwester Anna für Kreuzweg) – oder völlig leer ausge­gangen, wie Dominik Graf (Die geliebten Schwes­tern) oder die Argen­ti­nierin Celina Murga (La tercera orilla). Statt­dessen gab es drei weitere Preise für asia­ti­sche Filme und zwei Auszeich­nungen mit denen nun niemand gerechnet hatte: Wes Anderson gewann für seine Hollywood-Komödie Grand Budapest Hotel, die die Berlinale eröffnet hatte, den Jurypreis, und ausge­rechnet der älteste Regisseur im Wett­be­werb, der 92-jährige Franzose Alain Resnais, gewann den Silbernen Bär »für einen Film, der neue Perspek­tiven eröffnet« – so als erlaube sich die Jury offenen Spott über einen Wett­be­werb, der von vielen Beob­achter aus In- und Ausland als zwar solide, aber künst­le­risch weit­ge­hend perspek­tivlos bewertet wurde.

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Dabei gehörte Black Coal, Thin Ice fraglos zu den inter­es­san­testen und besten Filmen der Auswahl. Auf der Rechnung hatten ihn trotzdem nur wenige, weil er recht »klein« und unscheinbar wirkt. Auch schien es unwahr­schein­lich, dass ein Krimi­nal­film gewinnt: Im Zentrum steht Zhang, ein Polizist, der im Jahr 1999 mit einem Mordfall zu tun hat, bei den Ermitt­lungen schwer verwundet wird, aus dem Poli­zei­dienst ausscheidet und fortan als Sicher­heits­mann arbeitet. Zeit­sprung: Im Jahr 2004 kommt es zu neuen Mord­fällen, die dem ersten ähneln. Die Spur führt zu Wu, der so hübschen wie schweig­samen Witwe des ersten Opfers. Und Zhang wird von seinen Ex-Kollegen um Hilfe gebeten. Er soll sich Wu nähern und under­cover ermitteln. Dabei verliebt er sich in die Frau, zudem wird bald klar, dass deren Ex-Mann noch lebt, und für die Morde verant­wort­lich ist. In seinem dritten Spielfilm, der vor allem des Nachts in einer grauen, ewig verschneiten Indus­trie­land­schaft im nord­chi­ne­si­schen Kohle­re­vier spielt, zitiert Diao Yinan die Mytho­logie des Film noir mit ihren klas­si­schen Figuren – dem Detektiv und der Femme fatale – und versetzt sie in das China des Hyper­booms der letzten Dekade. Unter der Hand entsteht so eine Betrach­tung über die Amoral der Moderne – wo auch im Herzen Eiszeit herrscht. Zugleich gibt es groß­ar­tige visuelle Einfälle und Bild­mo­mente: Sex in einem Riesenrad über der Neon-Metropole, ein Feuerwerk bei Tag und eine lange Eislauf­szene bei Flutlicht, dies ist das dünne Eis des Titels, das alle Figuren gefährdet.

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Auf dünnem Eis bewegt sich zunehmend auch Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Ein Rumoren ging durch die ganzen zehn Berlinale-Tage, der Überdruß vieler Besucher an Kosslicks profil­loser Auswahl war mit Händen zu greifen, die Kritiken der inlän­di­schen Presse waren schlecht, die im Ausland vernich­tend wie selten. Kriti­siert wird nicht etwa, dass es keine guten Filme gäbe, sondern dass sie einander ähneln, austauschbar wirken und die Filme, die die Kinokunst voran­bringen, seit Jahren fehlen. Im Sekti­ons­chaos der Berlinale – 11 Sektionen mit etwa 200 Filmen, Retro­spek­tive und Klassiker nicht mitge­rechnet – finden sich auch Profis nicht mehr zurecht. Die Frage, was das Panorama nun vom Forum und beide wieder von der Gene­ra­tion unter­scheidet, ist kaum einem klar. So wird es zur Glücks­sache, ob man die besten Filme sieht. Gefähr­li­cher als Presse und Publikum dürfte für Kosslick aber die Kritik der Kultur­po­litik und der Funk­ti­onäre sein: Die neue Staats­mi­nis­terin Monika Grütters hatte zur Eröffnung mit ihrer Hoffnung auf »Kritik und Ungeduld« der Künste genau das benannt, was der Berlinale unter dem selbst­zu­frie­denen Kosslick fehlt. Und das Selbstlob, er tue so viel fürs deutsche Kino hält näherer Betrach­tung nicht stand: Zehn Jahre nach Fatih Akins Goldenem Bär gab es diesmal zwar einen Neben­preis, doch zwei der vier Deutschen Filme wurden allgemein als nicht wett­be­werbs­würdig einge­stuft – und die fertigen neuen Filme von Fatih Akin, Christian Petzold und Andreas Dresen werden in Cannes laufen. Quantität ersetzt eben nicht Qualität, die reine Masse kann nicht darüber hinweg­täu­schen, dass die besten Filme seit Jahren kaum noch auf der Berlinale zu sehen sind.