66. Filmfestspiele Cannes 2013
Das grüne Licht der Croisette |
![]() |
|
Eröffnung in Cannes: The Great Gatsby | ||
(Foto: Warner Bros.) |
Eine Party von Baz Luhrmann – da wären wir schon gern zu Gast. Wenn da nur zehn Prozent von dem los ist, was er in seinen Filmen so zeigt, dann wäre es bestimmt die beste des Festivals: Überbordend, exstatisch, verrucht. Und so wie es jetzt böse wäre, zu sagen, dass Luhrmann vielleicht besser Partyveranstalter geworden wäre, als Filmemacher, so darf man umgekehrt formulieren, dass seine Filme immer ein bisschen sind, wie eine große Party. Mit einem Schuss Kindergeburtstag.
+ + +
Mit den Parties in Cannes ist es ja, im Gegensatz zu allen Vermutungen neidischer Daheimgebliebener, nicht so weit her. In diesem Jahr schon gar nicht, denn es ist bitterkalt in Cannes und regnet so wie in Hamburg in der Drei-Wetter-Taft-Werbung. Aber es hat alles hier ja erst angefangen. Den ersten schönen Empfang gab es am Donnerstag, da hatte das Festival von Locarno geladen. Im Gegensatz zum letzten Mal sogar ohne Platzregeneinlage. Bei Locarno-Empfängen trifft man immer besonders nette Menschen – gleich am Eingang hatte ich das Glück, Rebecca Zlotowski zu begegnen, der Pariser Regisseurin, deren Debüt Belle Epine vor zwei Jahren in der Sektion »Semaine de la Critique« Premiere hatte, und in Deutschland später in Hof. Im gleichen Jahr hatte ich sie in Locarno kennengelernt, und als ihr neuer Film vor ein paar Wochen für die Reihe »Un Certain Regard« angekündigt worden war, und ich Rebecca gratulierte, kam es zu einem netten SMS-Austausch. Am Sonntag hat ihr Film Premiere, und wir haben uns danach zum Gespräch verabredet.
Dann traf ich die Mitarbeiter des Korean Film Council KOFIC, und dann vor allem Argentinier: Violeta aus Buenos Aires, die immer in Cannes ist, vor ein paar Jahren mit ihrem Film den Goldenen Leopard gewann und mir Marcelo Panozzo, den neuen Direktor des BAFICI-Festivals vorstellte. Mit Argentiniern redet man immer über Fußball und zur Zeit auch immer über den neuen Papst. Der ist bekanntlich Fußballfan, und der Chef von dessen Lieblingsclub San Lorenzo ein Freund von Marcello
– beim nächsten Mal in Buenos Aires gehen wir ins Stadion. Dann beim Rausgehen standen da noch Giulia, Pressechefin des Festivals, die hier auch als Agentin für zwei Filme unterwegs ist, und Joachim Kurz von der Mannheimer Kino-Zeit. Ich musste leider schnell weiter zur Quinzaine-Eröffnung.
Bevor wir auf die kommen, aber erstmal zum Eröffnungsfilm des Festivals, zu The Great
Gatsby
+ + +
Man könnte jetzt eigentlich auch nach Saint-Raphaël fahren... Das wäre ein entspannter Urlaub. Fast wie im Grab. Vor fast genau hundert Jahren, im Jahr 1924 verbrachte dort Francis Scott Fitzgerald den Sommer. Genau gesagt in einem Dorf in der Nähe von Saint-Raphaël namens Valescure, wo Fitzgerald für sich, seine Frau Zelda und die junge Tochter ab Mai, also vor genau 99 Jahren, eine Villa gemietet hatte. Das südfranzösische Örtchen liegt etwa in der Mitte zwischen Saint-Tropez und Cannes. Noch nicht mal 30 war der amerikanische Schriftsteller, und er arbeitete dort an seinem neuen dritten Roman. Seine bisherigen drei Bücher – es gab noch eine Kurzgeschichtensammlung, die »Tales of the Jazz Age« betitelt war, und damit dem gerade begonnen Zeitalter bereits den Namen gab – waren große Erfolge gewesen, die Erwartungen entsprechend.
Statt in den Rentnersarg sind wir wieder nach Cannes gefahren, und gleichzeitig ist »The Great Gatsby«, so hieß der Roman, als er Anfang 1925 dann herauskam, an die Côte d’Azur zurückgekehrt. Vor einer Woche eröffnete seine Verfilmung durch den Australier Baz Luhrmann (Romeo + Juliet; Moulin Rouge), es ist die vierte der Filmgeschichte, die 66. Filmfestspiele von Cannes. Man kann sich das überaus gut vorstellen: Ein dekadent angehauchter Tanz auf dem Vulkan, ein romantische Traumgeschichte aus bittersüßem Liebeszauberzuckerguß, ein babylonisches Stilmischmasch, das perfekt zu diesem Festival zu passen scheint. Mit Zwanziger-Jahre-Stimmung eröffneten jedenfalls am Abend die Filmfestspiele von Cannes, das wichtigste unter den großen Filmfestivals der Welt. Die Verfilmung von »The Great Gatsby« des berühmten Romans ist zunächst einmal Glamour und Starpower pur: Leonardo Di Caprio, Tobey Maguire und Carey Mulligan sind die Stars, die dem Roten Teppich ersten festlichen Eröffnungsglanz verliehen.
Ich habe mir Gatsby in Cannes noch einmal angesehen, nachdem er bereits am Montag in einer Berliner Pressevorführung lief. Das hatte ich gemacht, weil doch fast alles in diesem Film so schnell und knallbunt und überladen ist, dass man schnell mal den Überblick verlieren kann. Ich war mir beim ersten Mal auch einfach nicht sicher, was von diesem Film zu halten sei, bin es auch immer noch nicht,
aber die doppelte Sichtung habe ich keineswegs bereut.
Es war eine sehr interessante Erfahrung, schon weil die Unterschiede riesig waren. Die Cannes-Vorführung war tausendmal besser, als die im Nachhinein unterirdisch beschhhhhh…eidene Berliner. Der Film war viel heller, die 3D-Effekte viel weniger schlierig, der Ton viel besser ausgesteuert. Das beweist schon mal, dass Cannes auch in dieser Hinsicht eine Top-Adresse ist. Es beweist aber auch, dass der deutsche Warner-Ableger
sich alles andere als einen Gefallen tut, wenn er nicht auf die Details achtet. Und zum Beispiel auch an die Presse bei einer schon lausigen Pressevorführung auch nur lausige billigst-3D-Brillen verteilt, anstatt beste Qualität.
+ + +
Überhaupt 3D! Oh wäre dieser Film doch nur nicht in 3D. Als 3D-Film ist er ein Desaster. Das Paradox eines 3D-Films als eines Films der reinen Oberfläche, in dem nur Oberflächen übereinander gelegt werden. Selbst echte Momente wirken hier kulissenhaft. Ansonsten ist er immerhin unbedingt sehenswert, aber man muss schon viel Aufwand treiben, um das 3D möglichst zu vergessen. Die deutsche Pressepolitik von Warner hat überhaupt wieder mal einen Fehler nach dem anderen gemacht. Interessant war zum Beispiel, von Violeta aus Barcelona zu hören, dass die Pressevorführungen zu The Great Gatsby in Spanien entweder in Englisch und 2D oder auf Spanisch und 3D angeboten wurden. Die guten Kritiker sahen entsprechend alle den Film in 2D. Eh besser.
+ + +
In fast schwarzweißem Stummfilm-Sepia, grobkörnig und flach sind die ersten Vorspann-Bilder, dann öffnet sich die Leinwand und es geht in die Tiefe, durch Novembernebel und Schneeflocken hindurch auf ein einsames grünes Licht zu. Die Farbe Grün ist zwielichtig und giftig, aber auch eine Farbe der Verheißung im Roman wie in dessen jetziger neuer Verfilmung. Denn Grün ist das Licht an dem Landungssteg der großzügigen Villa, in der Daisy Buchanan lebt, die Frau, der die Sehnsucht von Jay Gatsby gilt. Sie ist seine große, verlorene Liebe und er ist fest entschlossen, sie zurückzugewinnen.
+ + +
Warum nochmal mochten wir The Great Gatsby schon früher? Dies ist eine Geschichte aus jener Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Einerseits. Andererseits haben zwei Menschen gegenseitig eine Projektion voneinander. Gatsby zerstört Daisy; sie hat ihn schon zerstört, könnte man sagen. Daisy weißt nicht, was sie will, Gatsby verlangt von ihr den offenen (Liebes-)Verrat. Er will Gentleman
sein, nicht heimlich abhauen, sondern die Ehre muss halten. Ist dies also die Geschichte einer Amour Fou?
Es ist auch das Portrait eines ruchlosen Kapitalisten.
+ + +
»The Great Gatsby«, der 1925 erschienene berühmte Roman von Francis Scott Fitzgerald (1896-1940) taucht heute einigermaßen überraschend direkt neben Werken wie James Joyce’ »Ulysses«, Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« und Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« auf Listen der besten Romane des 20. Jahrhunderts auf. Der »Gatsby« ist sehr vieles auf einmal: In jedem Fall ein schillerndes Soziogramm der Roaring Twenties, des Jazz-Zeitalters der Goldenen Zwanziger, dessen Lebensgefühl er auf den Punkt bringt. Darin ist er dann zugleich eine Sozialstudie über zwei gesellschaftliche Aufsteiger in der reichen Oberklasse des Geldadels der US-Ostküste, und der USA am Anfang des amerikanischen Jahrhunderts – neben Gatsby selbst auch Nick Carraway, der Erzähler, der gewissermaßen immer außen vor bleibt, die Beobachter-Perspektive behält. Der Aufstieg scheitert, altes Geld siegt über neues und statt einen American Dream zu erleben, wird man Zeuge eines Alptraums. Romantisches Glück zerbricht an den Mechanismen der Leistungsgesellschaft. Das ist sehr amerikanisch, und sehr konservativ zugleich in seiner Moral, in der der brave Westen gegen den verdorbenen Osten Amerikas ausgespielt wird. Man könnte daraus offenkundig nun auch einen Film über das heutige Geld machen, über die Finanzkrise und die Obszönität ihrer Gewinner. Oder über die letzte Party ihrer Verlierer – dann wäre Gatsby ein Untergangsroman über das Ende der alten Welt, the coloured empires, über die Daisy, die triste Siegerin am Ende spricht.
Dazu würde auch die Melancholie des Stoffes passen: »Gatsby« kann verstanden werden als reine Phantasie, als Tagtraum des Erzählers, der sich ähnlich hineinträumt in die Welt der Reichen und Glücklichen, Jungen und Schönen, wie Gatsby sein Leben mit Daisy phantasiert. Der Roman als eine doppelt verschränkte Tagtraumstudie. Zugleich aber ist er ganz eine romantische Sehnsuchtsgeschichte, der Entwurf eines Gegenbildes zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Liebe gegen die Welt. Dieser Welt allerdings mag »Gatsby« trotz allem nicht entsagen – das kann er nicht, sagt die konservative Lesart. Statt der blauen Blume ist er jenem grünen Licht verfallen, das giftig über die Long Island Bay leuchtet. Darin klingt auch noch der Ästhetizismus der Jahrhundertwende nach, die künstlichen Paradiese von Joris Huysmans und Oscar Wilde. Zugleich war der Roman aber bereits zu seiner Zeit ein Abbild des Materialismus der neuen Ära. Gatsby war der Neue Mensch des Kapitals: Äußerlich ein Sohn Gottes, mit Reichtümern überhäuft, doch innerlich leer und geschichtslos. Er hat einfach die Weisheit des Zeitalters begriffen: Wer Erfolg haben will, muss sich als Erfolgsmensch inszenieren. Und im Übrigen, auch das ist bezeichnend und erlaubt eine »linke« Lektüre des Buchs, ist er natürlich sozial ein Kind des organisierten Verbrechens, ein Profiteur der Prohibition und dabei abhängig von den schweren Jungs in Chicago und Philadelphia, die ihn zu unpassendsten Zeiten anrufen.
+ + +
Die Frage an jede »Gatsby«-Verfilmung darf also nicht lauten: Was ist Gatsby? Sondern: Was ist dieser Gatsby? Viermal wurde das Buch bereits verfilmt. Und jede dieser jeweils grob alle 30 Jahre erschienenen Verfilmungen ist auch ein typisches Zeitprodukt: Der Stummfilm von 1926 ist eines der berühmtesten »verschollenen« Werke der Filmgeschichte. Die große Studioverfilmung von 1949 ist brav und vergessen, ganz anders als Jack Clayton Film von 1974, der im Untergang des Gatsby auch den von Hollywoods großen Jahren spiegelt. Zugleich zeigt er mit Robert Redford und Mia Farrow zwei Stars des New Hollywood. Dies war eine gewissermaßen existentialistische Darstellung eines Gatsby als »Gleichgültigen«, »Fremden«, einen todessehnsüchtigen Sisyphus des Kapitals, dessen Ennui alles andere übermannt.
+ + +
Auch die neueste Verfilmung durch den Australier Baz Luhrman, mit der am Mittwoch jetzt die 66. Ausgabe der Filmfestspiele eröffnet wurde, dürfte in 30 Jahren als typisches Zeitprodukt erscheinen: Ein gewissermaßen anti-existentialistischer Gegenentwurf – einerseits glamouröses Starkino pur – Leonardo Di Caprio, Tobey Maguire und Carey Mulligan spielen die Hauptrollen – andererseits ein innerlich kaltes, formal überhitztes Stilfeuerwerk, das von allem etwas zuviel bietet, und deswegen den Exzess der Menschen, um die es hier geht, blendet darstellt. Regisseur Luhrmann passt perfekt zu diesem Roman. Denn er ist ein Formkünstler mit einem eigenwilligen Stil von neobarocker Opulenz. Und äußerlich greift er hier in die Vollen: George Gershwins »Rhapsody in Blue« ertönt vor blauem Himmel zu einer grell-kunterbunten Party – dann tritt sein Gatsby erstmals auf. Luhrmanns Gatsby ist ein babylonisches Stilmischmasch, ein dekadent angehauchter Tanz auf dem Vulkan, der aussieht, als hätte Hieronymus Bosch nicht an Gott, Teufel und die Hölle geglaubt, sondern ein Wimmelbild aus dem Hier und Jetzt gemalt.
+ + +
Ein bisschen hohl tönt es allerdings zwischendurch schon, denn hinter all den mitunter comichaft überbetonten, grotesken Effekten, verschwindet das romantische Traumspiel, der bittersüße Liebeszauberzuckerguß, verschwinden Ernst und Melancholie dieser Geschichte, die doch eigentlich verblüffend aktuell sein könnte in ihrer Weltuntergangsstimmung. Auch Tobey Maguire als Erzähler Nick Carraway erscheint als krasse Fehlbesetzung: Dieser ewig Naive grinst sich durch den
Film, lässt einen dauernd an Spider-Man in den Zwanziger Jahren denken und verstärkt noch den Eindruck, Gatsby als Comic zu sehen.
Dafür überzeugen Carey Mulligan als Sehnsuchtsgirl Daisy und Leonardo DiCaprio, dessen Gatsby ein Getriebener ist, und auch ein trauriges Genie des Hedonismus, darin seinem Auftritt als Aviator-Multimillionär Howard Hughes recht ähnlich. Vor allem aber ist er ein Wütender, der von seinem Zorn, der zwar eine Todsünde ist, aber immerhin auch eine Leidenschaft, schließlich übermannt wird. Der Zorn reißt ihn und andere in den Abgrund.
+ + +
So halten Licht und Schatten sich die Waage. New York City erscheint in alten Bildern und Farbe und 3D. Allerdings kommt man gar nicht richtig dazu, all die Schauwerte anzugucken, denn in punkto 3D ist dieser Film wieder ein klarer Rückschritt gegenüber Martin Scorseses Hugo Cabret – gerade der Raumeffekt lässt hier alles um so flächiger wirken und die Schlieren der Kameraschwenks
in 3D hindern das Auge immer wieder daran, sich in den Bildern zu verlieren.
Mehr als aufgewogen wird dies durch den Soundtrack, Lana del Rays »Young & Beautiful« dürfte das prominenteste Stück sein, daneben bietet Luhrmann alles auf, was gut und teuer ist, und nagelt jedes Bild mit Bombastklängen zwischen Disco und Classic – im Einzelnen oft eine Geschmacklosigkeit, wie sie einem zuletzt in den 80er Jahren begegnete, im Ganzen dann in seiner Chuzpe aber wieder Camp. So ist
The Great Gatsby der Film zum Soundtrack.
+ + +
Warum aber Luhrmann? Was will Luhrmann mit Gatsby? Der Film ist ein Kaleidoskop. Mit jedem Blick auf ihn wechselt er sein Gesicht. Vom »caleidoscopic carneval« ist selbst die Rede, und das findet sich nicht im Manuskript. Bis zum Ende wird nicht klar, ob dies nun alles im Grunde als Komödie gedacht ist, oder doch ernst gemeint sein soll? Großartig ist die inherente, also in der Form nicht der
Geschichte (über die man wie gesagt streiten kann) manifestierte Romantik des Films.
Die Liebe zu Oberflächen, zu Gegenwärtigkeit, zum Hedonismus macht Luhrmann wohl so nur Sofia Coppola nach – die sogar noch etwas besser. Il faut etre absolument moderne…
Einmal ist von Gatsbys »perfect, irresistable imagination« die Rede. Das ist es: Imagination! Indem der Film sie feiert, die Macht der Überschreitung, feiert er auch die Kunst und das Kino.
+ + +
Auch am Abend ging es so weiter. Wir trafen uns in internationaler Runde zu einer sehr guten Fischsuppe, die unserem alten Freund und Kupferstecher Giuseppe Rapido zu verdanken ist, der latent hysterisch auf diesem und keinem anderen Gericht bestand. Das Entrecôte, das folgte, taugte dann weniger. Vor allem trafen wir uns um vor dem Sturm die Ruhe zu genießen, und ein wenig darüber zu reden, was uns so im Kopf herumschwirrt. Keiner kennt ja jetzt irgendeinen Film, es herrscht also
Chancengleichheit. Von der Papierform der Teilnehmer urteilend, gibt es in diesem Jahr keinen eindeutigen Favoriten. Natürlich überlegt man sich, wem man einen starken Film zutraut, wem einen mehrheitsfähigen, man überlegt, wer auf dem absteigenden Ast, und wer »schon längst fällig« ist; man versucht davon abzusehen, was man persönlich mag, wem man große Preise wünscht, oder wer sie einfach schon lange verdient hätte. Vor allem versucht man sich vorzustellen, wie wohl eine Jury
entscheidet, der Steven Spielberg vorsteht, in der dann Ang Lee sitzt – der 2009 in Venedig allen Ernstes Soul Kitchen einen Regie-Oscar und Lebanon einen Goldenen Löwen gegeben, Brilante Mendozas Lola und Lourdes von Jessica Hausner dagegen komplett ignoriert hatte –; und der Rumäne Christi Mungiu (»gähn«), aber auch Nicole Kidman und Christoph Waltz, der laut spezieller Informationen von Dominik aus Wien dafür bekannt ist, alles Mögliche im Kino zu kennen.
»Eine konservative Jury« – da waren wir uns einig.
Zu
meiner Überraschung gab es dann doch einen Favoriten: Asghar Farhadi, bekannter, hervorragender, aber eigentlich nicht richtig innovativer Iraner gewinnt die Goldene Palme. Jedenfalls, wenn man Guiseppe Rapido, unserem DLF-Redakteur Christoph und Nil aus Istanbul folgt. Zweimal wurde auf Hirokazu Kore-eda getippt. God knows, why. Dana aus Amsterdam zog sich damit aus der Affaire, dass sie sich auf ihrem Landsmann Alex van Wamerdam konzentrierte, was noch nicht mal ihre Kollegen Ronald
und Kees glauben. Mein Tip: Alexander Payne, weil der einer ist, auf den man sich einigen kann. Desplechin würde ich mir am meisten wünschen, den anderen Arnaud, Des Pallieres, nicht weniger, und das nicht nur wegen Kleist. Aber Wünsche werden ja meist nicht wahr. Spielberg, wie ich ihn einschätze, könnte auch für Polanski gut sein. Violeta aus Barcelona findet das auch.
+ + +
Warten wir es ab. Das Gespräch kam dann auf Angelinas Brüste und war von Erstaunen dominiert: Mein persönlicher Eindruck. Männer distanziert, Frauen eher getroffen. Ein Mail-Kommentar aus Deutschland: »Die Jolie neigt doch eh zur Autoaggression... Jetzt hat sie es auf eine unvorstellbare wahnsinnige Spitze getrieben...« gibt mir zu denken. Es kann einen gruseln ob der Jolie.
+ + +
The Great Gatsby ist also allemal so oder so ein passender Eröffnungsfilm, weil er alle Facetten vereint, die an den kommenden zwölf Tagen diesen Treffpunkt des Weltkinos beschäftigen dürften. Wie von Cannes gewohnt, hat man einmal mehr die Crème de la Crème der Filmszene für Weltpremieren an der südfranzösischen Riviera gewinnen können: Cannes ist einerseits Geschäft pur – Appartements während des ganzen Festivals kosten hier von 2000 Euro aufwärts, ein deutscher Verleih muss tausende von Euros bezahlen, um bei Rechtehändlern Interviewzeit für deutsche Journalisten zu reservieren – aber Cannes ist auch Hardcore-Kunstfilm, ästhetische Innovation und eine große Show, in der das Kino sich selbst feiert.
+ + +
»Ich erinnere mich, dass ich eines Nachmittags im Taxi fuhr, zwischen sehr hohen Gebäuden, unter einem malven- und rosafarbenen Himmel; und ich begann zu schreien, weil ich alles hatte, was ich wollte, und wusste, dass ich nie mehr so glücklich sein würde«, schrieb Francis Scott Fitzgerald 1932 im Rückblick auf sein Jahrzehnt. So geht es uns hier in Cannes. Wir sind, alle, dem Untergang geweiht. Diese Party wird die letzte sein.