19.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Gewalt­es­ka­la­tionen, Einbrüche, soziale Konflikte und einmal Ster­be­hilfe

Miele
Herausragend:
Miele von Valerie Golino
(Foto: BiM Distribuzione)

Filme von Jia Zhangke, Sofia Coppola, Ryan Coogler und Valerie Golino

Von Dieter Wieczorek

So richtig rund läuft das Festival selbst am zweiten Tag wirklich nicht. Nach den Gewalt- und Folte­res­ka­la­tionen des in mexi­ka­ni­schen Mafia­mi­lieu spie­lenden Heli Amat Escalantes, der mehr zum Wegschauen einlud und die Frage nach der Berech­ti­gung dieser Sequenzen ausser­halb einer rein doku­men­ta­ri­schen Funktion aufwirft, perp­etu­iert auch der zweite Spieltag mit seinem Wett­be­werbs­film Tian zhu ding von Jia Zhangke (China) das Gewalt­pan­orama. Er bietet das schlicht katha­si­sche Muster von »Ein Mann sieht rot«. Gewiss wird man sich in der zeit­genös­si­schen chine­si­schen Gesell­schaft über den Mangel an Ausbeu­tung, Unter­wer­fung, Degra­die­rungen und Bestechung nicht beklagen könnten. Zhangke setzt hier einen Mann in Szene, der sich mit einem Schrott­ge­wehr als Einzel­gänger zur Wehr setzt und all die ohne großen Dialog­be­darf nieder­mäht, die die verarmten Minen­ar­beiter ihrer Über­le­bens­mög­lich­keiten berauben. Gleich mit auf die Abschuss­liste kommen all die Neben­fi­guren, die nicht mehr als bloße Mario­netten der Macht sind oder selbst nur zynische Beisteher. Auch ein brutaler Pfer­de­schinder, der sein Tier mit der Peitsche blutig schlägt, wird mit beseitigt.

Weitere Gewalt­ein­zel­gänger treten auf. Eine junge Frau, von Männern in einer Sauna sexuell atta­ckiert, greift zum Messer und schafft sich Freiraum. Gewalt als Antwort auf gene­ra­li­sierte perma­nente Entwür­di­gung. Kündigt sich hier eine wirkliche Revolte in China an? Für die planetare Arbeits­welt­si­tua­tion, in der Chinas Erfolg der Miss­ach­tung mini­malster Sozial- und Menschen­rechte geschuldet ist, wäre dies ein Hoff­nungs­schimmer. Doch insze­niert als eine lediglich affektive, private Rache­ak­tion unter Druck liefert der Film nur einen bloss imagi­na­tiven und imaginären Befrei­ungs­schlag (gegen Kassen­zah­lung), der in der virtu­ellen Kinowelt verklingt.

Sofia Coppolas (USA) neues Werk The Bling Ring wurde gleich in die Nebensek­tion Un Certain Regard verschoben. Eine Gruppe Teenager, allesamt gut infor­miert über Stars, Mode­schauen und Luxus­ar­tikel, entdecken die Leich­tig­keit, in die allesamt scheinbar unbe­wachten Villen einzu­dringen und sich dort frei zu bedienen. Der obszöne Reichtum, der sich dort angehäuft hat, schafft einige surrealer Bilder. Die Kids stammen allesamt aus wohl­behü­teten, religiös pitto­resken und wohl­ha­benden Familien, wo Erziehung mit Schrift­ta­feln prak­ti­ziert wird. Coppolas Film insis­tiert darauf, auf Tatsachen aufzu­ruhen. Trotzdem bleibt schwer vers­tänd­lich, wie selbst wieder­holte Einbrüche in die gleichen Villen möglich sind, als ob Alarm­an­lagen noch nicht erfunden seien und einige Türen der allesamt unbe­wachten Häuser auch noch permanent offen stehen. Erfahren tut man über die schlichten Gemüter der gutge­launt Steh­lenden wenig. Inter­es­sant wäre auch gewesen, wie sie die zum Teil erheb­li­chen Summen von mehreren Hundert­tau­send Dollars je zurück­zahlen konnten. Ihre Selbst­kom­men­tare beschränken sich auf das Niveau von Selbst­sti­li­sie­rungen und Star­al­lüren, mit nur einer kleinen kriti­schen Reflek­tion: die Ameri­kaner lieben halt das Bonnie-und-Clyde Modell.

Fruitvale Station von Ryan Coogler, ebenfalls in Un Certain Regard präsen­tiert, legt den Akzent auf einen wunden Punkt der US-ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft. Die anhal­tende miss­ach­tende Behand­lung von Farbigen in sozialen Konflikten, die in kriti­schen Situa­tionen die Form purer Gewalt annimmt. Cooglers Film ist drei­ge­teilt. Im ersten Teil ringt ein junger, recht unbän­diger farbiger Mann nach seinem Gefäng­nis­auf­ent­halt um seine Reinte­gra­tion in die Norma­lität. Kleine Unper­fek­tionen kosten ihn aller­dings seinen Job und bringen ihn in Konflikt mit seiner Frau und Mutter. Der zweite Teil zeigt ihn als liebe­vollen, verspielten, enga­gierten Fami­li­en­vater, als Anwärter auf ein bürger­li­ches, glück­li­ches Leben, umsäumt von Familie und Freunden. Im dritte, zwei­fellos wich­tigste Teil ist ein einziges Showdown. In der Metro wird er am Neujahstag von einem einstigen Mithäft­ling provo­ziert, in eine Schlä­gerei verwi­ckelt und anschließend durch einen massiven und völlig über­zo­genen Poli­zei­ein­satz „verse­hent­lich“ erschlossen. Die Poli­zisten sind allesamt charak­te­ri­siert durch rassis­ti­sches Agieren und unge­hemmte Aggres­sionen. Leider verbraucht das Werk in seinen ersten beiden Teilen zu viel Anlauf­zeit. Das finale, über­zeu­gend ins Bild gebrachte Sujet macht den Film jedoch sehens­wert. Das US-ameri­ka­ni­sche Schlüs­sel­fes­tival Sundance ehrte den Film mit dem Publikums- und Jurypreis.

Ein kleiner Höhepunkt ist dennoch zu erwähnen. Der italie­ni­sche Film Miele von Valerie Golino greift das Thema der aktiven Ster­be­hilfe auf. Eine junge Frau stellt Mittel und Medi­ka­mente bereit, um Todkranken und Todes­wil­ligen den letzten Schritt zu erleich­tern. Golinos Film gewinnt seine Stärke durch eindring­liche Szenen, die klar machen, was es heißt, einem Todge­weihten in den letzten Momenten beizu­stehen. Die Helferin gerät in eine Gewis­sens­krise, als ein gesunder, bril­lanter älterer Mann aus reiner Lebens­mü­dig­keit ihren Service anfordert. Es wäre kein italie­ni­scher Film, wenn hier nicht die Chance einer sehr starken emotio­nalen Anziehung genutzt würde, die fast zur Liebes­ge­schichte sich trans­for­miert. Doch Golino gelingt es, die Waage zu halten. Sie arbeitet mit über­zeu­genden, geist­rei­chen Dialogen und Refle­xionen, mehr als das, mit immer wieder eindring­li­chen Szenen und Einstel­lungen, die Miele als heraus­ra­genden Film des Tages in den Haupt­reihen erscheinen lassen.