28.02.2013
63. Berlinale 2013

Kunst kommt von Machen

Side Effects
Side Effects: einfach Kunst
(Foto: Senator Film Verleih GmbH / Central Film Verleih GmbH)

Kunstverdacht, Pornosucht, gewollte und ungewollte Entblößungen und echte Kunstfertigkeit: Eine Rückschau auf die Berlinale 2013

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

»Ever­y­thing has to be made. And it needs to be made by someone.« Nichts ist in der Welt, was nicht zuvor von jemandem gemacht wurde. So heißt es in Maladies – einem Film, der genau dieses Prinzip selbst schön illus­triert: Kunst will erst einmal gemacht sein, bevor man sich Gedanken darüber macht. Wie dieses Urteil letztlich ausfällt, sollte für den Herstel­lungs­prozeß vorerst irrele­vant sein.
Wir können nicht ehrlich behaupten, dass wir Maladies im engeren Sinne verstanden hätten – aber wir haben uns letztlich doch darüber gefreut. Catherine Keener und James Franco spielen quasi Versionen von sich selbst, die in New York (oder ist es Kali­for­nien?) über Kunst und Träume reden, versuchen Kunst zu machen, und mit ihren Eigen­arten zu Rande zu kommen. Der Autor und Regisseur »Carter« – schon durch seinen Verzicht auf einen Vor- oder Nachnamen unter akutem Kunst­ver­dacht – spielt nicht mit, er stellt sich statt dessen mittels des Films selbst dar. Zugegeben, alles eher surreal-verquast, vieles eher Selbst­ge­spräch der Stimmen im Kopf des Filme­ma­chers als Dialog mit dem Publikum. Aber über weite Strecken zieht er einen doch in seinen Gedan­ken­fluss.

Er ist eine dieser flüch­tigen Begeg­nungen mit einer fremden Persön­lich­keit, ein Einblick in das, was sie umtreibt. Wie weit verbreitet der Ausdrucks­drang der Menschen ist, wird einem auf Film­festen erst recht wieder bewusst. Diese Hoffnung, jemanden zu finden, der einem zuhört, erfüllt sich dort oft selbst für den Verschro­bendsten. Auch wenn dem Werk nur eine Handvoll Vers­tändnis entge­gen­bringt.

Joseph Gordon-Levitt rät, einfach die eigene Kunst zu machen, ohne lange zu zaudern und in Selbst­zwei­feln zu verharren. Diese Einstel­lung merkt man an seinem persön­li­chen Sprung ins kalte Wasser: Don Jon’s Addiction, bei dem der Schau­spieler zum ersten Mal selbst Regie geführt und das Drehbuch geschrieben hat. Obwohl er sich kein ganz einfaches Thema gewählt hat, geht er es mit einer ange­nehmen Unver­krampft­heit an: Nicht nur um Porno­sucht geht es, sondern wie Medien generell das Leben und Verhalten von Menschen prägen. Der Film lässt den Enthu­si­asmus Gordon-Levitts spüren, er ist kurz­weilig, aber nicht dumm.
Es herrscht bei ihm nicht so ein Miss­ver­hältnis zwischen Anspruch und Resultat wie bei den zahllosen »Kunst­pro­jekten« James Francos. Der ist ein Meister des Konzepts und der Geld­be­schaf­fung. Aber sobald es an die tatsäch­liche Gestal­tung und Durch­drin­gung geht, scheint sein Interesse bereits längst wieder von der nächsten Idee verein­nahmt zu sein.

Interior. Leather Bar wurde als Expe­ri­ment angekün­digt, die verschol­lenen 40 Minuten aus William Friedkins Cruising zu rekon­stru­ieren. Geschnitten wurden damals Szenen, die zu explizit das Geschehen in einer schwulen Lederbar zeigten.
Als Ender­gebnis wird ein Misch­masch präsen­tiert aus vorbe­rei­teten State­ments Francos, die ihn reflek­tiert wirken lassen sollen, gestellten Gesprächen sowohl homo-, als auch hete­ro­se­xu­eller Männer über persön­liche Grenzen, insze­nierten Entblößungen von Vorur­teilen, und trotz des ursprüng­li­chen Ziels des Projekts über­flüssig wirkenden Sexszenen.
Die Mitwir­kenden äußern vor der Kamera ihre Verwirrt­heit ob des tieferen Sinns der Übung, beteuern aber erschreckt sofort ihr Vertrauen in James Francos »Vision«. Dem Publikum bleibt nicht anderes übrig, es dem Filmteam gleich zu tun. Bis es sich nach dem Film einge­stehen muss, dass das Gesehene mehr Leere als Lehre bietet. Und der eine, der es und sich erklären sollte, lässt alle im Stich. Zuletzt hält selbst der große und mächtige Franco nurmehr seine Kamera auf die Versuchs­teil­nehmer, und scheint ebenfalls seine Beweg­gründe vergessen zu haben. Er zog Leute aus, um die berüch­tigte Homo­phobie von Cruising zu dekon­stru­ieren. Und kann doch nur mit eigenen Klischees kontern.

Man hat das Gefühl, dass man James Franco mit Kritik gar nicht dingfest machen kann, da er bereits zu zig anderen Projekten weiter­ge­flirrt ist.
Für die, die sich mit ihren einzelnen Arbeiten verbun­dener fühlen, gibt unter­schied­liche Arten, damit umzugehen, wenn die Kunst ihr Publikum nicht auf die gewünschte Weise erreicht.
Wer anerkennt, dass es einfach nicht allen gefallen kann, wer ein vernünf­tiges Maß an Selbst­zwei­feln, aber auch den Wert seiner Leistung kennt, kann souver­äner auf die Meinung anderer reagieren. Siehe etwa: Jude Law bei der Pres­se­kon­fe­renz zu dem Psycho­phar­maka-Thriller Side Effects. Der auf die Vorhal­tungen einer Jour­na­listin, seine Figur handele nicht glaub­würdig, sich mit einem einfachen, char­manten »Sorry!« entschul­digte. (Side Effects ist Soder­berghs durchaus gelun­gener Versuch, etwas »Einfaches«, Gerad­li­niges zu drehen, das sich die Kunst­fer­tig­keit dahinter nicht anmerken lässt. Der Regisseur scheint seine Lust am Spiel mit dem Medium wieder­ent­deckt zu haben. Nachdem er seit einiger Zeit sein frei­wil­liges Karrie­rende verkündet, sprach er in Berlin plötzlich nur noch von einer »Pause – wie lange sie auch dauern mag«.)
Oder auch Matt Damon, der von sich aus das schwache Einspie­ler­genis und die mauen Kritiken seines Herz­blut­films Promised Land ansprach. Auf die Frage, wie er die Balance zwischen Fakten, Fiktion und Drama hinbe­kommen habe, antwor­tete er lakonisch: »Not very well, appar­ently.«
Und dann gibt es die, die bei allem Erfolg mit sich selbst hadern und alle Kritik als persön­li­chen Angriff verstehen. Bei Til Schweiger hat man den Eindruck, dass kein Maß an Aner­ken­nung und Einspiel­ergebnis je groß genug sein kann, dass er sich nicht ungeliebt, unver­standen und ungerecht behandelt fühlte. Die Pres­se­kon­fe­renz zu The Necessary Death of Charlie Coun­tryman verlief ohnehin noch deutlich höflicher, als die Reak­tionen nach der Vorfüh­rung des Films erwarten ließen. Als die berech­tigte und harmlose Frage fiel, warum ein erfolg­rei­cher Schau­spieler wie Schweiger sich für die Rolle eines solch eindi­men­sio­nalen, klischee­haften Schurken hergebe, wirkte er sichtlich einge­schnappt. Es drängt sich bei ihm das Gefühl auf, dass er mehr als andere Kunst haupt­säch­lich macht, um geliebt zu werden.

Worauf man bei jedem Festival wartet, ist die eine, große filmische Über­ra­schung. Dieser eine Film, dessen Existenz einem trotz geflis­sent­li­chem Studium des Programm­hefts entgangen ist. Dessen Titel sich nur im Lauf der Tage immer vernehm­barer aus dem Raunen der Kollegen schält. Nur weil so beharr­lich geschwärmt wird, gönnt man dem Geheim­tipp das letzte freie Plätzchen im privaten Festi­val­fahr­plan. Und plötzlich will man nie Zweifel daran gehabt haben, dass eine 4 1/2 stündige Doku­men­ta­tion über einen Usbeken, der mit seiner Schaf­herde die Odyssee insze­niert, die erhoffte, berüh­rende cine­as­ti­sche Offen­ba­rung ist.
Dieses Mal haben wir so konzen­triert auf das Flüstern gelauscht, dass wir das Brüllen ausge­blendet haben, das uns die dies­jäh­rige Über­ra­schung mit verzwei­felter Aufdring­lich­keit ankün­digen wollte.
Die omni­prä­sent ange­kleis­terten Plakate haben wir noch ignoriert, bis sie ange­fangen haben, uns Tag und Nacht auch noch als Motor­ko­lonnen zu umkreisen und verfolgen. Und dann waren sie uns nur Anlass, uns über ihre Ästhetik zu mokieren – und nach fort­ge­setzter Beläs­ti­gung auch noch durch den Trailer andert­halb Wochen in sicherster Über­zeu­gung und höchsten Tönen über diesen offen­sicht­lich grau­en­vollen Film zu lästern.
Am vorletzten Tag der Berlinale hatten wir dann keinerlei Hoffnung mehr, noch unseren usbe­ki­schen Schaf­hirten für dieses Festival anzu­treffen. Das Reservoir an möglichen Kandi­daten schien definitiv erschöpft. Was wir hatten, war eine filmgroße Lücke im Zeitplan. Und nichts mehr anderes sie zu füllen, als obige Unsäg­lich­keit. Wenigs­tens einen munteren Verriss würde sie schon hergeben.
Wie sollten wir denn ahnen, dass die Über­ra­schung wirklich uner­wartet kommen würde?! Dass sie die Gestalt eines Hollywood-Compu­ter­ani­ma­ti­ons­films von Dream­works annehmen würde, über eine Stein­zeit­fa­milie inklusive lustigem Äffchen und frechem Baby. (Und wir hassen lustige Äffchen und freche Babys!)
Ein Indiz – hätten wir es mitbe­kommen – hätte sein können, dass John Cleese am Drehbuch mitge­ar­beitet hat. Aber selbst dann hätten wir nicht gedacht, dass wir derart laut und inbrünstig mit – und nicht über – den Film lachen würden. Obwohl wir uns bis zuletzt mit dem Design nicht anfreunden konnten, lehrte uns The Croods: Timing schlägt Ästhetik.
Und sogar die Furcht vor der genreüb­li­chen mora­li­schen Botschaft erwies sich als unbe­gründet: The Croods verzichtet nicht auf sie, aber sie ist akzep­ta­bler als gewöhn­lich (»Keine Angst vor Verän­de­rung!«) und wird einem nicht mit der Keule einge­bläut.
Womit wir aber vollends nicht gerechnet hätten: Jenseits von Gags und Charak­ter­komik bietet der Film einige Momente von Größe.
Als der Höhlen­fa­mi­li­en­vater von Frau und Kindern getrennt wird, beschwört er ihre Gegenwart mittels Höhlen­ma­lerei herbei – es ist das erste Mal, dass er Kunst nicht als mahnende Lektion benutzt, sondern als Möglich­keit zur Tran­szen­denz.

Wenn man der Kunst irgend­eine Freiheit lässt, wird sie sie nutzen. Jafar Panahi wurde im Iran mit Berufs­verbot und Haus­ar­rest belegt. Seither hat er zwei Filme fertig­ge­stellt und auf Festivals geschmug­gelt. Das bewun­derns­werte Kunst­stück an Pardé, seinem Beitrag im Berlinale-Wett­be­werb, ist dessen Existenz. Er ist den Umständen abge­trotzt – aber auch durch sie bedingt. Panahi hat nicht einen ohnehin anste­henden Stoff den verengten Bedin­gungen angepasst. Er hat seine quälende Situation zum Thema gemacht.
Er lässt verschie­dene Figuren, die Aspekte seines Selbst verkör­pern, einge­sperrt in seiner Villa im Wider­streit aufein­an­der­treffen.
Pardon, Pardé, aber man täte Panahis Vermögen als Regisseur unrecht, wenn man den Film aus pflicht­schul­diger Soli­da­rität als seinen früheren Filmen eben­bür­tiges Meis­ter­werk loben würde. Und gleich­zeitig würde man damit die Einschrän­kungen durch das Regime klein­reden.
Mit dem Dreh­buch­preis hat die Jury die ange­mes­senste Lösung gefunden für die etwas unfaire Aufgabe, den in Konkur­renz laufenden Film aus poli­ti­schen Gründen ja kaum ohne Auszeich­nung heim­schi­cken zu können – ihn aber nicht aus Mitleid verdien­teren Filmen vorzu­ziehen. Man kann dies als Aner­ken­nung für Panahis Leistung verstehen, eine drama­tur­gi­sche Form für sein Dilemma gefunden zu haben. Und was bliebe ihm auch anderes übrig als die Ausein­an­der­set­zung mit sich und seiner gewaltsam redu­zierten Welt?

Auch bei Maladies war zu spüren, wie stark die Perso­nal­union von Regisseur, Charak­teren, Film ist. Die Titel­figur von Frances Ha würde sich in der Welt von Maladies wohl auch heimisch fühlen. Aber sie lebt nicht in dessen nie genau loka­li­sier­barem Ort. Frances Ha ist in Kapitel unter­teilt, die als Über­schriften stets konkrete Adressen haben. Sie muss sich in einer Welt behaupten, die nicht nur um Ausdrucks­wege suchende Künstler in ihrer Blase kreist. Frances ist angehende Tänzerin in New York – aber tapst unbe­holfen durch alle Bereiche ihres Lebens.
Maladies steckt tief in der Situation, die er zeigt, während Frances Ha eine ähnliche Situation mit vers­tänd­nis­vollem Abstand beob­achtet. Para­do­xer­weise steht man als Zuschauer genau deswegen bei Maladies mehr außen vor, während man sich Frances auf ihrem Weg nahe und verbunden fühlt. Zumal der Film so charmant, zärtlich, präzise humorvoll, beglü­ckend, schwe­relos daher­kommt. Noah Baumbach und Greta Gerwig, das Team hinter Frances Ha, scheinen ähnliche Erfah­rungen mitge­nommen zu haben – aber auch hinter sich gelassen zu haben. Ihr Blick auf diese kompli­zierte Lebens­phase ist nicht verklärt, aber auch nicht lieblos.
Sie nennen es einen »Road movie that doesn’t go anywhere« – dessen Heldin am Ende dennoch ankommt. Zum ersten Mal findet sie einen Ort, der allein ihrer ist.
Auch wenn sie einen Teil ihrer Identität an der Tür zurück lassen muss, ist der Kompro­miss kein Verlust.
Ihr Bedürfnis Kunst zu machen hat nur eine andere Form ange­nommen als gedacht.