12.07.2012

Die Filmfest-Fünfzehn

Holy Motors von Leo Carax
Zielt direkt ins Unterbewusste:
Holy Motors von Leo Carax
(Foto: Arsenal Filmverleih GmbH)

Höhe- und Tiefpunkte des Filmfests München 2012 in 15 Szenen

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

10 High­lights

Strutter
Brett stürmt wutent­brannt in den Plat­ten­laden seines ehema­ligen Idols Damon. Eben hat er erfahren, dass seine Ex-Freundin Justine jetzt mit Damon zusammen ist. Brett Fäuste sind kampf­be­reit geballt.
Ein paar Minuten später verlässt er das Geschäft mit einer im Grunde für ihn uner­schwing­li­chen türki­schen Progrock-Platte für 150 Dollar.
Noch indier geht’s kaum: Der durch Crowd­fun­ding ermög­lichte Film der American Inde­pen­dent-Größen Alison Anders & Kurt Voss ist ein wunder­bares Werk über Verlas­sen­werden, Loslassen und Musik.
(Edelmann & Willmann)

Holy Motors
Ein Kinosaal voller bewe­gungs­loser Menschen mit geschlos­senen Augen: Aber nicht einfach Schla­fende, nein – Träumende!
Viel mehr als dieses Anfangs­bild könnte und sollte man von Holy Motors eh nicht beschreiben. Leos Carax (Les amants du Pont-Neuf) hat hier ein Teil hinge­klotzt, das wie kaum ein anderer Film direkt aus dem Unter­be­wusst­sein ins Unter­be­wusst­sein geht. Denis Lavant spielt sich durch eine bizarre Reihe von offen­sicht­li­chen Fiktionen (und Genres), die einem beim Zuschauen dennoch so wahr werden wie intensive Träume.
Holy FUCKING Motors!
(Edelmann & Willmann)

The Deep Blue Sea
»Passion«, Leiden­schaft, lehnt sie rundweg ab. Als ihre Schwie­ger­tochter Hester (Rachel Weisz) nachfragt, was die alte Dame denn statt dessen dulde, antwortet sie: »Guarded enthu­siasm.« (Gezü­gelter Enthu­si­asmus.)
Für die »Greatest Gene­ra­tion« hat sich nach dem Krieg der Über­le­bens­kampf von außen nach innen verlagert. Das antrai­nierte Zurück­stellen der eigenen Bedürf­nisse schlägt um in Repres­sion. Hester zerreibt sich zwischen einem Ehemann, der sie fürsorg­lich liebt, und einem Liebhaber, nach dem sie sich verzehrt. Terence Davies malt das England um 1950 in dunklen, weichen Tönen – unter deren beherrschter Ober­fläche schmerz­hafte Bitter­keit schwärt.
(Edelmann & Willmann)

L’ultimo terrestre
Luca lässt sich noch einmal den Weg beschreiben. Vorbei an der penetrant glück­li­chen Familie auf der riesigen Werbe­tafel. Hinein ins nächtlich leer­ste­hende Möbelhaus. Wo er von einer älteren Hure mit starrer 60er-Jahre Coiffure empfangen wird. Ausge­stellt ist Betten-Band­breite, nach Luxus und Preis gestaf­felt, die dem Kunden je nach Status zuge­wiesen werden. Für Luca reicht es nur zum Modell »Kellner«.
Die Welt von L’ultimo terrestre ist wie eine leicht traum­ver­scho­bene Version der uns vertrauten. Fremd genug, dass es nicht verwun­dert, dass die Ankunft von Außer­ir­di­schen hier nur als Rand­er­schei­nung wahr­ge­nommen wird. Die Frage, ob die Mensch­heit im Universum alleine ist, ist für diese Menschen zweit­rangig im Vergleich mit der persön­li­chen Einsam­keit. Das Regie­debut des italie­ni­schen Comic-Künstlers Gipi (Gianni Alfonso Pacinotti) ist eine will­kommen eigen­wil­lige, zwischen Hoffnung und Härte vermit­telnde Parabel mit Anklängen ans Goldene Zeitalter der SF, als Aliens unserem Dasein noch den wertenden Spiegel vorhielten – quasi ein »Sei fei«-Film.
(Edelmann & Willmann)

Kohlhaas oder die Verhält­nis­mäßig­keit der Mittel
»Die hab ich gestern Nacht noch gehäkelt.« Der Regisseur Lehmann (Robert Gwisdek) drückt den zwei ihm noch verblie­benen Schau­spie­lern Stirn­bänder in die Hand. Sie sollen dem Träger für das große Schlach­ten­fi­nale die Kraft von zehn Männern verleihen. Die Darsteller nehmen die Geheim­waffe mit amüsierter Resi­gna­tion in Empfang. Was eigent­lich ein großes Historien-Epos hätte werden sollen, ist nach Verlust von Finan­zie­rung und Crew ein No-Budget-Unter­fangen geworden, das nur noch von Lehmanns mono­ma­ni­scher Begeis­te­rung am Leben gehalten wird. Doch siehe da: Der Zauber funk­tio­niert. Beim Durch­zählen hört man tatsäch­lich die Stimmen von 30 kampf­be­reiten Männern.
Fiktion verlangt einen Grad an Wahnsinn, an Bereit­schaft zur bedin­gungs­losen Selbst­aus­lie­fe­rung. Kohlhaas oder die Verhält­nis­mäßig­keit der Mittel ist nicht nur eine charmante Satire auf Film­ge­schäft und Klein­stadt­so­ziotop mit stimmig gezeich­neten Charak­teren. Sondern ebenso ein Plädoyer für Kino als Illusion, für kind­li­ches Fanta­sieren von Welten. Was im heutigen deutschen Film anschei­nend leider nur durchs Hinter­tür­chen möglich ist – als Mocku­men­tary.
(Edelmann & Willmann)

Paradise Lost 3: Purgatory
Jessie Miss­kelley, Jr., hat sich ein tonsur­ar­tiges Ziffer­blatt auf die Glatze täto­wieren lassen. Doch Zeiger hat die Uhr keine. Für ihn steht seit Jahren die Zeit still. Erst wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird, soll auf der Tattoo-Uhr eine Stunde erscheinen, erklärt er.
Am Ende des Films ist Miss­kelley tatsäch­lich frei, und mit ihm Damien Echols und Jason Baldwin. Von 1994, als sie alle noch Teenager waren, bis 2011 waren die »West Memphis Three« einge­sperrt. Sie sollen drei Buben umge­bracht haben – doch alles spricht dafür, dass ihr einziges Vergehen damals war, in einem extrem konser­va­tiven Staat Außen­seiter gewesen zu sein, als man grad Sünden­böcke brauchte. Die Doku­men­tar­filme von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky haben von Anfang an den Fall und die Zweifel inter­na­tional öffent­lich gemacht und wach gehalten. Ohne sie wäre es wohl nie zur Neube­wer­tung und schließ­lich Frei­las­sung gekommen. Paradise Lost 3 erzählt die Geschichte noch einmal von Anfang an – bis zum Ende, das keines­wegs schlicht happy, das nur ein frus­trie­rend kompro­miss­be­la­dener Teilsieg der Gerech­tig­keit ist. Der Film ist eine formal grad­li­nige und bewusst partei­ische (um nicht zu sagen: emotional auch mani­pu­la­tive) Doku. Sie lebt aber eben von ihrem starken Thema, vom Einblick in absurde Sata­nismus-Paranoia, die Abhän­gig­keit des Rechts­sys­tems von den persön­li­chen Agenda seiner Vertreter, die Eigen­dy­namik von Rache­gelüsten. Durch seinen 18 Jahre über­span­nenden Bogen aber ist es vor allem ein beklem­mender Film über die Zeit und wie sie Wunden heilen und schlagen kann.
(Thomas Willmann)

Weitere High­lights waren:

L’ordre et la morale

The Ambassador

Damsels in Distress

Wuthering Heights

5 Lowlights

The Color Wheel
Am Ende kommen Brüder­chen und Schwes­ter­chen dann endlich doch noch zusammen. Zehn Minuten dauert die Inzest-Szene – haben wir gehört. Gesehen haben wir sie nicht mehr, zu dem Zeitpunkt saßen wir schon beim Eiskaffee. Der war auch schwarz-weiß, und seine schmel­zende Sahne »gekonnt grob­körnig« (Zitat Kata­log­text). Die Einver­lei­bung jedoch deutlich erbau­li­cher.
Nicht­bren­nende Kinosäle verlässt man nicht vor Ende des Nach­spanns – alter Cineasten-Ehren­kodex. The Color Wheel hat es außer­ge­wöhn­li­cher­weise trotzdem geschafft, uns vorzeitig die Flucht ergreifen zu lassen. Wir waren keines­wegs von der uner­hörten formalen Inno­va­tion eines US-Indies über labernde Twenty-some­things auf Roadtrip in will­kür­li­chen LoFi-Bildern über­for­dert. Unser Problem war kein filmi­sches, sondern ein mensch­li­ches: Regisseur, Co-Autor und Haupt­dar­steller Alex Ross Perry, ein Unsympath sonder­glei­chen, setzt hier seiner Selbst­ver­liebt­heit ein monu­mental nerviges Denkmal. Es strotzt vor unan­ge­brachtem Stolz auf seinen demons­tra­tiven Dille­tan­tismus – Takes mit Text­hän­gern werden verwendet, weil man ja ironisch über dem Werk steht – und einer vermeint­li­chen Witzig­keit, die sich ständig nur über die ach so uncoole Rest­mensch­heit mokkiert. Für Ross Perry und seine seelen­ver­wandte Film-Schwester Carlen Altman führt in ihrer Eitelkeit gar kein Weg am Inzest vorbei: Alle anderen sind ihrer eh unwürdig.
(Edelmann & Willmann)

Weitere Lowlights:

Uncon­di­tional

The Comedy

Invasion

Fran­co­phrenia