16.07.2009
26. Filmfest München 2009

Die Unfähig­keit zu sprechen

Sois sage
Stumme Bedrohung : Sois sage

Das französische Kino lernt das Schweigen – drei junge Regisseurinnen repräsentieren einen Generationenwechsel im französischen Kino

Von Rüdiger Suchsland

Den Schnitt ins Hand­ge­lenk hat man kaum bemerkt, da liegt das junge, große, etwas spröde Mädchen mit dem präch­tigen Abend­kleid schon auf dem Boden, in ihrem eigenen Blut. Die andere, ihr in Liebe und Hass verbun­dene Kind­heits­freundin schaut im ersten Moment nur kühl und genervt – schon wieder eine hyste­ri­sche Szene, scheint sie zu denken, mit der die Andere Aufmerk­sam­keit zu erregen sucht, doch dann löst sich die Härte in ihrem Blick, und auch als Betrachter muss man sich seiner Tränen nicht schämen – in diesem Augen­blick der Erschüt­te­rung kulmi­niert alles, was die Regis­seurin Sophie Laloy zuvor über 90 Minuten aufgebaut hat: Das rätsel­hafte Verhältnis zweier junger Frauen – intensiv gespielt von Judith Davies und Isild Le Besco –, das in einen Zweikampf der Gefühle mündet, bei dem keine Seite klar unter­legen scheint, und der die Sympa­thien den Zuschauer hin und her reißt. Mit ihrem eindrucks­vollen Debüt Je te mangerais, einem Noir-Melo mit Anleihen an Cocteau und Tourneur, das soeben in der Sektion »Neues fran­zö­si­sches Kino« des Filmfest München Deutsch­land­pre­miere hatte, kata­pu­liert sich Laloy in eine Reihe mit anderen jungen fran­zö­si­schen Regis­seu­rinnen – sämtlich sind es Frauen – die es sich lohnt, im Auge zu behalten, weil sich hier eine neue Gene­ra­tion zu Wort meldet, die zugleich die große Tradition des fran­zö­si­schen Autoren­films fortsetzt.

Blickt man auf das fran­zö­si­sche Kino der Gegenwart, bietet sich auf den ersten Blick ein zwie­späl­tiges Bild. Die über­le­benden Helden der Nouvelle Vague, Chabrol, Rohmer, Resnais und Rivette drehen mit bewun­ders­werter Konstanz regel­mäßig ihre Filme von höchst respek­ta­blem Niveau, Godard meldet sich immerhin noch ab und an zurück, aber sie alle sind doch eher 80 als 70 Jahre alt. Und auch die nach­fol­genden Gene­ra­tionen sind längst in die Jahre gekommen: André Techiné und Barbet Schroeder, deren neuen Filme in München liefen, haben die hohen Erwar­tungen nie ganz erfüllt – trotz einzelner groß­ar­tiger Werke sind Weltruhm, Preise und ein Erfolg, der mit dem der Gene­ra­tion von Godard und Truffaut vergleichbar wäre, ausge­blieben. Bei Claire Denis, Olivier Assayas, Agnès Jaoui, Arnaud Desplechin und Abdel­latif Kechiche darf man immerhin noch hoffen, wie bei Robert Guédi­guian, dessen großartig-abgrün­diges Resis­tance-Drama L’armeé Du Crime, ein tref­fendes Pendant zu Taran­tinos Inglou­rious Basterds ebenfalls in München lief. Unter den unter 40-jährigen machte dagegen bisher nur Chris­tophe Honoré wirklich auf sich aufmerksam. Zugleich zeigen diese Namen, wie reich unser Nach­bar­land an außer­ge­wöhn­li­chen Regiekön­nern ist – denn alle hier Genannten haben früh eine eigene Film­sprache, einen persön­li­chen Stil ausge­prägt, der ihre Filme bestimmt, an dem sie fest­halten und den sie weiter­ent­wi­ckeln.

Die Fran­zo­sen­reihe in München, mit nur acht Filmen im sonst diffus ausufernden Filmfest so knapp wie über­zeu­gend präzis program­miert, wurde jetzt zum Ort der Entde­ckung der neuesten Regie-Gene­ra­tion. Am stärksten in den Fußstapfen der Älteren bewegt sich die Jüngste, die erst 28-jährige Mia Hansen-Løve. Ihr zweiter Spielfilm, Le père de mes enfants, der soeben in Cannes mit dem Jurypreis der Sektion »Un Certain Regard« ausge­zeichnet wurde, ist auch derjenige mit der größten Nähe zum Film­mi­lieu. Nur leicht verschlüs­selt erzählt er von Humbert Balsan, einem der einfluss­reichsten fran­zö­si­schen Film­pro­du­zenten und Förderer des inter­na­tio­nalen Autoren­kinos, der unter schweren Depres­sionen litt, und sich 2005 erhängte. Voller Sensi­bi­lität zeigt der Film die letzten Monate eines Manisch-Depres­siven, doch die Anteil­nahme der Regis­seurin gilt vor allem den Hinter­blie­benen: In unspek­ta­kulären tastenden Bildern, spürt sie der Frage nach, wie man nach so einem Schock wieder zu sich kommt, sich im Leben neu verortet.

Auch in Juliette Garcias' Debüt Sois sage geht es um einen Menschen, der mit einem Trauma fertig werden muss. Ihr Stil könnte aber unter­schied­li­cher nicht sein: Geduldig, in langen Einstel­lungen und oft minu­ten­lang ohne Dialog, stel­len­weise auch nahe der Ästhetik des Horror­kinos, verfolgt die Regis­seurin ihre Haupt­figur: Ein junges Mädchen, das aufs Land gezogen ist und eine Stelle als Brot­aus­fah­rerin antritt. Schnell wird klar, dass sie ein Geheimnis umgibt. Welcher Abgrund genau hinter ihrer selbst­zer­stö­re­ri­schen Liebe zu einem älteren Mann steckt, bleibt lange offen. Eine traurige, mit großer Inten­sität erzählte Geschichte, in der Bedrohung und Liebe Hand in Hand gehen.
Die grund­sätz­liche Nähe, aber auch einige bemer­kens­werte konkrete Ähnlich­keiten zu Laloys Je te mangerais sind zu bemerken: Beide Filme haben eine Pianistin als Haupt­figur, in beiden wird Musik – Bach, Mozart, Ravel – zur Metapher und Therapie für Schmerz und Tragik. In beiden Filmen geht es um die Gebro­chen­heit von Identität und um sexuelles Erwachen. Und beide sind Psycho­thriller, durch­löchern die einst so fest­ge­fügte Grenze zwischen Autoren­kino und Genre.
Mia Hansen-Løve, Sophie Laloy, Juliette Garcia – drei Namen, auf die man wird achten müssen. Und denen man, wenn sie – Garcia sucht noch einen Verleih – dann ins deutsche Kino kommen, ein neugie­riges Publikum wünscht.