59. Berlinale 2009
Gerechtigkeitserzwingungsmaßnahmen oder mit Waffengewalt geht alles leichter |
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The Shock Doctrine: Entwuseltes Gewurschtel |
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(Foto: Paradiso Home Entertainment) |
Von Thomas Willmann
Am Eröffnungstag noch hat Tilda Swinton das Kino als eine Form des Gesprächs gelobt. Und ich finde das nach wie vor einen realistisch hoffnungsvollen Gedanken. Denn so sehr man oft an der Menschheit verzweifeln könnte, so sehr bleibt doch das Gefühl, das alles nicht annähernd so schlimm wäre, wenn man die Menschen mal alle zum klärenden Einzelgespräch bitten könnte. Wenn man all die Idioten und Gemeingefährlichen, die Fanatiker und Terroristen mal individuell auf neutralem
Boden auf einen Stuhl setzen könnte und sie fragen: »Jetzt sag' mal, was soll der Scheiß?« Und so lange nachbohren könnte, bis die Antwort etwas anderes ist als blind nachgeplapperter Jargon. (Was zugegebenermaßen dauern dürfte...)
Aber genau da liegt eben das Problem: Die, die das Gespräch am nötigsten hätten, sind am wenigsten gesprächsbereit. Was hilft’s, wenn ein Dialog viel klären könnte, wenn die Mittel fehlen, die betreffenden Leute überhaupt zum Dialog zu
bewegen?
Man müsste sie zwingen.
Da ist die Crux: Manchmal, scheint es, hilft nur Gewalt, selbst wenn es darum geht, Gewalt zu verhindern.
Und da das Kino, das Geschichtenerzählen nun mal auch dazu da ist, unsere Fantasien auszuleben und die Frage zu stellen »Was wäre, wenn...?« darf es auch fragen: »Was wäre, wenn man Menschen, von deren unnötiger Dummheit, Verblendetheit man zutiefst überzeugt ist, tatsächlich mal mit vorgehaltener Waffe zwingen könnte, sich das wirklich
anzuhören und ernst zu nehmen, was man ihnen zu sagen hätte?«
Womit wir bei La Journée De La Jupe wären. Isabelle Adjani – etwas fülliger als früher, aber furioser denn je – spielt darin eine Französischlehrerin an einer »Problemschule«. Genervt und tyrannisiert von ihren rüpelhaften Schülern »mit Migrationshintergrund«, die sich permanent pubertär sexistisch und rassistisch gegenüber anderen gebärden, sich selbst aber ebenso permanent in
der unterdrückten Opferrolle sehen, die ihnen jede Verantwortung für ihr Handeln abnimmt. Und denen soll Adjani was über Molière beibringen.
Eine hoffnungslose Situation – bis da eine Pistole auftaucht, aus dem Rucksack eines Schülers, und sich bei Adjanis Versuchen, sie an sich zu nehmen, ein Schuss löst. Plötzlich sieht sich Adjani als Geiselnehmerin ihrer Klasse. Anfangs völlig schockiert und wider Willen – aber dann erkennt sie langsam die unerwarteten Vorteile der
Lage. Auf einmal, kaum setzt man ihnen eine Waffe auf die Brust, hören die Kinderchen nämlich zu. So toll hat für sie der Frontalunterricht noch nie geklappt.
La Journée De La Jupe ist einer jener Filme, die von der Brillanz ihrer Grundidee zehren können, auch wenn sie zunehmend nicht mehr so recht wissen, wohin damit. Jean-Paul Lilienfeld hat offenbar ein wenig zuviel Panik davor, er könnte einen Gedanken überstrapazieren, und verfranst sich dann in ein,
zwei zusätzlichen Wendungen zuviel.
Vielleicht hat er auch selbst Angst davor bekommen, seine gefährlich reizvolle Fantasie ohne weitere äußere Impulse konsequent zu Ende zu denken. Irgendwann verliert er sein interessantestes Thema etwas aus den Augen: Wie intolerant darf man werden, um die Werte der Toleranz durchzusetzen?
Auch der diesjährige Berlinale-Eröffnungsfilm lässt Waffen sprechen, wo Worte nicht mehr zu helfen scheinen. Tom Tykwers The International ist dabei ein gutes Stück entfernt davon nahezulegen, dass Gewalt, wie gezielt eingesetzt auch immer, wirklich eine Lösung sein könnte. Es bleibt klar: Das System, die Menschen werden sich deswegen nicht ändern. Die Schießereien in The International sind vielmehr ein Ventil für das Gefühl der Ohnmacht, sind ein fiktionales Stillen des Durstes nach irgendeiner Art von vermeintlicher Gerechtigkeit. Es geht schlicht um das Gefühl, dass IRGENDJEMAND für das ganze Unrecht zahlen muss – und zwar den ultimativen Preis.
Viel wurde darüber geschrieben, wie die aktuelle Situation The International zu einem Eröffnungsfilm gemacht hat, wie ihn sich Festivalleiter Dieter Kosslick nicht schöner hätte schnitzen können: Was – als Verbindung von mit internationalen Stars besetztem Genre-Kino und deutschen Arthouse-Credentials – ohnehin jene Pole vereint, die die Berlinale gern gleichzeitig bedienen möchte, hat auf einmal dank seines Themas auch noch
Schlagzeilen-Aktualität. Ein scheinbarer Beweis, wie das Kino, das durch seine Produktionsvoraussetzungen und seinen Apparat mit langen Vorlaufzeiten von der Idee bis zum fertigen Werk oft als recht behäbige Kunstform wirkt, doch ganz am Puls der Zeit sein kann.
Aber das stimmt nur halb. Denn die »very bad bank«, um die es bei Tykwer geht, wirkt heute auch schon wieder wie eine etwas altmodische Fantasie: Ein Ableger der Paranoiafilm-Welle der ‘70er, in der ein einsamer
Held gegen ein übermächtiges »Sie«-System ankämpft – »sie« stecken hinter allem, »sie« haben die Fäden in der Hand, »sie« werden dich finden und ausschalten, wenn du ihnen auf die Schliche kommst.
Die Bank in The International hat ihre Finger in Waffendeals und beeinflusst internationale Konflikte, um die Rendite zu steigern; Leute, die Sand ins finstere Getriebe streuen wollen,
lässt sie von Auftragskillern ausschalten. Das ist alles sehr unmenschlich und sehr böse. Aber wenigstens weiß hier noch jemand, was er tut, wenigstens hat hier noch IRGENDWER die Kontrolle – auch wenn es die Bösen sind.
Im Vergleich aber zu einer Weltwirtschaft, die durch persönlichkeitsgestörte Trottel mit ihrem Glaubenssatz vom ewigen Wachstum und ihren Seifenblasen aus Fantasie-Kapital an den Rand des Kollaps gebracht wird, weil eben von den vermeintlichen Profis
und Experten keiner eine Ahnung hat, was er da wirklich tut... Nun, im Vergleich dazu wirkt die Konstruktion von The International fast schon beruhigend. Und wenigstens bekommt das Böse da ein paar Gesichter, wenigstens weiß man, auf wen man schießen kann – auch wenn’s letztlich nichts ändert.
Als dokumentarisches Pendant zu The International könnte man bis zu einem gewissen Grad THE The Shock Doctrine von Michael Winterbottom und Mat Whitecross sehen, die Adaption des gleichnamigen Naomi Klein-Kultbuchs: Auch er breitet sozusagen eine »Verschwörungstheorie«
aus, die das ganze Schlamassel erklärt, in dem wir stecken. Er ist eine alternative Geschichtsschreibung der letzten dreißig, vierzig Jahre, die er zu erklären sucht als die Geschichte der globalen Durchsetzung der Ideologie vom völlig entfesselten Markt, wie sie von der Chicagoer Schule um Milton Friedman gepredigt wurde. Die Diktaturen in Chile und Argentinien, die Reagan- und Thatcher-Jahre, der Niedergang der Sowjetunion, der Irakkrieg – all das wird plötzlich stimmiger
Teil einer stringenten »master narrative«.
Das Erschreckende an The Shock Doctrine ist, wie schlüssig er diese These wirken lässt, wie viel da auf einmal in einen übergeordneten Kontext zu passen scheint, was man vorher eher als das unverbundene Gewusel und Gewurschtel der Zeit wahrgenommen hatte.
Vielleicht sollte man ihm gerade deswegen auch ein bisschen
misstrauen – »Fiction is to make sense,« sagt Armin Mueller-Stahl mal in The International, und im Umkehrschluss könnte man anmerken, dass alles, was zu sehr Sinn ergibt, stets nach Fiktion müffelt. Aber zwei Dingen gelingen dem Film allemal:
Zum einen Naomi Kleins Thesen emotional zu unterfüttern – diese Bebilderung gibt den beschriebenen Ereignissen ihren Schmerz zurück,
lässt die menschlichen Konsequenzen mitfühlen. Man mag das manipulativ heißen – aber man kann es dennoch auch gerechtfertigt finden, wegen des Fazits, auf das der Film dergestalt hin agitiert: Jetzt, durch DIE KRISE, ist ein Zeitpunkt gekommen, nach Alternativen zu suchen zu der Ideologie des Neoliberalismus, die die letzten Jahrzehnte zunehmend dominiert hat – und zwar nicht, indem man wieder vermeintlichen Experten das Feld überlässt, sondern indem sich jeder in
seinem eigenen, privaten Wirkungskreis organisiert und engagiert und für eine hoffentlich menschlichere Welt kämpft. Um eine solche Bewegung anzustoßen, schadet ein bisschen Wut im Bauch aber nun wirklich nicht.
Die andere Leistung des Films ist weniger das Überstülpen einer großen Geschichte über die jüngere Vergangenheit – es ist die Beweisführung, dass einer der unablässig beschworenen Grundsteine der Friedman-Denkschule gelinde gesagt brüchig ist: Die Freiheit des
Markts und die Freiheit der Menschen gingen zwangsläufig Hand in Hand. Wirtschaftlicher Neoliberalismus und Demokratie, das seien siamesische Zwillinge. Was hingegen The Shock Doctrine wieder und wieder vorführt ist, wie ausgerechnet Diktaturen sich bewusst die Chicagoer Wirtschaftsideologie importieren und dadurch offenbar kein Stück näher an die Demokratie
geraten. Und wie umgekehrt die politischen Vollstrecker der neoliberalen Heilslehre wieder und wieder gerade da eingreifen und zuschlagen, wo sich ein Volkswille gegen ein als unterdrückend empfundenes System auflehnt.
Mit anderen Worten: The Shock Doctrine verdoppelt nicht einfach nur, was die Realität in den letzten Monaten ohnehin offensichtlich gemacht hat,
nämlich dass der Neoliberalismus schlicht ökonomisch nicht so funktioniert, wie er immer behauptet hat. Der Film macht auch noch einmal deutlich, dass die politischen Befreiungsversprechen ebenso wenig eingelöst wurden.
Lässt sich The Shock Doctrine als dokumentarisches Gegenstück zu The International sehen, dann könnte man Hans-Christian Schmids Storm (ebenfalls eine
internationale, hauptsächlich englischsprachige Produktion, deshalb nicht der deutsche Titel Sturm) als einen fiktionalen Widerpart beschreiben: Zwar geht es hier um ein ganz anderes Thema – die serbischen Kriegsverbrechen und deren Verhandlung vor dem Den Haager Gerichtshof. Aber der zentrale Unterschied ist themenübergreifend, macht einen Vergleich sinnfällig.
Denn wo Tykwer ein Bilder-Ventil schafft für das Gefühl der Ohnmacht, zwingt Schmid einen über weite Strecken, es auszuhalten. Die Bösen sind hier nicht minder klar benennbar, und man entwickelt einen nicht minder brennenden Hass auf sie. Und die (mehr oder minder) Guten sind hier in ihrem Kampf um so etwas wie »Gerechtigkeit« nicht minder behindert von der Bürokratie und den nationalen Vorschriften gegenüber einem sichtlich international frei agierenden Schurkentum. Aber hier darf
keiner die Knarre auspacken, hier gibt es kein explosives Ausbrechen der angestauten Wut.
Schmids Film zeichnet recht plausibel und genau nach, was es heißt, »dem Bösen« mit den Mitteln der demokratischen Rechtsstaatlichkeit zu begegnen. Und auch wenn STORM filmisch zu wenig zu bieten hat, wenn er visuell zu konventionell und unpräzise erzählt, wenn er mehr die Anmutung eines Fernsehspiels als eines Kinofilms verströmt; auch wenn er anfangs zu lange auf eine krimiartige
Struktur baut, die ihn in Wahrheit deutlich weniger spannend macht als das, was nach Auflösung des Geheimnisses folgt: Jene rund dreiviertel Stunde, in der die Fronten geklärt sind, das Mitgefühl mit dem Opfer etabliert – aber zunehmend klar wird, dass nicht zu haben ist, was man als Gerechtigkeit empfinden würde... Nun, diese Zeit gibt dem Film allemal seine Berechtigung, in dieser Zeit hat er Kraft und leistet etwas Ungewöhnliches. Hier wird quasi zum dramaturgischen
Höhepunkt, was in unzähligen Rachethrillern der Setup ist, und hier bleibt klar, dass es keine Option ist, dann eben das staatliche Gewaltmonopol aufzukündigen und die Vollstreckung blutig in die eigenen Hände zu nehmen.
Es ist nur ein Jammer, dass Schmid sich nicht traut (oder trauen durfte), konsequent zu bleiben. Ganz zum Schluss muss sich halt doch noch alles wenden – und zwar zu einem viel zu umfassend Guten; nicht einmal eine fundamentale Gebrochenheit darf
bleiben. Ganz zum Schluss siegt halt doch das Bedürfnis, dass das Publikum einigermaßen befriedigt über den Ausgang der Geschichte das Kino verlässt. Das ist ein schnelles Pflaster auf die Wunde, die Storm so mühsam und beharrlich auf gestochert hat. Und somit eine unnötige Vernichtung von emotionaler Energie: Denn das Aushalten lassen des Schmerzes ist mit Abstand das Produktivste
an diesem Film, und er hätte ungleich stärker gewirkt, wenn mehr davon noch über den Abspann hinaus ins reale Leben geragt hätte.
Damit, freilich, ist Storm nicht allein: Wenn es dieser Berlinale zur Halbzeit an etwas fehlt, dann an Filmen, deren Wirkung über die Leinwand hinausreicht. Von den wenigen, denen das für mich wirklich gelungen ist, dann das nächste Mal.
Thomas Willmann