12.02.2009
59. Berlinale 2009

Gerechtigkeitserzwingungsmaßnahmen oder mit Waffengewalt geht alles leichter

The Shock Doctrine
The Shock Doctrine:
Entwuseltes Gewurschtel
(Foto: Paradiso Home Entertainment)

oder mit Waffengewalt geht alles leichter

Von Thomas Willmann

Am Eröff­nungstag noch hat Tilda Swinton das Kino als eine Form des Gesprächs gelobt. Und ich finde das nach wie vor einen realis­tisch hoff­nungs­vollen Gedanken. Denn so sehr man oft an der Mensch­heit verzwei­feln könnte, so sehr bleibt doch das Gefühl, das alles nicht annähernd so schlimm wäre, wenn man die Menschen mal alle zum klärenden Einzel­ge­spräch bitten könnte. Wenn man all die Idioten und Gemein­ge­fähr­li­chen, die Fanatiker und Terro­risten mal indi­vi­duell auf neutralem Boden auf einen Stuhl setzen könnte und sie fragen: »Jetzt sag' mal, was soll der Scheiß?« Und so lange nach­bohren könnte, bis die Antwort etwas anderes ist als blind nach­ge­plap­perter Jargon. (Was zuge­ge­be­ner­maßen dauern dürfte...)
Aber genau da liegt eben das Problem: Die, die das Gespräch am nötigsten hätten, sind am wenigsten gesprächs­be­reit. Was hilft’s, wenn ein Dialog viel klären könnte, wenn die Mittel fehlen, die betref­fenden Leute überhaupt zum Dialog zu bewegen?
Man müsste sie zwingen.
Da ist die Crux: Manchmal, scheint es, hilft nur Gewalt, selbst wenn es darum geht, Gewalt zu verhin­dern.
Und da das Kino, das Geschich­ten­er­zählen nun mal auch dazu da ist, unsere Fantasien auszu­leben und die Frage zu stellen »Was wäre, wenn...?« darf es auch fragen: »Was wäre, wenn man Menschen, von deren unnötiger Dummheit, Verblen­det­heit man zutiefst überzeugt ist, tatsäch­lich mal mit vorge­hal­tener Waffe zwingen könnte, sich das wirklich anzuhören und ernst zu nehmen, was man ihnen zu sagen hätte?«
Womit wir bei La Journée De La Jupe wären. Isabelle Adjani – etwas fülliger als früher, aber furioser denn je – spielt darin eine Fran­zö­sisch­leh­rerin an einer »Problem­schule«. Genervt und tyran­ni­siert von ihren rüpel­haften Schülern »mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund«, die sich permanent pubertär sexis­tisch und rassis­tisch gegenüber anderen gebärden, sich selbst aber ebenso permanent in der unter­drückten Opfer­rolle sehen, die ihnen jede Verant­wor­tung für ihr Handeln abnimmt. Und denen soll Adjani was über Molière beibringen.
Eine hoff­nungs­lose Situation – bis da eine Pistole auftaucht, aus dem Rucksack eines Schülers, und sich bei Adjanis Versuchen, sie an sich zu nehmen, ein Schuss löst. Plötzlich sieht sich Adjani als Geisel­neh­merin ihrer Klasse. Anfangs völlig scho­ckiert und wider Willen – aber dann erkennt sie langsam die uner­war­teten Vorteile der Lage. Auf einmal, kaum setzt man ihnen eine Waffe auf die Brust, hören die Kinder­chen nämlich zu. So toll hat für sie der Fron­tal­un­ter­richt noch nie geklappt.
La Journée De La Jupe ist einer jener Filme, die von der Brillanz ihrer Grundidee zehren können, auch wenn sie zunehmend nicht mehr so recht wissen, wohin damit. Jean-Paul Lili­en­feld hat offenbar ein wenig zuviel Panik davor, er könnte einen Gedanken über­stra­pa­zieren, und verfranst sich dann in ein, zwei zusätz­li­chen Wendungen zuviel.
Viel­leicht hat er auch selbst Angst davor bekommen, seine gefähr­lich reizvolle Fantasie ohne weitere äußere Impulse konse­quent zu Ende zu denken. Irgend­wann verliert er sein inter­es­san­testes Thema etwas aus den Augen: Wie into­le­rant darf man werden, um die Werte der Toleranz durch­zu­setzen?

Auch der dies­jäh­rige Berlinale-Eröff­nungs­film lässt Waffen sprechen, wo Worte nicht mehr zu helfen scheinen. Tom Tykwers The Inter­na­tional ist dabei ein gutes Stück entfernt davon nahe­zu­legen, dass Gewalt, wie gezielt einge­setzt auch immer, wirklich eine Lösung sein könnte. Es bleibt klar: Das System, die Menschen werden sich deswegen nicht ändern. Die Schieße­reien in The Inter­na­tional sind vielmehr ein Ventil für das Gefühl der Ohnmacht, sind ein fiktio­nales Stillen des Durstes nach irgend­einer Art von vermeint­li­cher Gerech­tig­keit. Es geht schlicht um das Gefühl, dass IRGENDJEMAND für das ganze Unrecht zahlen muss – und zwar den ulti­ma­tiven Preis.
Viel wurde darüber geschrieben, wie die aktuelle Situation The Inter­na­tional zu einem Eröff­nungs­film gemacht hat, wie ihn sich Festi­val­leiter Dieter Kosslick nicht schöner hätte schnitzen können: Was – als Verbin­dung von mit inter­na­tio­nalen Stars besetztem Genre-Kino und deutschen Arthouse-Creden­tials – ohnehin jene Pole vereint, die die Berlinale gern gleich­zeitig bedienen möchte, hat auf einmal dank seines Themas auch noch Schlag­zeilen-Aktua­lität. Ein schein­barer Beweis, wie das Kino, das durch seine Produk­ti­ons­vor­aus­set­zungen und seinen Apparat mit langen Vorlauf­zeiten von der Idee bis zum fertigen Werk oft als recht behäbige Kunstform wirkt, doch ganz am Puls der Zeit sein kann.
Aber das stimmt nur halb. Denn die »very bad bank«, um die es bei Tykwer geht, wirkt heute auch schon wieder wie eine etwas altmo­di­sche Fantasie: Ein Ableger der Para­noia­film-Welle der ‘70er, in der ein einsamer Held gegen ein über­mäch­tiges »Sie«-System ankämpft – »sie« stecken hinter allem, »sie« haben die Fäden in der Hand, »sie« werden dich finden und ausschalten, wenn du ihnen auf die Schliche kommst.
Die Bank in The Inter­na­tional hat ihre Finger in Waffen­deals und beein­flusst inter­na­tio­nale Konflikte, um die Rendite zu steigern; Leute, die Sand ins finstere Getriebe streuen wollen, lässt sie von Auftrags­kil­lern ausschalten. Das ist alles sehr unmensch­lich und sehr böse. Aber wenigs­tens weiß hier noch jemand, was er tut, wenigs­tens hat hier noch IRGENDWER die Kontrolle – auch wenn es die Bösen sind.
Im Vergleich aber zu einer Welt­wirt­schaft, die durch persön­lich­keits­ge­störte Trottel mit ihrem Glau­bens­satz vom ewigen Wachstum und ihren Seifen­blasen aus Fantasie-Kapital an den Rand des Kollaps gebracht wird, weil eben von den vermeint­li­chen Profis und Experten keiner eine Ahnung hat, was er da wirklich tut... Nun, im Vergleich dazu wirkt die Konstruk­tion von The Inter­na­tional fast schon beru­hi­gend. Und wenigs­tens bekommt das Böse da ein paar Gesichter, wenigs­tens weiß man, auf wen man schießen kann – auch wenn’s letztlich nichts ändert.

Als doku­men­ta­ri­sches Pendant zu The Inter­na­tional könnte man bis zu einem gewissen Grad THE The Shock Doctrine von Michael Winter­bottom und Mat White­cross sehen, die Adaption des gleich­na­migen Naomi Klein-Kultbuchs: Auch er breitet sozusagen eine »Verschwörungs­theorie« aus, die das ganze Schla­massel erklärt, in dem wir stecken. Er ist eine alter­na­tive Geschichts­schrei­bung der letzten dreißig, vierzig Jahre, die er zu erklären sucht als die Geschichte der globalen Durch­set­zung der Ideologie vom völlig entfes­selten Markt, wie sie von der Chicagoer Schule um Milton Friedman gepredigt wurde. Die Dikta­turen in Chile und Argen­ti­nien, die Reagan- und Thatcher-Jahre, der Nieder­gang der Sowjet­union, der Irakkrieg – all das wird plötzlich stimmiger Teil einer strin­genten »master narrative«.
Das Erschre­ckende an The Shock Doctrine ist, wie schlüssig er diese These wirken lässt, wie viel da auf einmal in einen über­ge­ord­neten Kontext zu passen scheint, was man vorher eher als das unver­bun­dene Gewusel und Gewurschtel der Zeit wahr­ge­nommen hatte.
Viel­leicht sollte man ihm gerade deswegen auch ein bisschen miss­trauen – »Fiction is to make sense,« sagt Armin Mueller-Stahl mal in The Inter­na­tional, und im Umkehr­schluss könnte man anmerken, dass alles, was zu sehr Sinn ergibt, stets nach Fiktion müffelt. Aber zwei Dingen gelingen dem Film allemal:
Zum einen Naomi Kleins Thesen emotional zu unter­füt­tern – diese Bebil­de­rung gibt den beschrie­benen Ereig­nissen ihren Schmerz zurück, lässt die mensch­li­chen Konse­quenzen mitfühlen. Man mag das mani­pu­lativ heißen – aber man kann es dennoch auch gerecht­fer­tigt finden, wegen des Fazits, auf das der Film derge­stalt hin agitiert: Jetzt, durch DIE KRISE, ist ein Zeitpunkt gekommen, nach Alter­na­tiven zu suchen zu der Ideologie des Neoli­be­ra­lismus, die die letzten Jahr­zehnte zunehmend dominiert hat – und zwar nicht, indem man wieder vermeint­li­chen Experten das Feld überlässt, sondern indem sich jeder in seinem eigenen, privaten Wirkungs­kreis orga­ni­siert und engagiert und für eine hoffent­lich mensch­li­chere Welt kämpft. Um eine solche Bewegung anzu­stoßen, schadet ein bisschen Wut im Bauch aber nun wirklich nicht.
Die andere Leistung des Films ist weniger das Über­s­tülpen einer großen Geschichte über die jüngere Vergan­gen­heit – es ist die Beweis­füh­rung, dass einer der unab­lässig beschwo­renen Grund­steine der Friedman-Denk­schule gelinde gesagt brüchig ist: Die Freiheit des Markts und die Freiheit der Menschen gingen zwangs­läufig Hand in Hand. Wirt­schaft­li­cher Neoli­be­ra­lismus und Demo­kratie, das seien siame­si­sche Zwillinge. Was hingegen The Shock Doctrine wieder und wieder vorführt ist, wie ausge­rechnet Dikta­turen sich bewusst die Chicagoer Wirt­schafts­ideo­logie impor­tieren und dadurch offenbar kein Stück näher an die Demo­kratie geraten. Und wie umgekehrt die poli­ti­schen Voll­stre­cker der neoli­be­ralen Heils­lehre wieder und wieder gerade da eingreifen und zuschlagen, wo sich ein Volks­wille gegen ein als unter­drü­ckend empfun­denes System auflehnt.
Mit anderen Worten: The Shock Doctrine verdop­pelt nicht einfach nur, was die Realität in den letzten Monaten ohnehin offen­sicht­lich gemacht hat, nämlich dass der Neoli­be­ra­lismus schlicht ökono­misch nicht so funk­tio­niert, wie er immer behauptet hat. Der Film macht auch noch einmal deutlich, dass die poli­ti­schen Befrei­ungs­ver­spre­chen ebenso wenig eingelöst wurden.

Lässt sich The Shock Doctrine als doku­men­ta­ri­sches Gegen­s­tück zu The Inter­na­tional sehen, dann könnte man Hans-Christian Schmids Storm (ebenfalls eine inter­na­tio­nale, haupt­säch­lich englisch­spra­chige Produk­tion, deshalb nicht der deutsche Titel Sturm) als einen fiktio­nalen Widerpart beschreiben: Zwar geht es hier um ein ganz anderes Thema – die serbi­schen Kriegs­ver­bre­chen und deren Verhand­lung vor dem Den Haager Gerichtshof. Aber der zentrale Unter­schied ist themenü­ber­grei­fend, macht einen Vergleich sinn­fällig. Denn wo Tykwer ein Bilder-Ventil schafft für das Gefühl der Ohnmacht, zwingt Schmid einen über weite Strecken, es auszu­halten. Die Bösen sind hier nicht minder klar benennbar, und man entwi­ckelt einen nicht minder bren­nenden Hass auf sie. Und die (mehr oder minder) Guten sind hier in ihrem Kampf um so etwas wie »Gerech­tig­keit« nicht minder behindert von der Büro­kratie und den natio­nalen Vorschriften gegenüber einem sichtlich inter­na­tional frei agie­renden Schur­kentum. Aber hier darf keiner die Knarre auspacken, hier gibt es kein explo­sives Ausbre­chen der ange­stauten Wut.
Schmids Film zeichnet recht plausibel und genau nach, was es heißt, »dem Bösen« mit den Mitteln der demo­kra­ti­schen Rechts­staat­lich­keit zu begegnen. Und auch wenn STORM filmisch zu wenig zu bieten hat, wenn er visuell zu konven­tio­nell und unpräzise erzählt, wenn er mehr die Anmutung eines Fern­seh­spiels als eines Kinofilms verströmt; auch wenn er anfangs zu lange auf eine krimi­ar­tige Struktur baut, die ihn in Wahrheit deutlich weniger spannend macht als das, was nach Auflösung des Geheim­nisses folgt: Jene rund drei­viertel Stunde, in der die Fronten geklärt sind, das Mitgefühl mit dem Opfer etabliert – aber zunehmend klar wird, dass nicht zu haben ist, was man als Gerech­tig­keit empfinden würde... Nun, diese Zeit gibt dem Film allemal seine Berech­ti­gung, in dieser Zeit hat er Kraft und leistet etwas Unge­wöhn­li­ches. Hier wird quasi zum drama­tur­gi­schen Höhepunkt, was in unzäh­ligen Rache­thril­lern der Setup ist, und hier bleibt klar, dass es keine Option ist, dann eben das staat­liche Gewalt­mo­nopol aufzu­kün­digen und die Voll­stre­ckung blutig in die eigenen Hände zu nehmen.
Es ist nur ein Jammer, dass Schmid sich nicht traut (oder trauen durfte), konse­quent zu bleiben. Ganz zum Schluss muss sich halt doch noch alles wenden – und zwar zu einem viel zu umfassend Guten; nicht einmal eine funda­men­tale Gebro­chen­heit darf bleiben. Ganz zum Schluss siegt halt doch das Bedürfnis, dass das Publikum eini­ger­maßen befrie­digt über den Ausgang der Geschichte das Kino verlässt. Das ist ein schnelles Pflaster auf die Wunde, die Storm so mühsam und beharr­lich auf gesto­chert hat. Und somit eine unnötige Vernich­tung von emotio­naler Energie: Denn das Aushalten lassen des Schmerzes ist mit Abstand das Produk­tivste an diesem Film, und er hätte ungleich stärker gewirkt, wenn mehr davon noch über den Abspann hinaus ins reale Leben geragt hätte.

Damit, freilich, ist Storm nicht allein: Wenn es dieser Berlinale zur Halbzeit an etwas fehlt, dann an Filmen, deren Wirkung über die Leinwand hinaus­reicht. Von den wenigen, denen das für mich wirklich gelungen ist, dann das nächste Mal.

Thomas Willmann