Zombi Child

Frankreich 2019 · 103 min. · FSK: ab 16
Regie: Bertrand Bonello
Drehbuch:
Kamera: Yves Cape
Darsteller: Louise Labeque, Wislanda Louimat, Katiana Milfort, Mackenson Bijou, Adilé David u.a.
Schön, klug und grandios über Ausdruck und Gefühl erzählt
(Foto: Grandfilm)

Schlafwandler der Sehnsucht

Die Erfindung der Freiheit und die Aneignung des globalen Südens: Bertrand Bonellos atemberaubender Zombi Child

ȃcoutez monde blanc / Les salves de nos morts
Écoutez ma voix de zombi / En l’honneur de nos morts
Écoutez monde blanc / Mon typhon de bêtes fauves
Mon sang déchirant ma tristesse / Sur tous les chemins du monde
Écoutez monde blanc!«

René Depestre: »Captain Zombi«

Ein paar Mädchen sitzen im Kreis im Keller­ver­steck ihres Internats. Die Neue muss, um in den Girls-Club aufge­nommen zu werden, nachts beim Kerzen­schein als Initia­ti­ons­ri­tual etwas machen, was »alle rührt«. Sie sagt das Gedicht »Captain Zombi« des haitia­ni­schen Dichters René Depestre auf, über die Leiden der Schwarzen, mit dem unver­gess­li­chen Refrain: »Ecoutez monde blanc!«; »Hört, Weiße Welt!«

Der Franzose Bertrand Bonello, einer der span­nendsten Regis­seure der Gegenwart, verknüpft zwei Hand­lungs­stränge auf gleich mehreren Ebenen. Die Haupt­ge­schichte spielt in der Gegenwart, und erzählt von Fanny, Schülerin im Internat der Kinder der Ehren­le­gion in Saint Denis (»Maison d’éducation de la Légion d’honneur«), einer der edelsten Elite­schulen Frank­reichs. Dies ist demnach auch ein Inter­nats­movie, aber weitaus magischer als Harry Potter. Fanny ist die Haupt­figur, ein verträumtes, phan­ta­sie­lus­tiges Mädchen mit unein­deu­tiger, noch suchender sexueller Orien­tie­rung. Sie ist Teil dieser »Girls Group«, wie sie in solchen Filmen eben vorkommen, leidet schwer an Liebes­kummer (ihrem abwe­senden Geliebten Paul schreibt sie flammende Liebes­briefe, die so toll klingen, wie solche Briefe nur auf Fran­zö­sisch klingen), sie wirft aber auch einer gutaus­se­henden Volley­ball­spie­lerin sehn­süch­tige Blicke zu und sie hat außerdem eine neue beste Freundin: Melissa, eine Über­le­bende des Erdbebens von Haiti, und die einzige Schwarze auf der Schule. Mädchen in Uniform.

Melissa ist auch Enkelin von Clairvius Narcissus (1922-1962/1994), eines der berühm­testen »realen« Zombies des vergan­genen Jahr­hun­derts. Dessen histo­risch in größeren Teilen belegtes Schicksal wird in einem Neben­strang erzählt, und auf einer paral­lelen Erzäh­le­bene mit der Haupt­ge­schichte verbunden, um Melissas in Paris lebende Tante, ein »Mambo«.

+ + +

Zugleich lebt der Film vom gewohnten Verfahren des Regis­seurs, gleich mehrfache Diskurs­ebenen über Musik, Pop-Zitate, lite­ra­ri­sche Verweise und ähnliche Refe­renzen in seinen Film mit einzu­speisen, und von typischen Bonello-Szenen: Von Elek­tropop geprägte träu­me­ri­sche, driftende Passagen. Und er behandelt die repu­bli­ka­ni­sche Erziehung des laizis­ti­schen Frank­reichs: Ein Lehrer zitiert Michelets Äußerung von 1846: »Frank­reich ist schuldig, die Welt befreit zu haben. Das wird sie Frank­reich nie verzeihen.« (»La France porte un crime, d’avoir, il y a cinquante ans, voulu délivrer le monde. Ils ne l’ont pas pardonné, et ne le pardon­ne­ront pas.«)
Es geht ums 19. Jahr­hun­dert, um die Erfindung der Freiheit durch den Libe­ra­lismus, die Erfah­rungen der Freiheit und dann deren Verdun­ke­lung.

Insgesamt ist dies ein schöner, kluger, grandios über Ausdruck und Gefühl erzählter Film, schwebend, modern in seiner Form.

Dies ist also kein Film über Zombies, zumindest nicht über jene, die wir aus dem Kino kennen. Dies ist ein Film über Kolo­nia­lismus und seine Folgen, ein Film über den Stolz der Schwarzen und die Kraft ihres Wider­stands, auch in der Skla­ven­ko­lonie Haiti, aus der sie nicht stammten, die sie sich genauso erobern mussten, wie ihre Herren es getan hatten.

Es gibt eine Szene in Bonellos Film, in der ein junges Mädchen zombi­fi­ziert werden soll. Mir selbst ist tatsäch­lich während dieses Zombie-Akts im Kino schlecht geworden, Übelkeit kam auf, das Gefühl JETZT UND HIER krank werden zu müssen. Danach, kaum war die Szene vorbei, war alles wieder gut. Der Gedanke ließ sich nicht vermeiden: Ist da mehr, als es scheint?
Dieser Gedanke trägt diesen Film. Er fragt nach Zusam­men­hängen, ohne sich der Antwort im Vorhinein gewiss zu sein.

Bonellos Liebe zu jungen Menschen zeigt sich in jeder Sekunde des Films. Der Film behandelt Rapper wie Damso, einen Pop-Star wie Rihanna gleich­wertig wie den Schrift­steller Balzac und den Histo­riker Michelet. »What does Rihanna represent to you?« »Which is your favourite Rihanna song?« fragen die Lehrer ihre Schüler.

+ + +

Insofern prak­ti­ziert dieser Film eine Egalité, eine Gleich­heit, die sonst oft nur behauptet wird: Auch die Hautfarbe Melissas, der einzigen Schwarzen in der Girl Gang, wird nie thema­ti­siert, und es ist an Mélissa und ihrer Freundin Fanny erkennbar, dass sich Bonello nicht zuletzt dafür inter­es­siert, diffe­ren­ziert und unvor­ein­ge­nommen zu zeigen, wie junge Menschen heute auf die Welt blicken, wie ihr Verhältnis zu ihrer jeweils eigenen Kultur aussieht.

Schließ­lich die Zombies und das Zombi­fi­zieren. Auch das wird selbst­ver­ständ­lich genommen, wie alles in diesem Film. Und beiläufig erzählt.
Fast wissen­schaft­lich, aber immer fiktional versucht Zombi Child die Bedin­gungen und Möglich­keiten von Vodoo und Zombies als einer sozialen Praxis zu erkunden, einer Praxis, die tief im Alltag von Haiti und in der afri­ka­ni­schen (Sklaven-)Kultur verhaftet ist. Zu dieser Haltung und der Intel­li­genz dieses Films passt, dass als letztes Lied gespielt wird: »You'll never walk alone.« Darauf muss man auch erst mal kommen. Denn man kann nicht glauben, dass Bonello an irgend­etwas anderes gedacht hat, als an Jacques Tourneurs von Curt Siodmak geschrie­benen Klassiker: I Walked with a Zombie.