DK/GB/S/F 2002 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Lone Scherfig Drehbuch: Anders Thomas Jensen, Lone Scherfig Kamera: Jørgen Johansson Darsteller: Jamie Sives, Adrian Rawlins, Shirley Henderson, Julia Davis, Mads Mikkelsen, Lisa McKinlay u.a. |
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Wohin, Wilbur? |
So gesehen geht’s Wilbur gar nicht mal schlecht: Nach dem Tod seines Vaters ist er Teilhaber eines originellen Ladens für Gebrauchtliteratur, sein Bruder Harbour kümmert sich rührend um ihn und vor allem – Wilbur hat einfach Schlag bei den Frauen.
Doch all dies scheint wenig Gewicht zu haben in Wilbur persönlicher Wagschale: Er hat vom Leben im Allgemeinen und seinem persönlichen im Speziellen die Schnauze voll und versucht so einiges, um sich dessen zu entledigen. Diesmal hat er sich doppelt abgesichert und nicht nur röhrchenweise Tabletten geschluckt, sondern auch den antiken Gashahn aufgedreht. Doch wie üblich geht etwas schief: Erst fehlt das Geld in der Gasuhr und dann taucht wieder einmal Harbour in letzter Sekunde auf und macht ihm einen Strich durch die Rechnung...
Lone Scherfing (Italienisch für Anfänger) hat aufs Neue ein kurioses Kabinett menschlicher Befindlichkeiten ersonnen. Und wieder einmal geht es um die zentralen Fragen im Leben: die Liebe, das Glück, der Tod und was dazwischen liegt.
Da ist die zarte Alice, Putzfrau im örtlichen Hospital, die sich ein heimliches Zubrot mit liegengelassenen Büchern verdient. Da ist ihre Tochter Mary, wesentlich patenter als die Mutter, die sofort durchschaut, welcher Mann zum Stiefvater taugt. Und Oberschwester Moira von der stationären Suizidgruppe, eine von vielen, die Wilbur hinterherschmachten und die ansonsten von einem Fettnäpfchen ins nächste tappt. Kein Wunder also, dass ihr lakonisch fischschnutiger Kollege Dr. Horst »bedeutet ungefähr das gleiche wie Wurst« sich lieber anderen Krankenhauselfen zuwendet. Und dann gibt’s auch noch Harbour, der nicht nur an Wilburs irdischem Dasein hängt, sondern auch am eigenen – vor allem, nachdem Alice sich darin niedergelassen hat.
Vordergründig ist dies alles eine Komödie über den Suizid, ein Widerspruch, der sich seit Harald und Maude verschmelzen lässt. Selbstmord ist ein ungelöstes Rätsel der Menschheit. Seit Jahrmillionen ist alles, aber auch alles in uns aufs eigene Überleben respektive das unserer Art programmiert. Und doch ist der Mensch das einzige Wesen, das sich des kostbarsten Gutes »Leben« feiwillig entledigt – neben den Lemmingen, aber dass ist eine andere Geschichte. Denn: Wenn Lemminge über Klippen hüpfen, geschieht das im kollektiven Rausch. Des Menschen Freitod hingegen ist individuell begründet. Komische Sache. Spricht man mit lebensmüden Menschen, so lassen sich schnell zwei Grundmuster unterscheiden: Jene, die nicht mehr leben wollen. Und jene, die SO nicht mehr leben wollen. Zu letzteren gehört auch Wilbur. Denn eigentlich, so wird schnell klar, will Wilbur gar nicht sterben. Was ihm fehlt ist eine Rechtfertigung für seine Existenz. Das erkennt auch Harbour, der sogleich die Antwort auf diese Frage parat hat: Wer wahrhaft liebt, fragt nicht länger nach einem Grund fürs Weiterleben. Und so macht er sich daran, das Brüderchen mit der allzeit bereiten Damenwelt zu verbandeln. Doch die Liebe fällt mal wieder, wo sie hinfällt, unerwartet und oft unbequem...
Der Film spitzt sich schließlich auf folgende Situation zu: Da ist der eine Bruder, der leben will, aber sterben muss und, der andere, der leben darf, aber sterben will. Und letztlich stellt sich heraus, dass die zutiefst melancholische Geschichte sich bloß als Komödie tarnt. Was ihn so liebenswert macht, ist das Konzept, dass das Schicksal Regie führt – im Leben, wie im Sterben. Und dass trotzdem jeder für sich dem Schicksal eine lang Nase drehen kann. Es kommt, wie es kommt und doch, wie wir wollen – eine paradoxe Überzeugung, die den Protagonisten eine ungeheure Toleranz gegenüber schmerzlichen wie schönen Geschehnissen verschafft. Und die würde man sich gern einpacken, mit nach Hause nehmen und selber leben. Wenigstens bis zum nächsten Film.
Wilbur will nicht mehr. Eigentlich. Und begeht einen Selbstmordversuch nach dem anderen. Sein fürsorglicher Bruder Harbour rettet ihn jedesmal und nimmt ihn schließlich auf, als Wilbur vom verständnislosen Vermieter aus seiner Wohnung geworfen wird. Zusammen wohnen sie nun über dem Second-Hand-Buchladen, den der kürzlich verstorbene Vater den beiden hinterlassen hat. Wilbur ist Kindergärtner, und obwohl er Kinder nicht ausstehen kann, beten sie ihn an. Auch auf Frauen wirkt er unwiderstehlich, und so verwundert es zunächst, dass die schüchterne Alice, die im Krankenhaus arbeitet und die dort liegen gebliebenen Bücher verkauft, sich in Buchhändler Harbour verliebt. Auch Harbour ist hingerissen, und so erweitert sich die kleine Familie bald um Alice und ihre altkluge Tochter Mary. Wilbur ist Patient des zynischen Arztes Horst, der ihn wegen seiner negativen Haltung nicht länger in der Selbsthilfegruppe Suizidgefährdeter teilnehmen lassen will. Und dann ist da noch Krankenschwester Moira, die, getrieben von Helfersyndrom und Verliebtheit, Wilbur helfen will und zur Komplizierung der Dinge beiträgt. Und am Ende kommt es ganz anders, als man am Anfang vielleicht dachte.
Dieser erste englischsprachige Film von Lone Scherfig spielt in Glasgow, und manchmal könnten das trübe Wetter und der düstere Buchladen einen fast glauben machen, er sei schwarz-weiß. Doch dann kommt die Farbe, der alberne Glanz der Mädchenkleider beim Kindergeburtstag zum Beispiel und der weit schweifende Blick über die Stadt in Cinemascope, und man entdeckt nach Dogma-Wackelei und DV-Unschärfe wieder den Spaß an den Bildern. Die Beteiligung des Co-Drehbuchautors Jensen an Filmen wie Mifune und Open Hearts weckt Hoffnungen auf differenzierte Charaktere und interessante Geschichten – sie werden nicht enttäuscht.
Seltsamerweise handelt es sich bei diesem Film um eine Komödie. Warum auch nicht – auch der Hauptdarsteller von Harold and Maude bringt sich laufend um, oder tut doch zumindest so. Auch in Lone Scherfigs vorherigem Film Italienisch für Anfänger beutelt das Leben die beteiligten ganz schön,und doch ist am End alles Happy. Aber Wilbur Wants to Kill Himself ist viel düsterer. Um so seltsamer, dass man trotzdem gerührt und froh aus dem Kino kommt. Vielleicht liegt es daran, dass man sich stärker fühlt, weil man gesehen hat, dass die schlimmen ebenso wie die schönen Momente zum Leben gehören, und das fast alles überlebt werden kann? Rätsel des Kinos...