Wir beide

Deux

Frankreich/L/B 2019 · 96 min. · FSK: ab 6
Regie: Filippo Meneghetti
Drehbuch: ,
Kamera: Aurélien Marra
Darsteller: Barbara Sukowa, Martine Chevallier, Léa Drucker, Jérôme Varanfrain, Muriel Bénazéraf u.a.
Ein Film der Blicke, nicht des Schauens, sondern des Sprechens
(Foto: Weltkino)

Die Liebe und zwei Leben

Wir beide ist eine Liebesgeschichte, wie man sie selten im Kino gesehen hat

Liebe ist im Alltag schon hart genug, auch ohne zusätz­liche äußere Heraus­for­de­rungen. In diesem Fall für die lang­jäh­rigen Geliebten Nina (Barbara Sukowa) und Madeleine (Martine Cheval­lier). Sie befinden sich in einer schwie­rigen Situation: Sie sind seit Jahr­zehnten zusammen, leben einer­seits ihr Leben als Paar in voller Freiheit, haben aber trotzdem nie jemandem von ihrer Beziehung erzählt. Noch nicht einmal ihrer Familie. Kaum zu glauben, aber genau diese Konstruk­tion ist die Prämisse in einer ansonsten nicht sehr konstru­iert wirkenden Geschichte: Besonders Madeleine, die zwei erwach­sene Kinder, Anne (Lea Drucker) und Frédéric (Jerome Varan­frain), hat und ein Enkelkind, scheut sich, ihr Geheimnis öffent­lich zu machen. Offiziell sind die beiden einfach gute Freunde und im gleichen Haus wohnende »Nachbarn«.

Nun aber beschließen die beiden Liebenden, Made­leines Wohnung zu verkaufen, um mit dem Geld eine Immobilie in Rom zu erwerben, als Alters­sitz, auf dem sie sich zur Ruhe setzen wollen. Sie sehen es als ihre Chance für einen persön­li­chen Neuanfang im Alter.

Zum ersten persön­li­chen Pauken­schlag wird ein heftiger Streit: Zu diesem kommt es, weil Nina wütend auf Madeleine wird. Diese hat ihrer Familie immer noch nichts von den Rom-Plänen gesagt und scheint nun kurz vor der Entschei­dung plötzlich zu zögern; sie tut sich schwer, ihre Wohnung zu verkaufen.
Zum zweiten und viel schwer­wie­gen­deren Ereignis wird der Tag, an dem Madeleine einen Schlag­an­fall bekommt. Plötzlich ist sie auf unab­seh­bare Zeit ein Pfle­ge­fall und kann erst einmal weder sprechen noch gehen. Da aber niemandem bekannt ist, dass sie und Nina ein Liebes­paar sind, wird Nina auf einmal von dem, was vor sich geht, von der Frau, die sie liebt, ausge­schlossen. Die ahnungs­lose Tochter Anne übernimmt die Pflege der Mutter. Und Nina muss mühsam einen Weg finden, um ihrer Lebens­ge­fährtin wieder nahe­zu­kommen. Die mora­li­sche Frage, die sich ihr aber vor allem stellt: Hat sie das Recht, beider geheimes Leben zu enthüllen, bevor Madeleine bereit und fähig ist, es zu offen­baren.

Wir beide ist ein Film der Blicke, nicht des Schauens, sondern des Sprechens. Denn das Paar kommu­ni­ziert über weite Teile des Films ohne Worte. Ein flüch­tiger Blick oder eine Hand auf der Schulter genügen, um den Reichtum der Gedanken und Gefühle zwischen den beiden Haupt­fi­guren zu vermit­teln.
Regisseur Filippo Mene­ghettis Können zeigt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Films: Seine Konzen­tra­tion auf Made­leines Augen und Gesicht wird zum Anker für das Publikum. Kame­ra­mann Aurélien Marra füllt diesen Teil des Films mit ausge­dehnten Kame­ra­fahrten über Made­leines Gesicht – intensiv und emotional, die lang­ge­zo­gene Aufnahme zieht uns tief in ihre Qualen hinein. Dies ist ein ungemein kraft­voller Moment.

Die Chemie zwischen den beiden erfah­renen Schau­spie­le­rinnen elek­tri­siert. Mit Barbara Sukowa als der ener­gi­schen Nina und Martine Cheval­lier als der zurück­hal­ten­deren Madeleine in den Haupt­rollen tastet dieser Film vor allem die unge­sagten Worte ab, und die Kämpfe, die in unserem eigenen Kopf ausge­fochten werden. Besonders Sukowa zeigt Seiten, die man von dieser Schau­spie­lerin zu wenig sieht: Eine Stärke, die gebrochen ist durch die Verwun­dung, die ihre Ohnmacht für sie bedeutet.

Wir beide ist eine lesbische Liebes­ge­schichte, wie man sie selten zuvor gesehen hat. Zunächst einmal, weil es um die Themen Alter, Krankheit, Todesnähe geht. Dann, weil es sich um Frauen handelt, die ein bestimmtes Alter erreicht haben. Ein Großteil des Publikums schien bislang nicht wirklich daran inter­es­siert, dass dieje­nigen, die wir »alt« nennen, sich roman­tisch benehmen. Am wich­tigsten ist es viel­leicht, dass dieser Film einfängt, was so viele Main­stream-Medien am liebsten igno­rieren würden: Verlangen, Leiden­schaft und Sexua­lität von Menschen im Alter. Anstatt Groß­mütter und Witwen sind Nina und Madeleine eigen­s­tän­dige Menschen, die sich unab­hängig verwirk­li­chen. Sie machen Urlaub, sie gehen zusammen aus, sie genießen die Gesell­schaft des anderen und, ja: sie haben sogar Sex.
Ausge­rechnet ein männ­li­cher Regisseur, der Italiener Filippo Mene­ghetti, schafft es in seinem ersten abend­fül­lenden Spielfilm, uns so eine Geschichte nahe zu bringen. Eine Geschichte, die leicht ins Melo­dra­ma­ti­sche hätte abgleiten können. Mene­ghetti lässt das aber niemals zu. Er ist bemüht, die Dinge immer sehr realis­tisch wirken zu lassen. Zugleich ist dieser Film lustig, traurig und hoff­nungs­voll.
Gute Dialoge unter­stützen diese wunder­bare Liebes­ge­schichte, die sich als ungeahnt komplex entpuppt... genau wie die Liebe und das Leben.