Deutschland 2015 · 139 min. · FSK: ab 12 Regie: Sebastian Schipper Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz Kamera: Sturla Brandth Grøvlen Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff u.a. |
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So viel besser als der Rest! |
Eines mal vorweg: Victoria ist toll. Aber ganz so gut, wie er jetzt von vielen, auch von mir im Folgenden, geschrieben und gefeiert und bejubelt wird, ist Victoria auch nicht. Aber er ist so viel besser als der Rest!
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Nach den bereits erfolgreichen Filmen Absolute Giganten, Ein Freund von mir, Mitte Ende August ist Victoria die vierte Regiearbeit des vor allem als Schauspieler tätigen Sebastian Schipper. Bei der Berlinale im Februar gewann der Film bereits einen Silbernen Bären, und jetzt ist er auch in diversen Kategorien für die in zwei Wochen stattfindende Verleihung des Bundesfilmpreises nominiert – und somit so etwas wie der deutsche Film der Stunde. Ein Hoffnungsschimmer in einer grundsätzlich kargen deutschen Filmlandschaft.
Beworben wird Victoria vor allem mit einer technischen Besonderheit: Er wurde nämlich ohne jeden Schnitt in einer einzigen, rund zweistündigen Kameraeinstellung gedreht. Doch solche technischen Details sind bei diesem Film eher Nebensache.
Vielleicht sollte man das gar nicht erzählen, nicht vorab im Presseheft verbreiten und betonen, denn dann klingt es, als ob man’s nötig habe, also wie Originalitätsquatsch und Formgehubere, das
keiner braucht und hören will. Besser einfach den Film zeigen, und für sich sprechen lassen, ohne die Frage, wer hier den Längsten hat, also den längsten Take natürlich, zu beantworten, bevor sie überhaupt gestellt wird.
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Erwachsen zu werden, jeder hat das schon erfahren, ist der Horror. Nicht erwachsen zu sein, aber auch.
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Am Anfang ist das Licht. Gleißend, flackernd durchdringt es das künstliche Dunkel eines Berliner Clubs. Ein junges Mädchen im verschwitzten T-Shirt, noch ein Tanz in den zerhackten Stroboskopblitzen, noch ein Shot an der Bar, noch ein herausfordernder Blick zum Barkeeper. Alles ist möglich. »Ich will’s heute wissen« sagt jede ihrer Gesten. Was genau, das ist noch nicht so klar, aber am Ende wird sie mehr erfahren haben, als sie je zu träumen wagte.
Diese ersten Sekunden,
dieser erste Auftritt der Titelheldin zeigen ein Irrlicht, das sich treiben lässt, und das doch stets direkt und klar ist, unbeirrt im Großstadtdschungel, eine Fremde in Berlin-Mitte – auch das charakterisiert sie, denn ganz gehört sie nie hierher: Victoria, Spanierin, Studentin, Heldin des Films wird der Blick der Kamera nie mehr loslassen in den folgenden zweieinhalb Stunden.
Dieser Film ist ein von Anfang an riskanter Film. Zugrunde liegt eine Idee, genauer gesagt zwei Ideen, die beide verführerisch klingen, aber auch sehr theoretisch, nach Konzept, und die sehr schnell zur Falle werden könnten: Zum einen erzählt Schipper den ganzen Film in einer einzigen langen Einstellung, ohne Schnitt, in einem einzigen Sog. Zum zweiten bringt er vor den Kulissen einer auratisch aufgeladenen Großstadt ein fremdes Mädchen aus einem fernen, aber nicht zu fernen Sehnsuchtsland, mit einem proletarischen Kleingangster zusammen, der bei allen Macho-Allüren doch sensibel genug ist, damit sie sich ineinander verlieben. Anders gesagt: Außer Atem in Berlin.
Riskant ist dies aber vor allem in einem guten Sinn. Denn damit begibt sich Schipper ohne Not schon einmal auf eine Fallhöhe, von der andere gar nicht erst herunterstürzen können. Virtuos schreibt er sich ein ins universale Kinogedächtnis und tut damit etwas, was deutsche Filme oft ängstlich vermeiden – er beginnt einen selbstbewussten Dialog mit der Filmgeschichte, stellt sich ohne Anbiederung auf Augenhöhe mit dem europäischen Autorenkino.
Wie fruchtbar formale
Beschränkungen und Konzepte wirken können, wie eine veränderte oder überhaupt vorhandene Theorie eine andere Praxis kreiert, das haben Bewegungen wie der Neorealismus oder zuletzt »Dogma« bewiesen. Das Drehen des Films in einer Einstellung erzwingt hier – das weiß der Schauspieler Schipper natürlich nur zu genau – eine enorme Konzentration der Darsteller und schafft eine ganz andere Angespanntheit und Intensität, die sich auf den gesamten Film überträgt. Natürlich hätte
man dann später trotzdem ein paarmal schneiden können. Doch gerade weil die Kamera nie unterbrochen wird, gerade weil sie gelegentlich mäandert und dadurch »Luft« in die Bilder und Szenen lässt, eine Offenheit und ein Driften, und in dem das Leinwandbild zweieinhalb Stunden lang nahtlos pulsiert, überträgt sich der den Taumel des Geschehens und die Intensität der Inszenierung auf das Publikum. Der Zuschauer ist hier immer ganz drin.
Und auch wenn Laia Costa in der Titelrolle keine Jean Seberg ist und Frederik Lau beim allerbesten Willen kein Belmondo, und Berlin vermutlich auch kein Paris, so sind die beiden Hauptdarsteller doch interessant genug, dass man ihnen zweieinhalb Stunden lang gern dabei zuschaut, wie sich die Schlinge des Schicksals um sie legt, und die jungen, kurzen Träume ihrer Figuren erstickt.
Der Plot ist so gradlinig, wie das Verhalten der Hauptfigur. Hier ist er, in einem einzigen, vollkommenen ungeschnittenen Satz: Vier Kleinkriminelle aus einem Berliner Problembezirk lernen gegen vier Uhr nachts eine vollgedröhnte, aber immer noch recht umsichtige Spanierin kennen, flirten, kiffen, saufen mit ihr bis zum frühen Morgen und dann kommt sie, weil einer der Vier als Schnapsleiche ausfällt, an seiner Stelle mit und macht den vierten »Mann« bei einem Banküberfall, den einer der Vier zwar als Gegenleistung einem Exknacki schuldet, andererseits aber gar nicht liefern kann, weil er zu blöd und zu breit ist und die anderen zu ängstlich und zu unfähig, bis auf die Spanierin natürlich, weswegen die auch, als dann die Polizei doch noch auftaucht, und einen nach dem anderen ganz undeutsch ins Jenseits ballert, den Überblick behält, die Chance, die sie nicht hat, nutzt, und im allerletzten Bild mit ner Tüte voller Euroscheine als einzige Überlebende im Westernsherrifstil über die Straße geht.
Am Anfang war die Nacht, jetzt ist es Tag und Victoria verschwindet in dessen Licht, ins Offene.
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Klar: Natürlich ist das konstruiert und nicht unbedingt glaubwürdig. Paar Wendungen und Schicksalsschläge zu viel. Das Mädchen ist zu hübsch, zu clever, zu bürgerlich, als dass sie mit den vier besoffenen Supernasen auch nur zehn Minuten mitgeht. Oder gar, dass sie dann die Bank macht. Alles ist auch a bisserl zu hektisch, um den Mythen, die hier beschworen werden, überhaupt Zeit zur Entfaltung zu lassen. Die Bilder sind bei aller Energie mitunter zu Dogmahaft wackelig und
ungestaltet, um der Schönheit der reinen Empfindung und des bloßen Gedankens immer die benötigten Bilder zur Seite zu stellen.
Alles richtig. Aber, aber...
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Aber... das ist alles nur eine Nebensache. Die Hauptsache: Wow! Mutig.
Aber... es ist immer alles möglich in diesem Film. Sein Sog funktioniert und hält an bis zum Schluss. Der Einfall, völlig ohne Schnitt zu arbeiten, ist nicht zwingend, ist aber auch nicht »gewollt«, wirkt nie wie Posieren.
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Erstmal ein Gefühl, später hält es den Gedanken statt: Dass sie, Victoria nämlich genauso kaputt ist, wie die Jungs. Sie hat nicht nur ihre Coolness, sondern auch eine Suicidal Tendency. Die Szene im Caf ist dafür die Schlüsselszene: Die Geschichte ihres Scheiterns im Konservatorium, die Art ihres Klavierspiels, der Irrsinn, mit der sie mal kurz eben völlig wahnsinnig draufloshämmert, wird nur ganz unaufdringlich eingeführt. Ist aber da.
Darauf, dass manches zu konstruiert
ist, kommt es nicht an, wenn man einmal akzeptiert hat, dass wir hier ein Märchen sehen. Wenn das Auto vor der Bank nicht anspringt, nervt mich zwar der und-das-auch-noch-oh-nee-echt-jetzt-Gedanke, aber der Spannungsmoment funktioniert.
Dann auch: Wow! Ein filmischer Amoklauf, der – im Unterschied zum Beispiel zum alles manisch bebildernden Dresen – auch mal etwas nicht zeigt, ohne pädagogischen Zeigefinger. Gerade darin liegt die Power dieses Films.
Die zunächst
untergründig deprimierte Hauptfigur von Schippers Geschichte, ein Borderline-Charakter, erlebt über Nacht das Aufschließen einer neuen Welt, sie erlebt die Entdeckung ihrer eigenen Tatkraft und Entschlossenheit und staunt dabei über sich selbst. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich findet, wie ihr Mut und Tapferkeit passieren, wie Heldentum sich ereignet. Wer nichts riskiert, lebt verkehrt. Victoria weiß das.
Der deutsche Film kann es jetzt endlich lernen.
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Fast alle deutschen Filme wollen dem Publikum immer irgendeine Botschaft, irgendeine Moral unterjubeln. Dieser Film nicht. Dieser Film zeigt einfach etwas.
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Victoria ist ein ausgezeichneter Film, die beste, schönste Überraschung des deutschen Kinos seit Jahren: Er ist ungemein mutig, er ist schön, und er lebt ebenso von seiner Intensität wie von seinen Figuren, ihrer existentiellen Verlassenheit und der Verbindung, die sie mit der Stadt Berlin eingehen, mit der Nacht der Metropole. Hier ist sie: die so oft vermisste Aura des Kinos.