Verlorene Illusionen

Illusions perdues

Frankreich 2021 · 150 min. · FSK: ab 12
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: ,
Kamera: Christophe Beaucarne
Darsteller: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels u.a.
Der Blick einer Gesellschaft, das Anteilhaben an ihrem Blick...
(Foto: Cinemien)

Wie ein braver Bürger seine Illusionen verliert...

Klassische Medienkritik reloaded: Xavier Giannoli preisgekrönte Balzac-Verfilmung ist süffig und zeitlos aktuell

»Jour­na­listen sind wie Schnitt­lauch. Sie schwimmen auf jeder Suppe.«
– Balzac

Ein junger Mann. Er ist außer­ge­wöhn­lich schön. Seine Kote­letten reichen fast bis zum Kinn, so wie es der Mode der Zeit des frühen 19. Jahr­hun­derts entsprach. Sehr oft steht sein Mund leicht offen, scheint zugleich Erwartung und Staunen auszu­drü­cken, wie seine Unschuld, seine Naivität – und seine Dummheit.

Er heißt Lucien Chardon, nennt sich gern nach seiner Mutter »de Rubempré«, und bis zum Ende des Romans kann man nicht ganz sicher sein, ob er tatsäch­lich glaubt, dass ihm dieser Land­adels­titel und das Wappen – »Silber auf Grün« – eigent­lich zustünde, oder ob er einfach nur präten­tiös ist. Egal – es ist die Zeit der Hoch­stapler, und nicht nur deshalb unserer Epoche sehr verwandt: Es ist die Zeit des »enri­chissez vous!«, des »Berei­chert Euch!«, der Herr­schaft des spieß­bür­ger­li­chen Juste-Milieu, die post­na­po­leo­ni­sche, post­he­roi­sche Epoche, die bei uns Bieder­meier heißt und außer schönen Möbeln und der Einfüh­rung einer rigiden Zensur in ganz Europa vor allem die Erwartung der Revo­lu­tion und die großar­tigsten Romane der Lite­ra­tur­ge­schichte zu bieten hatte – außerhalb Deutsch­lands jeden­falls, das schon damals in den inter­es­santen Dingen rück­s­tändig wurde.

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Honoré de Balzac – für die Jüngeren: kein Coffee-Shop, sondern ein Schrift­steller, und einer, der sich wie sein Held das adelige »de« einfach mal nach der Bürger­re­vo­lu­tion von 1830 zum Namen seines Vaters hinzu­ge­fügt hatte – dieser Balzac, der im Wechsel zwischen Kaffee – angeblich um die 60 Tassen am Tag – und Rotwein – zwei Flaschen – seine Romane herun­ter­schrieb, getrieben von den Verlegern, die diese als Fort­set­zungs­stücke in ihren Zeitungen druckten und denen er die jeweils neuen Folgen gele­gent­lich noch tinten­feucht und jeden­falls unkor­ri­giert in die Hand drückte, Balzac sah sich aller­dings weniger als Roman­autor und mehr als Histo­riker seiner Gegenwart, als Chronist, der die Wahrheit in fiktio­naler Form formu­liert für die zukünf­tigen Geschichts­schreiber festhielt. Noch mehr als die anderen beiden »großen Drei«, als der Bona­par­tist Stendhal und der Psycho­loge Flaubert (Hugo, Zola und all die anderen sind in dieser Perspek­tive allemal Epigonen) war Balzac ein Mate­ria­list, der sich seiten­lang über das Handwerk der Drucker und die Gepflo­gen­heiten des Zeitungs­we­sens ausließ. Auch darum ist der Zeit­ge­nosse von Marx der bei Kommu­nisten und Linken aller Flügel bis heute belieb­teste Schrift­steller aus »der Epoche des bürger­li­chen Romans«.

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Der Film hält sich mit Klei­nig­keiten und Details dieser Art nicht auf, das kann er nicht, nicht in nur zwei­ein­halb Stunden. Dafür ist er aber sehr genau. Balzac gilt rück­bli­ckend als der Erfinder der Serie, und wenige Roman­zy­klen wären besser geeignet für ein ganzes Streaming-Universum: »The Crown« ist nichts gegen die »Comédie Humaine«! Diese »Mensch­liche Komödie« ist ein monu­men­taler Roman­zy­klus, der über 100 Texte umfasste, in denen bestimmte Figuren immer wieder auftauchten, Neben­cha­rak­tere zu Haupt­fi­guren wurden, und die insgesamt das chro­no­lo­gi­sche Erzählen und die Helden­reisen negierten, dafür ein enzy­klo­pä­disch verzweigtes, detail­liertes und aufge­fächertes Bild des ganzen Zeit­al­ters entwarfen. »Verlorene Illu­sionen« ist darunter nur ein einziger, wenn auch sehr großer, promi­nenter und berühmter Teil.
Dieser Roman­zy­klus, der von einer Gesell­schaft im Aufbruch, die von der Börse, dem Geld und den beides umge­benden, sie feiernden Medien handelt, ist aktueller, als es bei einem 180 Jahre alten Stoff auf den ersten Blick scheinen könnte.
Das beweist nun der fran­zö­si­sche Regisseur Xavier Giannoli, der den Roman jetzt verfilmt hat. Gleich sieben Césars, das fran­zö­si­sche Äqui­va­lent zum Oscar, gab es für den Film, unter anderem für den »Besten Film«.

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Ein Provinzler; ein neuer junger Mann, kommt hier nach Paris, voller Ideale, die er sehr bald verliert, und wirft sich dann dort selbst der Pariser Gesell­schaft zum Fraß vor.

In diesem Moment, wenn der Film von Giannoli nach gut 15 Minuten in Paris ankommt, findet er seine Sprache. Er ist schwel­ge­risch, leiden­schaft­lich und dabei immer mehr als beflis­senes Bebil­de­rungs­kino.
Und es stellt sich heraus, dass diese 180 Jahre alte Geschichte eine ganz moderne ist. Und wie! Nichts von dem, was Balzac beschreibt, hat sich geändert. Der Roman ist wie eine Live-Schaltung in den Kultur­zirkus der Gegenwart.

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»Ich brauche Arbeit, Monsieur. Ich habe enormen Respekt vor der Arbeit eines Jour­na­listen.
›Und was genau für eine Art Metier ist das?‹
›Sie klären Leute auf. Über die Kunst. Über die Welt.‹
Lachen, und dann: ›Unser Metier ist es, die Geldgeber reich zu machen.‹«

(Dialog­aus­schnitt)

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»Wir sind keine Aufklärer – unser Metier ist es, unsere Geldgeber zu berei­chern.« – Balzac machte sich keine Illu­sionen über den Jour­na­lismus und die Medien. Sein Buch und dessen Verfil­mung sind brennend aktuell, in Zeiten von Fake News, in Zeiten der berech­tigten wie unbe­rech­tigten Kritik an Medien und ihrer Moral, in Zeiten, in denen auch die Öffent­lich­keit sehr bereit ist, der Ansicht zuzu­stimmen, dass Medien nicht dazu da sind, der Demo­kratie und Erziehung der Menschen zum Besseren zu dienen, sondern nur noch dazu, auf möglichst billige und einfache Art zu unter­halten.

Balzac kriti­siert genau diese Vorstel­lungen, nennt süffisant die skru­pel­losen Mecha­nismen des Zeitungs­we­sens beim Namen. Seine Geschichte des Schei­terns aller Träume und Ambi­tionen macht diese aber nicht für das Scheitern verant­wort­lich. Er trauert über die allum­fas­sende Desil­lu­sio­nie­rung, die er selbst erlebt hat. Er klagt Dekadenz und Verlo­gen­heit an, aber ihn inter­es­sieren die Tiefen­struk­turen, sein Blick ist politisch, nicht moralisch. Und voller durchaus mensch­li­cher Anteil­nahme an denen, die das Falsche tun. Aber er redet nicht herum, er färbt Dekadenz und Verlo­gen­heit nicht ein in die wohl­feilen Floskeln des »gesunden Menschen­ver­stands« und der Moral, in die Sonn­tags­reden, die von der Bedeutung der freien Presse schwafeln, »gerade heute«. Nein – DIESE Presse ist wert, dass sie zugrunde geht.

Balzac blickt ungerührt in seine Welt, und sein Blick zeigt uns Zeitungen, die im Verein mit Markt und Kapital, mal behindert, mal gefördert von der Politik, im Leser die Gewiss­heit erzeugen wollen, eine Zeiten­wende, einen Epochen­bruch zu erleben – so wie in unserer Gegenwart die Digi­tal­technik die Öffent­lich­keit durch­dringt, Zeitungen durch »Neue Medien« und »Soziale Netzwerke« ersetzt und mit dem Teufels­pakt aus Moder­nis­museu­phorie und ökolo­gi­schem Mora­lismus die Bindung des Publikums an Druck und Papier und sogar an das Geld selbst verab­schiedet – digi­ta­li­siert Euch!

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Es ist auch ausge­zeichnet, wie Balzac Gesell­schaft beschreibt, wie präzise er deren Mecha­nismen offenlegt.

Er zeigt, wie die Pariser Gesell­schaft spottet über den neuen jungen Mann, darüber, dass er zu viele Gesten macht, sich schlecht benimmt... Schon früh wird ein Opern­be­such ein Desaster. Lucien ist seiner älteren Geliebten, der verhei­ra­teten Louise nicht nur peinlich; er ist eine Gefahr für ihre gesell­schaft­liche Repu­ta­tion.

Wir sehen hier auch eine Welt, in der Geschlech­ter­un­ter­schiede durch Klas­sen­be­wusst­sein in den Schatten gestellt werden: Mehr als einmal nehmen sich hier die älteren Frauen die jungen Männer als Liebhaber – und besser sie sagen ja, sonst wird ihre Karriere von diesen Gräfinnen und Fabri­kan­ten­gat­tinnen zerstört.
Eine wunder­bare freie und diverse Welt, und eine schreck­liche Welt der Intrigen und der Macht.

Lucien hat großen Erfolg. Er wird zum gefrag­testen Autor der Saison. Er merkt nicht, wie die Gesell­schaft, die er nach wie vor naiv bewundert, ihn heimlich verachtet. Wie sie ihn benutzt. Er versteht nicht, dass die, von denen er glaubt, sie liebten ihn, sich über ihn lustig machen. Und die, die in wirklich liebt, deren Liebe erkennt er erst spät. Eine Tragödie. Eine Komödie. Eine univer­sale, zeitlose Geschichte. Die doch zugleich auch viel erzählt aus der Zeit, als Paris die Haupt­stadt des 19. Jahr­hun­derts war.

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Dieser Film erzählt davon, wie ein Landei zum Zyniker wird. Wie ein junger Mann erwachsen wird und alle seine Illu­sionen verliert. Und nicht nur das. Lucien verliert auch seine Moral. Und am Ende verliert er seine Liebe und sein Geld.
Was überlebt, das sind die Gesell­schaft und ihre Gesetze. Das ist die Metropole Paris und ihre Medien, die beide auch eine Menschen­mühle sind, und die immer wieder neues Frisch­fleisch brauchen, Menschen wie Lucien.

Viel wichtiger, als wie hier mit einigem Aufwand im Kostüm­de­part­ment und viel Dreck auf den Straßen die Welt von vorvor­ges­tern bebildert wird, sind daher die Kame­ra­be­we­gungen und der Blick der Kamera. Wichtiger, als dass auf Kulissen geschaut wird, ist der Blick, mit dem auf diese Kulissen geschaut wird. Dieser Blick ist ständig in Bewegung. Er ist dynamisch, wachsam, er ist nicht allein an Beob­ach­tung inter­es­siert, sondern auch daran, Bezie­hungen herzu­stellen, oder Bezie­hungen zu durch­trennen. Es ist der Blick einer Gesell­schaft, es ist ein Anteil­haben an ihrem Blick.

Dieser Film ist tatsäch­lich eine solche mensch­liche Komödie. Zum Lachen und zum Weinen.