Das Verschwinden des Josef Mengele

Frankreich/D/MEX 2025 · 135 min. · FSK: ab 12
Regie: Kirill Serebrennikov
Drehbuch:
Kamera: Vladislav Opelyants
Darsteller: August Diehl, Max Bretschneider, David Ruland, Friederike Becht, Mirco Kreibich u.a.
Das Verschwinden des Josef Mengele
Das Verschwinden des August Diehl
(Foto: DCM Film)

Das Gespenst des Todesengels

Kirill Serebrennikov zeigt in seiner Romanverfilmung, wie die jahrelange Flucht des Nazi-Verbrechers möglich wurde

Menschen­kno­chen sollen erzählen. Wieder­holt werden sie in Das Verschwinden des Josef Mengele benutzt und begut­achtet. Das eine Mal werden die Überreste zweier Ermor­deter von Auschwitz nach Berlin geschickt. Die gekrümmte Wirbelsäule eines Mannes soll angeblich minderes Erbgut beweisen. Josef Mengele, der soge­nannte Tode­s­engel, ist zu diesem Zeitpunkt Lagerarzt in Auschwitz, der über Leben und Tod entscheidet und grausame Versuche an den Gefan­genen im Dienste der Nazi-Ideologie durch­führt. Das andere Mal – und damit beginnt der Film – sind es Mengeles Knochen selbst, die auf dem Tisch vor einer Schar Studie­render präsen­tiert werden. Aber was erzählen diese Knochen wirklich, abseits einer trüge­ri­schen Verge­wis­se­rung des Todes, als sei dieses rastlose Gespenst der Nazi-Gewalt endlich gebannt, verfügbar und als Skelett einfach so anschaubar?

Kirill Sere­bren­nikov, der russische Regisseur, der inzwi­schen im Exil lebt, rüttelt auf, indem er sich dem Trug­schluss der Über­win­dung und des Abge­schlos­senen verwehrt. Sein neuer Film, basierend auf dem Roman von Olivier Guez, ist zwar ein Werk über Josef Mengele, aber er ist kein Biopic im klas­si­schen Sinne. Man erfährt fast nichts über den Werdegang dieser berüch­tigten histo­ri­schen Gestalt. Ebenso wenig ist Sere­bren­nikov daran inter­es­siert, die Ausmaße der Gräuel, für die Mengele verant­wort­lich ist, einfach zu bebildern. Statt­dessen entpuppt sich Das Verschwinden des Josef Mengele als anachro­nis­ti­sche Abfolge kurzer Momente aus den Flucht­jahren der Haupt- und Titel­figur und einiger Erin­ne­rungs­fetzen, die das Über­dauern der Nazi-Ideologie jenseits des Zweiten Welt­krieges vorführen soll.

Josef Mengele ersteht auf der Leinwand also wieder auf. An die sterb­li­chen Überreste vom Beginn heften sich Fleisch und Blut. August Diehl spielt den Nazi-Arzt und Verbre­cher. Plötzlich steht er entblößt im Zimmer. Er bereitet sich vor, nach draußen zu gehen, und die Kamera ist auf Schritt und Tritt in einer langen Einstel­lung dabei, wenn er sich durch die Straßen bewegt. Er bemüht sich darum, nicht erkannt zu werden. In den 1950er-Jahren hält sich Mengele unter falscher Identität in Argen­ti­nien auf. Sere­bren­nikov zeigt ihn dann bei seinen Reisen und Versuchen, unter­zu­kommen, mal hier, mal dort. Im Geheimen werden Pläne mit Hand­lan­gern und Verbün­deten geschmiedet, damit das Unter­tau­chen weiterhin gelingt. Heraus­ge­kommen ist ein frag­men­ta­ri­scher, desori­en­tie­render Film, der permanent zwischen Zeit­ebenen, Zuständen, Szenen hin- und herspringt und sich dabei ganz tief in den Kopf seiner Haupt­figur bohrt. Allein das ist schon die Provo­ka­tion an sich! Die Fallhöhe für Werke, die ausschließ­lich aus Täter­sicht erzählen, ist bekannt­lich groß und die Heraus­for­de­rung umso größer, dieses Böse, das dabei mit seinen Worten, Taten und Gedanken die Leinwand vergiftet, formal in eine Relation zu setzen und einzu­ordnen.

Im Kopf des Verbre­chers

August Diehl als Mengele wütet und schwa­dro­niert, brüllt und leidet: von Reue keine Spur. Statt­dessen trauert er der Vergan­gen­heit nach, fühlt sich verraten, verfolgt, ungerecht behandelt und ist bemüht, seine Haltung zu wahren. Er sieht die Welt in seinem menschen­ver­ach­tenden Geist im Untergang. »Gewissen ist eine Krankheit, die sich schwache Menschen ausge­dacht haben«, sagt er einmal zu seinem Sohn Rolf, den er in den Jahren seiner Flucht noch einmal wieder­sieht. Das Treffen zwischen den Gene­ra­tionen bleibt distan­ziert, verschwiegen. Der Sohn, der sogleich unter Verdacht gerät, ein verhasster Kommunist zu sein, wird von seinem Vater zurecht­ge­wiesen. Rauchen soll er nicht. Mengele verweist auf die soge­nannte Volks­ge­sund­heit. Auf kritische Nach­fragen reagiert er mit Beschwich­ti­gungen und Ausflüchten. Der Natio­nal­so­zia­lismus rela­ti­viert sich hier mit einem vermeint­li­chen Eintreten für tradi­tio­nelle Werte und das Wohl des Volkes und immer wieder werfen solche verqueren, verharm­lo­senden Ausreden ihre unheim­li­chen Schatten bis in die Gegenwart, wo sich die reine Rhetorik der Rechten mitunter kaum verändert hat.

Wenn Mengele in diesem Film zurück nach Deutsch­land reist, sehnt er die Rückkehr des deutschen Geistes herbei, sobald sich die anderen Mächte gegen­seitig mit ihren Atom­waffen vernichtet haben. Dazu fallen Sätze wie: »Es gibt keine Vergan­gen­heit.« Auch das gehört zu dem Mythos der soge­nannten Stunde Null, den Sere­bren­nikov in einigen Facetten dekon­stru­iert. Der Neuanfang nach Ende des Zweiten Welt­kriegs nebst soge­nannter Entna­zi­fi­zie­rung sind nicht zu trennen von dem über­dau­ernden Gedan­kengut und den Gestalten, die weiter in der Welt umher­spuken und nur auf ihre Rückkehr warten. Darin liegt die vers­tö­rende Qualität von Sere­bren­ni­kovs Film, der glei­cher­maßen auf das Ungenü­gende und das Versagen jenes Entna­zi­fi­zie­rungs­pro­zesses verweist wie auf das anhal­tende Wirken der Gewalt des 20. Jahr­hun­derts, deren Folgen bis in die Gegenwart reichen.

Sere­bren­nikov zeigt die Treffen mit anderen Altnazis und Sympa­thi­santen, die im Verbor­genen Netzwerke schaffen, einander decken und immer noch ihren alten Ritualen und Insze­nie­rungen nachgehen. Der Regisseur selbst spricht in einem Interview, das der Verleih geteilt hat, von einem ganzen System namens Mengele, einem Verbund von Menschen, die aus unter­schied­lichsten Gründen und Profit­ver­spre­chen dem Verbre­cher bei der Flucht halfen. Dass derlei Netzwerke nicht viel vehemter zerschlagen wurden, dass ein Mengele einfach so unter­tau­chen konnte – das zeigt der Film als Skandal. Und es ist zwei­fels­ohne eine Zumutung für das Publikum, sich über zwei Stunden den rassis­ti­schen, anti­se­mi­ti­schen, menschen­ver­ach­tenden Sprech des Prot­ago­nisten anzuhören. August Diehl verkör­pert ihn mit einer Maske des Starr­sinns und einer Bruch­lo­sig­keit, sodass dieses Spiel auch für den Darsteller selbst zur Zumutung verkommen muss. Immerzu geht es um das Vorgau­keln von Dominanz im Verhalten, das Diehls Inter­pre­ta­tion der Rolle an den Tag legt. Und genau das sieht man hier: Mengele als auftre­tende Rolle, die immerzu ihre Macht und gleich­zei­tige Leugnung insze­nieren und vor sich hertragen muss.

Erin­ne­rungen in Farbe

Einmal kommt es dann zum Bruch, auch auf formaler Ebene. Der Sohn fragt seinen Vater, was dieser in Auschwitz getan habe. Und plötzlich wird der in Schwarz-Weiß insze­nierte Film bunt. Einige wenige Farb­auf­nahmen gesellen sich später hinzu. Die Erin­ne­rung an den Schrecken ist also leben­diger, lebens­echter anzusehen als das zeitlich später ange­sie­delte Hier und Jetzt, das der Film zum Erscheinen bringt. Einer der Täter selbst führt plötzlich die Kamera und hält Szenen aus Auschwitz fest. Mengele, den man kurz zuvor noch beim vergnügten Turteln und Baden sieht, sortiert die neuen Gefan­genen im Konzen­tra­tions- und Vernich­tungs­lager, die aus den Zügen in den Tod getrieben werden. Sere­bren­nikov zeigt von den Taten Mengeles nur einen winzigen, nach­ge­stellten Ausschnitt, aber diesen umso dras­ti­scher. Zwei Männer werden unter­sucht, erschossen, ausge­weidet und schließ­lich gekocht, damit sich das Fleisch leichter von den Knochen schälen lässt. Und mitten­drin filmt ein Nazi hinter der Kamera plötzlich seinen eigenen Blick in den Spiegel: Die Täter­per­spek­tive wird ausge­stellt und zurück­ge­worfen.

Das ist insofern zynisch, als der Film sich damit um die Frage der ange­messen Insze­nie­rung derar­tiger Verbre­chen oder überhaupt der filmi­schen Darstell­bar­keit ein Stück weit herum­mo­gelt, indem er die Kamera einfach einer der Täter­fi­guren in die Hand drückt und dieser vermeint­lich die Insze­nie­rung überlässt. Gleich­zeitig fügen sich das Ausschnitt­hafte und die bloß­ge­stellte Deutungs­ho­heit der Verbre­cher über die Tat und deren Bilder erschüt­ternd und konse­quent ein: sowohl in den Verdrän­gungs- und Rela­ti­vie­rungs­pro­zess des Prot­ago­nisten als auch in die perspek­ti­vi­sche Engfüh­rung, die der Film vornimmt.

Was Sere­bren­nikov mit seinem verschach­telt montierten Film anstellt, ist weder eine Aura­ti­sie­rung der Gestalt noch eine mitlei­dende, psycho­lo­gi­sche Einfüh­lung, auch wenn er sich immer weiter in den einset­zenden Wahnsinn dieser Mengele-Inter­pre­ta­tion vorar­beitet und die Bilder immer unzu­ver­läs­siger werden. Das Verschwinden des Josef Mengele ist eine Aufnahme der (Un-)Gleich­zei­tig­keit eines Regimes und seiner Erben sowie des Bewusst­seins einer in sich geschlos­senen Ideologie. Nach und nach sucht dieses Bewusst­sein verschie­dene Konstel­la­tionen heim, lässt sich von ihnen hofieren, nutzt sie aus und lässt sich als Gespenst selbst dann kaum bannen, wenn es von den Wogen des Meeres verschluckt und wenn seine Gebeine sicher verwahrt werden.

Anatomie eines menschlichen Monsters

Schonungslos: »Das Verschwinden des Josef Mengele« ist ein Werk von verstörender Brillanz

»Und wie geht es Herrn Mengele gesund­heit­lich?«
– Dialog­satz

Warum hat sich der russische Dissident und groß­ar­tige Filme­ma­cher Kirill Sere­bren­nikov ausge­rechnet dem Schicksal von Josef Mengele in einem Film Das Verschwinden des Josef Mengele gewidmet?

Und warum wollten weder das Münchner Filmfest noch das Filmfest Hamburg, zwei Festivals, wo alles Mögliche und darunter sehr viel Banales läuft, diesen Film nach seiner Cannes-Premiere ihrem Publikum zeigen?
Auch so geht Ignoranz in der neuen deutschen Republik – aber kein »Film gegen Rechts« im Land von »Stadtbild«, »Remi­gra­tion« und AfD.

Immerhin in Ludwigs­hafen, beim »Festival des deutschen Films«, in das sich die deutsche Film­kritik zu selten verirrt, wurde Das Verschwinden des Josef Mengele im Sommer gezeigt, und gewann den Haupt­preis im Wett­be­werb, den »Film­kunst­preis 2025 Bester Film«.

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Bundes­re­pu­blik Deutsch­land, in den 50er Jahren. Ein hagerer Mann mit Hut kommt am Münchner Flughafen an, sein Reisepass ist noch gültig, mit Klarnamen reist er zurück nach Günzburg, ins bayrische Schwaben, wo sich der Firmen­sitz des Mengele-Konzerns befindet. Beim Abend­essen sind da die Hono­ra­tioren, man schimpft über Adenauer, der Deutsch­land den Amis verkaufen will. Und über den »schwach­köp­figen« neuen Namen des Staates. Immerhin der »deutsche Geist« sei noch da ...

In diesem deutschen Geist treffen sich die »Herren­men­schen« auch in ihren Salons in Argen­ti­nien. »Und wie geht es Herrn Mengele gesund­heit­lich?«, fragen die Damen beim Tee. Mengele hat Angst vor dem israe­li­schen Geheim­dienst, vor den deutschen Behörden nicht.

Der Moment, in dem Eichmann vom Mossad gefasst wird, durch­bricht Mengeles schein­bare Ruhe: Von da an sucht er unab­lässig nach neuen Wegen zur Flucht, um weiter zu überleben. Eine Weile in Paraguay.
1977 trifft er, inzwi­schen in Sao Paolo, seinen Sohn Rolf, geboren 1944 in erster Ehe, inzwi­schen lang­haarig, wie es der Zeit entsprach. Rolf fragt, etwas plump, etwas naiv, will wissen, was Papa in Auschwitz gemacht hat. Der schimpft und nennt Rolf ein »Weichei«. Ansonsten erzählt er zwar nichts, aber wir sehen, was in seinem Kopf geschieht. Und vom Schwarz­weiß geht der Film ein paar Minuten lang über in Farbe und zeigt uns, an was sich der Vater erinnert, im Stil alter Amateur­ka­me­ra­auf­nahmen: Selektion an der Rampe, schwer vorstell­bare Expe­ri­mente. Die Frau besucht den Gatten bei der Arbeit, dann baden die Mengeles am See, Idyllen inmitten der Mord­ma­schine. Dann geht’s weiter mit Szenen eines Orches­ters klein­wüch­siger Häftlinge, die neben den Wagons spielen, aus denen das Material der nächsten Expe­ri­mente ausge­laden wird.

Bis 1979 wird Mengele in Latein­ame­rika leben, nicht wirklich frei, aber unbe­hel­ligt.

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Der Filmtitel »Das Verschwinden des Josef Mengele« ist natürlich der Titel des zugrun­de­lie­genden Buches. Aber er hat eine tiefere, grund­sätz­li­chere Bedeutung: Das Grund­kon­zept des Verschwin­dens enthält dreierlei: Mengele verschwindet aus Deutsch­land, ganz körper­lich und real: er flieht nach Süda­me­rika; er verschwindet danach und bis heute zunehmend aus dem Gedächtnis der Deutschen; und er verschwindet vor sich selbst bis zu einem bestimmten Grad, weil er sich selbst zunehmend ungreifbar wird – wobei man bezwei­feln kann, ob ihm das wirklich gelingt. Er hat das dringende Bedürfnis, aber so richtig gelingt es eigent­lich nicht, weil es kein richtiges Entkommen vor sich selbst gibt. Damit ist dieser Film natürlich auch das Porträt eines Verfalls­pro­zesses.

Die Geschichte von Mengele und seinem Verschwinden aus den Augen der Öffent­lich­keit und vor allem vor denen, die ihn vor einem ordent­li­chen Gericht zur Verant­wor­tung für seine Taten als Lagerarzt in Auschwitz ziehen wollten, ist kompli­ziert.

Lassen wir hier einmal den wichtigen Hinter­grund der Nazi-Netzwerke nach dem Krieg beiseite, jener berühmten »Ratten­linie« nach Latein­ame­rika, genauso wie die braun durch­tränkten Gesell­schafts­ver­hält­nisse der ersten Jahr­zehnte der Bundes­re­pu­blik, die NS-Konti­nui­täten insbe­son­dere in der deutschen Industrie, ebenso wie die Verhält­nisse jener latein­ame­ri­ka­ni­schen Staaten, vor allem Mili­tär­dik­ta­turen in Argen­ti­nien, Brasilien, Chile und Paraguay, sowie andere ebenfalls in Latein­ame­rika unter­ge­kom­mene NS-Gestalten wie Adolf Eichmann, Klaus Barbie oder der Ritter­kreuz­träger Hans-Ulrich Rudel. Alles dies wird hier am Rande miter­zählt und gestreift.

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Sere­bren­nikov geht es um die Figur selbst, um den Menschen Mengele. Mengele war, jeden­falls so wie ihn der Regisseur in seinem Film zeichnet, eine durch und durch wider­wär­tige, abstoßende Figur – und das nicht allein wegen seiner Taten als »Tode­s­engel von Auschwitz«, wo er unfassbar schreck­liche Expe­ri­mente an Kindern, Kranken, Behin­derten wie Gesunden durch­ge­führt hat, die in ihrer Mons­tro­sität jeder möglichen Beschrei­bung spotten. Mengele war dies auch wegen der Gewis­sen­lo­sig­keit, mit der er danach weiter­lebte, weiter­leben konnte, wegen dem Unwillen, sich auch nur ein kleines bisschen der eigenen Verant­wor­tung zu stellen, wegen seines hass­durch­tränkten Charak­ters, ein Mensch, der Gift und Galle spuckte, anti­se­mi­ti­sche und rassis­ti­sche und anti­west­liche Phrasen im Minu­ten­takt von sich gab. Mengele war ein mensch­li­ches Monster, ein böser Mensch – und gleich­zeitig war er, auch hier wieder im Blick des Regis­seurs, ein von Angst durch und durch erfülltes Wesen.

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Im Jahr 2017 stellte der fran­zö­si­sche Schrift­steller Olivier Guez die Frage, wie es denn möglich war, dass ein gesuchter Nazi und einer der berüch­tigtsten Verbre­cher von Auschwitz jahr­zehn­te­lang unter falschen Namen im Unter­grund leben konnte, ohne entdeckt zu werden, und erst Jahre nach seinem Tod iden­ti­fi­ziert und postum enttarnt wurde. »The Disap­pearance of Josef Mengele« gibt eine Reihe von Antworten auf diese Frage, ohne zu einem eindeu­tigen Ergebnis zu kommen, und zeichnet zugleich in Form der Kapi­tel­ord­nung eine Karto­grafie der Orte und Tarnnamen, in denen dieser Arzt Unter­schlupf gefunden hatte.

Sere­bren­nikov, der russische Filme­ma­cher, der heute im Exil in Deutsch­land lebt, setzt hier den Weg fort, den er mit seinem vorhe­rigen Film Limonov (2024) einge­schlagen hat – erneut mit einem Zugang zu einer extremen, wider­sprüch­li­chen Figur. Sere­bren­nikov zeigt die verschie­denen Zufluchts­orte eines Mannes, der unter wech­selnden Pseud­onymen Zuflucht suchte – zunächst im Argen­ti­nien Peróns, später im Brasilien der Mili­tär­dik­tatur.

Sere­bren­nikov gelingt eine filmische Umsetzung, ohne einfache Antworten, dafür mit mora­li­scher Klarheit. Mit kalter Präzision verfolgt er die Flucht­jahre des »Tode­s­en­gels von Auschwitz« durch Süda­me­rika, und es gelingt ihm, die Figur des Josef Mengele als Inbegriff mensch­li­cher Abgründe darzu­stellen. Seine Regie besticht durch formale Strenge und visuelle Kraft. Die Entschei­dung, den Film in Schwarz-Weiß zu drehen und nur Auschwitz-Sequenzen in Farbe zu zeigen, ist von symbo­li­scher Wucht.

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Als russi­scher Filme­ma­cher im Exil in Deutsch­land bringt Sere­bren­nikov besondere Sensi­bi­lität für Themen von Schuld und histo­ri­scher Verant­wor­tung. Unter seiner Regie entsteht ein ebenso bedrü­ckendes, wie emotional eindring­li­ches Psycho­gramm, das gleich­zeitig künst­le­risch radikal und emotional ist. Der Film zeigt uns, wie Schuld und Verdrän­gung weiter­wirken und konfron­tiert uns mit der unbe­quemen Wahrheit, dass Gerech­tig­keit nicht immer siegt. Die präzise Insze­nie­rung und die radikale Darstel­lung machen das Werk zu einem cine­as­ti­schen Ereignis, das niemanden unberührt lässt. Die Jury ehrt Kirill Sere­bren­nikov und seinen Produ­zenten Felix von Böhm für ein Werk von außer­ge­wöhn­li­chem Mut, das beweist, dass deutsches Kino auch die schwie­rigsten Kapitel der Geschichte mit filmi­scher Brillanz auf eine beklem­mend gegen­wär­tige Weise erzählen kann.
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Sere­bren­nikov insze­niert hier zugleich zurück­hal­tender, als in anderen Filmen. Man vermisst beinahe die visuellen Exzesse, für die er bekannt wurde. Auch August Diehl nähert sich der komplexen Persön­lich­keit Mengeles eindrucks­voll an, versucht sie darstel­le­risch zu erfassen, ohne dass es ganz gelingt, einer komplexen Persön­lich­keit Gestalt zu verleihen, die trotz zuneh­mender histo­ri­scher Distanz keinerlei Reue über ihr Handeln empfindet – die Mons­tro­sität siegt, und Mengele und seine Taten bleiben in diesem hervor­ra­genden, hoch­in­ter­es­santen, stel­len­weise fesselnden Film trotz allem: Unfassbar.

Der Autor dieser Rezension ist Moderator und Mitglied der Auswahl­kom­mis­sion beim oben erwähnten »Festival des deutschen Films«. Und stolz darauf. Wie auf diesen Preis.