Utøya 22. Juli

Norwegen 2018 · 98 min. · FSK: ab 12
Regie: Erik Poppe
Drehbuch: ,
Kamera: Martin Otterbeck
Darsteller: Andrea Berntzen, Elli Rhiannon Müller Osborne, Sorosh Sadat, Aleksander Holmen u.a.
Kein Ansatz einer refle­xiven Brechung...

Immer­siver Thrill mit Kalkül

Der rechts­ex­tre­mis­ti­sche Atten­täter Anders Breivik zündete am 22.07.2011 in Oslo eine Bombe und verübte dann auf der norwe­gi­schen Insel Utøya in einem Feri­en­camp der Jugend­or­ga­ni­sa­tion der norwe­gi­schen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­partei einen Massen­mord an 69 Jugend­li­chen. Nun, gerade mal sieben Jahre später, ist dieser Terrorakt zum Gegen­stand zweier Film­pro­duk­tionen geworden.

In Venedig auf dem Filmfest lief eine vom enga­gierten Action-Regisseur Paul Green­grass verant­wor­tete Fassung der Gescheh­nisse, die – den Berichten nach zu urteilen – den ganz großen Bogen vom Täter über die Opfer bis zur Gerichts­ver­hand­lung und Verur­tei­lung des Täters spannt, also einen klas­si­schen Erzählan­satz verfolgt, dem daran gelegen ist, einen umfas­senden Überblick zu bieten.

Der Film des Norwegers Erik Poppe Utøya 22. Juli, der im Wett­be­werb der dies­jäh­rigen Berlinale seine Premiere hatte und nun in die Kinos kommt, verfolgt im Gegensatz dazu einen gänzlich anderen Ansatz.

Nach einem quasi­do­ku­men­ta­ri­schen Auftakt mit Text­ta­feln und Über­wa­chungs­ka­me­ra­bil­dern von dem Bomben­an­schlag in Oslo folgt er in einer einzigen schnitt­losen Sequenz der 18-jährigen Kaja in dem Feri­en­lager auf der Insel, während dort Breivik mit seinen Schuss­waffen Jagd auf die Jugend­li­chen macht. Diese Echtzeit-Erzählung verschafft dem Zuschauer über den Kame­ra­blick eine anonyme Präsenz vor Ort und bietet gewis­ser­maßen eine virtuelle Opfer­be­glei­tung mit immer­sivem Thrill.

Der Täter wird ausge­blendet, nur seine Schüsse sind zu hören, und die Schreie der von ihm Getrof­fenen, der vor ihm durch den Wald an die Küste der Insel Flie­henden. Alle Bewegung, die im Film zu sehen ist, wird von ihm ausgelöst. Er selbst wird ins Off verbannt. Das ist vom Regisseur program­ma­tisch gemeint, er will die Propor­tionen der Bericht­erstat­tung über diesen Anschlag zurech­trü­cken, die dem Täter zu viel Aufmerk­sam­keit zuteil­werden ließ.

Es ist gewiss ein gut begründ­barer und nach­voll­zieh­barer Ansatz, dem Täter die Aufmerk­sam­keit zu entziehen und sie ganz den Opfern vorzu­be­halten. Das Verfahren erweist sich aber als proble­ma­tisch und hat eine Kehrseite. Einmal nämlich ist im Film ein kurzer Blick auf den sche­men­haft zu erken­nenden Atten­täter zu erhaschen: Die Kamera, die sich mit den Versteck und Sicht­schutz suchenden Jugend­li­chen unten an die Felsküste duckt, riskiert es, ängstlich über den Rand des toten Winkels hinaus­zu­schauen. Und dieser erhaschte Blick verweist wider Willen auf die auffäl­lige Leer­stelle, in deren Bann der Film steht. Je mehr uns der Film vom Täter voren­t­hält, umso dring­li­cher stellt sich die Frage nach ihm. Durch die Abwe­sen­heit bekommt er etwas Unfass­bares, Unheim­li­ches. Das entspricht sicher­lich der momen­tanen Erleb­nis­per­spek­tive der Opfer, die der Film hautnah wieder­gibt, weist aber nicht darüber hinaus. Vor allem jedoch sorgt diese Ausspa­rung für eine Mysti­fi­zie­rung und bewirkt damit das Gegenteil einer ulti­ma­tiven Ächtung.

Der Regisseur beruft sich für sein Vorgehen auf die enge Zusam­men­ar­beit mit den Über­le­benden, für die das Film­pro­jekt eine Möglich­keit darstellte, ihre Sprach­lo­sig­keit zu über­winden und ihre Trau­ma­ti­sie­rung zu verba­li­sieren.
Daraus ergibt sich folge­richtig die Perspek­tiv­füh­rung des Films, der einen Effekt authen­ti­scher Unmit­tel­bar­keit erzeugt und glauben macht, dass hier nur die Wirk­lich­keit und die bloße Kontin­genz des Gesche­henen Regie führt. Gleich­wohl fehlen drama­tur­gi­sche Zuspit­zungen nicht.
Da ist vor allem der Zwist zwischen den Schwes­tern, zwischen der älteren Kaja, der verant­wor­tungs­voll-erwach­senen, aufge­klärten, die einmal sagt, sie wolle Regie­rungs­prä­si­dentin werden, und der jüngeren Emilia, die einfach Spaß haben will und auf den erzie­he­ri­schen Gestus der Älteren eher gereizt reagiert. Die Kamera verweilt ausschließ­lich bei der älteren Kaja, die Emilia aus den Augen verliert und im Chaos der Flucht in alle Rich­tungen nach ihr sucht und über das Handy erreichen möchte: Der Miniplot der Schwes­tern bildet den roten Faden in dem vom Atten­täter ausgelösten Malstrom der Angst und des Schre­ckens und erfährt dann am Ende auch noch eine äußerst kalku­lierte Auflösung, die man als Schlag ins Gesicht des Zuschauers empfinden kann.

Auch in anderen gesuchten Effekten (die deutliche Rekad­rie­rung, die das Display des Handys eines gestor­benen Mädchens in den Blick rückt, um den Zuschauer nach­drück­lich auf den unbe­ant­wort­baren Anruf der Mutter hinzu­weisen) straft der Film seinen Ansatz einer sich von den reinen Tatsachen lenken lassenden Hand­lungs­füh­rung Lügen. Vom Kalkül des Films kann man sich auch einen aussa­ge­kräf­tigen Eindruck verschaffen, wenn man sich den Trailer ansieht, der über das einer anonymen Beob­ach­ter­prä­senz folgende Vehikel der Kamera den leeren Zeltplatz begeht und ungerührt die verschie­denen ins Leere hallenden Handy­klin­gel­töne aufsam­melt – kunst­fertig und hand­werk­lich virtuos, aber eben zu sehr das geleis­tete Bravour­s­tück ausstel­lend und auf die Auto­ren­film­ga­lerie speku­liert.

Der Film bietet keinen Ansatz einer refle­xiven Brechung oder eines dialek­ti­schen Umschlags, der dem Zuschauer den immersiv-besin­nungs­losen Schre­ckens­taumel und die Ohnmachts­per­spek­tive als sinn­haftes künst­le­ri­sches Unter­fangen aufschließen würde. Auch die doku­men­ta­ri­schen Bilder vom Bomben­an­schlag in Oslo am Anfang tun das nicht, sie brechen zusammen mit den Inserts am Ende des Films zwar mit dem Unmit­tel­bar­keits­gestus (und zeigen, dass der Regisseur seiner eigenen Konse­quenz in Sachen Authen­ti­zität im Hauptteil des Films auch nicht recht traute), legen aber in ihrem aufge­setzt wirkenden Gestus nüch­terner Sach­lich­keit eher eine über­le­gene und pseudo-aufklä­re­ri­sche Haltung mit Akten­zei­chen-XY-ungelöst-Grusel an den Tag.

Terror als Laub­sä­ge­ar­beit

»Das werdet ihr nie verstehen, hört mir einfach zu.« Am Anfang spricht sie zu uns, direkt in die Kamera: Ein junges Mädchen. Sie heißt Kaja, sie ist 18 Jahre alt, und wir werden sie schnell als verant­wor­tungs­voll und fürsorg­lich erleben.
Zuvor haben wir Doku­men­tar­auf­nahmen von jenen Sekunden gesehen, als an jenem fatalen 22.Juli 2011 in Oslo eine schwere Bombe gezündet wurde. Eine Inschrift infor­miert: »Utøya, 17:06 Uhr«. Die nächsten zehn Minuten beob­achtet man das normale Leben eines Feri­en­camps. Man lernt Kaja etwas besser kennen, ihre Schwester, und einige der anderen Jugend­li­chen.

Aber schon hier entpuppt sich der Film als Mogel­pa­ckung: Denn alles, was wir sehen, steht selbst­ver­s­tänd­lich ganz im Zeichen des Kommenden. Unschuld und Norma­lität sind vorge­spielt. Man muss schon auf einem anderen Stern gelebt haben, um nicht zu wissen, dass sich der Filmtitel Utøya 22. Juli auf einen der schlimmsten Terror­akte der europäi­schen Geschichte bezieht, auf den Massen­mord an 69 Jugend­li­chen auf der Feri­en­insel Utøya durch den Einzel­täter Anders Breivik. Man weiß also, was kommen muss.
Und wenn dann in den Minuten vor Beginn des Massakers, nachdem die ersten Nach­richten von dem Anschlag in Oslo die Insel erreichen, ein Jugend­li­cher sagt: »Wir sind auf einer Insel, der sicherste Ort der Welt.« – dann macht auch das nur Sinn im Angesicht des Gesche­hens, als ein sarkas­ti­scher Witz.

So arbeitet dieser Film: Er spielt mit unserem Vor-Wissen, er zeigt eine Mimikry der Unschuld, zeigt uns zukünf­tige Opfer; er erlaubt uns die Über­le­gen­heit dieses Vorwis­sens, aber keine Spon­ta­n­eität, keine Freiheit, denn er will ja eine exakte Nach­stel­lung sein, fehlerlos, und noch in der Zahl der Minuten seiner Massa­ker­dar­stel­lung sekun­den­genau dem tatsäch­li­chen Geschehen entspre­chend – Terror als fleißige Laub­sä­ge­ar­beit, zugleich aber als athle­ti­sche Übung: Denn von dem Augen­blick, an dem nach genau 17 Minuten der Atten­täter im Film die ersten Schüsse abgibt, erzählt Regisseur Erik Poppe die nächsten 72 Minuten, so lange wie das Morden dauerte, in einer einzigen langen Einstel­lung.

Die Kamera bleibt an der Seite von Kaja, rennt mit ihr zunächst davon in den Wald, duckt und presst sich an den Boden, tröstet panische Leidens­ge­nossen, kümmert sich um Verletzte und Sterbende, blickt sich immer wieder besorgt nach Schützen um, und flieht, flieht, flieht...
Im Hinter­grund hört man immer wieder das Knattern der Gewehr­salven, sieht panisch Flüch­tende. Und den Täter: Breivik ist immerhin zweimal für Sekun­den­bruch­teile als schwarze Silhou­ette im Hinter­grund zu sehen – ein fast mythi­sches Bild gesichts­loser Bedrohung.

Es stimmt: Das ist »nichts als Kino: 72 Minuten reine Präsenz« (Andreas Kilb in der FAS). Aber Bilder können nicht unmit­telbar die Wahrheit sagen. Sie sind ohne Vermitt­lung nicht zu denken. Es stimmt auch: Lange Einstel­lungen und eine taumelnde, bewegte Kamera entwi­ckeln einen einzig­ar­tigen Sog. Doch zugleich vermit­telt die rastlos direkte, hautnahe Kamera eine paradoxe Erfahrung: Sie distan­ziert. Denn sie macht sich erkennbar, erinnert fort­wäh­rend daran, dass alles hier nach­ge­stellt ist. Weil der Film aber zugleich bean­sprucht, so authen­tisch wie möglich zu rekon­stru­ieren, was geschah, weil er auf Recher­chen beruht, und diese in den Film einfließen lassen will, ist Utøya 22. Juli eine Lehr­stunde in Fragen der Ästhetik. Sie handelt vom Scheitern des Natu­ra­lismus.

Wir Zuschauer lernen in diesem Film, dass Erfah­rungen eben nicht eins zu eins rekon­stru­ierbar sind. Dass man Gefühle nicht zu hundert Prozent abbilden und imitieren kann. Man kann als Zuschauer eben nicht Todes­angst »nach­emp­finden«, eben nicht »nach­fühlen«, was es tatsäch­lich bedeutet, einem Terrorakt ausge­setzt zu sein.

Darum sind die eindrück­lichsten Momente nicht jene, in denen Kaja Angst hat, Panik, Verzweif­lung, sondern jene, in denen sie anderen hilft, gut zuredet, Trost spendet. Da fühlt man mit dieser huma­nis­ti­schen Figur, die im Übrigen kein Vorbild in der Wirk­lich­keit hat.

Und weil er dies alles vers­tänd­lich macht, weil das Scheitern seines Ansatzes so offen­kundig ist, darum ist Utøya 22. Juli ein sehr lehr­rei­cher und sehens­werter Film. Kaja hatte recht: »Das werdet ihr nie verstehen.«