Island 2017 · 89 min. · FSK: ab 12 Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson Drehbuch: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson, Huldar Breiðfjörð Kamera: Monika Lenczewska Darsteller: Steinþór Hróar Steinþórsson, Edda Björgvinsdóttir, Sigurður Sigurjónsson, Þorsteinn Bachmann u.a. |
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Beziehungswahrheit akribisch nachspüren |
Schon in den ersten Einstellungen von Hafsteinn Gunnar Sigurðssons Under the Tree wird deutlich, dass wir hier nicht mit dem Island konfrontiert werden, das wir seit Halldor Laxness' Romanen und Friðrik Þór Friðrikssons Children of Nature – Eine Reise (1991) variantenreich präsentiert bekommen haben – menschliche Tragödien und Grotesken, in denen die ambivalente isländische Natur zumindest eine Nebenrolle spielt.
Nein, in Under the Tree finden wir uns in einer Reihenhaussiedlung in Islands Hauptstadt Reykjavík wieder, die es so in ziemlich jeder westlichen Großstadt geben könnte, eine sichere Tristesse inmitten einer Architektur, die nicht beunruhigen soll. Doch wie in jeder vermeintlichen, gut abgesicherten Normalität hat auch hier, vor den Toren Reykjavíks, ein Gärungsprozess eingesetzt, der unumkehrbar ist. Konrad (Þorsteinn Bachmann) und Eybjorg (Selma Björnsdóttir) regen sich über ihre Nachbarn Inga (Edda Björgvinsdóttir) und Baldvin (Sigurður Sigurjónsson) auf, weil deren Baum zuviel Schatten wirft. Kleine Missverständnisse, ein Sohn, dessen Suizid verdrängt wird, unterschiedliche Lebenskonzepte und Neid auf kleinster Flamme eskalieren zu einer menschlichen Tragödie, die Sigurðsson durch einen punktgenau gesetzten, homoöpathisch dosierten schwarzen Humor demaskiert und überhaupt erst erträglich macht. Bei allen bizarren Momenten, die die emotional immer schneller werdende Achterbahnfahrt der beiden Paare bereithält, verliert sich Sigurðsson nie im Situativen, sondern bleibt bei seinen Charakteren, skizziert mit einem Ernst und einer realistischen Alltagsreife, die nicht nur erschüttert, sondern auch Spaß macht.
Dieser Spaß an der Entfaltung einer komplexen Beziehungssituation wird noch einmal verstärkt durch den parallelen Erzählstrang, den Sigurðsson in seiner Geschichte verwebt. Denn fast unberührt vom Streit seiner Eltern mit den Nachbarn zieht der zweite Sohn wieder zu seinen Eltern zurück, weil seine Frau ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen hat. Sie hatte Atli (Steinþór Hróar Steinþórsson) beim Masturbieren vor seinem Computer überrascht, und das ausgerechnet vor einem längst verjährten Video, das ihn und seine Ex-Freundin beim Sex zeigt.
Doch in ruhigen Einstellungen, die der Beziehungswahrheit akribisch nachspüren, wird deutlich, dass es wie so oft nicht so einfach ist, dass Anlässe nur all zu oft mit Ursachen verwechselt werden und dass der eigentliche Vertrauensverlust in der Beziehung von Atli viel mehr darin besteht, dass die Beziehung trotz einer gemeinsamen Tochter schon lange vor diesem Ereignis verstummt ist.
Die Sprachlosigkeit und deren Folgen sind dann auch das verbindende Element zwischen den beiden Handlungsebenen. Denn so unmöglich es Atli und seinen Eltern ist, den vermeintlichen Tod des Bruders (dessen Leiche nie gefunden wurde) zu thematisieren und darüber zu sprechen, so schwer fällt ihm auch die verbale Beziehungsarbeit mit seiner Frau und seiner Tochter.
Ob diese Lust und Last am Schweigen Teil eines Traumas ist, das durch den verschwundenen Bruder ausgelöst wurde, oder ob die Gründe noch weiter zurückreichen, ist dabei fast egal, denn Sigurðsson interessieren mehr noch als die morastige Vergangenheit die viel dynamischere Gegenwart und die Möglichkeiten, die Menschen bleiben, sich aus ihrer vertrackten Lage zu befreien. Die therapeutische Katharsis, die Under the Tree dafür bereithält, ist dann allerdings weniger das Durchschreiten einer Beziehungshölle à la Bergman als vielmehr radikale Beziehungsbefreiung im Geiste von Fargo, des Serien-Spin-offs des gleichnamigen Films von Ethan und Joel Coen.